IBM

Menschliche Intelligenz und maschinelle Intelligenzverstärkung

02.04.1982

Welche Rolle spielt der Computer als ein Werkzeug der Intelligenzverstärkung für industrielle Innovation?

Die künftigen informatorischen Prozesse in Technik, Wirtschaft, Verwaltung, Gesellschaft und Staat lassen sich in drei Kategorien darstellen:

- Das weite Gebiet informatorischer Steuerungen.

- Die Nutzung riesiger Informationsmengen in Datenbanken und Informationssystemen mit Zugriff innerhalb von Sekunden.

- Informatorische Modelle und Simulationstechniken, langfristig wohl das überhaupt bedeutungsvollste Gebiet.

Die erste Kategorie der Informationsverarbeitung sind die informatorischen Steuerungen; sie stellen heute wohl die größte Vielfalt des Computereinsatzes dar.

Daß Steuerungen nicht von vornherein fest gebaut, sondern als Information, als Programm geschrieben und erst zuletzt in ihre physikalischen Steuervorgänge zurückverwandelt werden können, hat den enormen Vorteil, daß diese Steuerinformation nicht nur flexibel bleibt, sondern auch vom Computer selbst aufgrund des Arbeitsablaufs umdisponiert, geändert werden kann. Walzenstraßen oder Papiermaschinen könnten ohne solche Steuerungen nicht entfernt an ihre heutigen Leistung herankommen. Der kritische Punkt und gleichzeitig ein Gebiet hoher Innovationschancen ist dabei die Nahtstelle zwischen informatorischen Signalen und materieller Technik, Sensoren und Aktivatoren, auch Peripherik genannt.

In der Steuerung, vielfach mit Mikroprozessoren gestaltet, repräsentiert sich die größte Wirkung der Informationstechnik auf industrielle Struktur und Produktion. Künftige Produkte werden mit einem viel höheren Maß an Steuerungsintelligenz ausgestattet sein, ihre Wertschöpfung wird nicht zuletzt im Intelligenzgehalt ihrer Funktion liegen. Dies bedeutet strukturelle Änderungen mit Rückwirkungen bis hinein ins Bildungs- und Ausbildungswesen.

Die zweite Kategorie, große Informationssysteme, umfaßt Datenbanken, Auskunftssysteme, elektronische Archive. Ein Beispiel (aus meinem eigenen Arbeitsbereich) mag ihre Leistungsfähigkeit und die damit verbundene Intelligenzverstärkung illustrieren, nämlich die Entwicklung neuer Computer mit Hilfe von Computern: In unserem Laboratorium in Böblingen mit etwa 700 Wissenschaftlern und Ingenieuren und ebenso vielen Technikern werden neue Computer rein auf informatorischer Basis konstruiert. Alle Entwurfsdaten sind als digitale Information gespeichert. Sie können als solche unmittelbar in mikroelektronische Schaltkreisdaten umgesetzt und digital an die Fabriken übertragen werden, wo daraus Steuerprogramme für die Produktion erzeugt werden. Jeder Konstrukteur hat über einen Bildschirm am Arbeitsplatz Zugriff zu allen Entwurfsinformationen. Diese sind in einem System gespeichert, das insgesamt eine Kapazität von 2 x 10" = 200 Milliarden Zeichen umfaßt, nämlich alle Konstruktionsdaten, Zahlen, Texte, grafische Darstellungen und die dazugehörigen Verarbeitungsprogramme. Zur besseren Vorstellung: Eine Million Buchstaben bedeutet ein Buch von 500 Seiten. Die Datenbank umfaßt also das Äquivalent von 200000 Büchern á 500 Seiten. Der Zugriff zu jeder Information geschieht innerhalb weniger Sekunden, und die Lesegeschwindigkeit beträgt ein Buch á 500 Seiten in einer Sekunde. (Nur, wenn man die Maschinen nochmals fragen würde, was denn in diesem Buch drin steht, würde sie einfach die eine Million Buchstaben nochmals in einer Sekunde aufsagen. Um mehr zu erfahren, bedarf es eigens dafür konzipierter Bearbeitungsprogramme. Dies zur Unterscheidung von menschlicher Intelligenz und maschineller Intelligenzverstärkung).

Nur mit diesem Hilfsmittel der computerunterstützenden Konstruktion ist es heute möglich, so komplexe technische Produkte wie mikroelektronische Chips mit demnächst einer Million Schaltelementen auf sechs mal sechs Millimeter Silizium überhaupt fehlerfrei zu konstruieren, zu testen und zu produzieren, nachdem heute bereits an jedem Silizium-Chip 12 Millionen Testmessungen computergesteuert vorgenommen werden.

Schließlich zur dritten Kategorie, zur Technik der informatorischen Modelle und Simulationsprozesse. Wenn ein technischer Prozeß, ein physikalischer Vorgang oder ein wirtschaftlicher Zusammenhang erst einmal eindeutig erkannt und formal beschrieben sind, also, wie man sagt, als informatorisches Modell vorliegen, und wenn auch die dynamischen Verhaltensgesetze ebenso programmiert sind, dann läßt sich der Prozeß im informatorischen Modell durchspielen, darstellen, simulieren. Dies kann eine prognostizierte Wetterkarte von morgen sein oder der Neutronenstrom in einem Atomreaktor oder, um in meinem Fachgebiet zu bleiben, ein neu konstruierter Computer, der im Modell bereits betrieben und in seinem Verhalten studiert werden kann, ohne daß er jemals gebaut worden wäre. Flug- und Raumfahrtsimulatoren sind weitere, bereits populär bekannte Beispiele.

Dahinter steckt jedoch etwas ganz Grundsätzliches: Man kann die physikalische Welt, sofern ihre Wechselwirkungen und Gesetzmäßigkeiten nur vollständig bekannt sind, in eine informatorische Darstellung transponieren, sie dort studieren und verändern ohne sie in der Realität anzutasten. Man kann sie virtuell in informatorischen Prozessen nachbilden. Das bedeutet sowohl Macht als auch Verantwortung. Macht im Sinn eines intelligenzverstärkenden

Werkzeugs und Verantwortung, weil alle Schlußfolgerungen nur in genauer Kenntnis der Voraussetzungen und Grenzen des Modells gezogen werden dürfen. Welche Fehlurteile entstehen, wenn die strenge Disziplin des Informatikers nicht mehr über Voraussetzungen und Grenzen eines Modells wacht, erlebte man bei den wilden Spekulationen einer laienhaften Öffentlichkeit über die an sich wohl definierten und eingegrenzten ersten Aussagen des Clubs of Rome.

Informatorische Modelle sind geniale Schöpfungen, Computer machen ihre Benutzung möglich.

Auszug aus einem Vortrag, den Professor Ganzhorn anläßlich einer Ausstellung der IBM in der Reihe "Gesellschaft-lnformation-Technik" am 9. März in Stuttgart gehalten hat. Professor Dr. Karl Ganzhorn ist Geschäftsführer der IBM Deutschland GmbH und Leiter des Geschäftsbereichs Entwicklung und Forschung.