Konstruktion und Fertigung/3D-CAD unterstuetzt Prozessketten Behr setzt auf Step-Norm als Ausweg aus der Systemvielfalt Von Eduard Ruesing*

02.06.1995

Die meisten Automobilhersteller haben ihre Organisationsablaeufe in den letzten zwei bis drei Jahren unter dem Aspekt durchgaengiger Prozessketten voellig neu strukturiert. Dabei wurde vor allem ueber die Bereiche Entwicklung, Fertigungsvorbereitung und Produktion versucht, auch die Zulieferer in die neuen Ablaeufe mit einzubeziehen. Das Beispiel der Stuttgarter Firma Behr zeigt, dass hier zur Zeit noch eine Reihe von Problemen beim CAD-Daten- Management bestehen.

Die Behr GmbH produziert mit 8500 Mitarbeitern (Gruppenumsatz rund 1,9 Milliarden Mark) Kfz-Zulieferteile fuer die europaeische Automobilindustrie wie Motorenkuehlung, Heizung und Klimatisierung. Bereits 1978 wurde das erste CAD-System eingefuehrt, das auch heute noch verwendet wird. Der Datenaustausch war damals schwierig und ist es immer noch. Hartmut Isselhorst, Leiter Rechnertechnik und Methoden in der Entwicklung bei Behr: "Da die meisten unserer Kunden Catia einsetzen, haben wir als zweites CAD-Standbein das IBM-System eingefuehrt, um keine Konvertierung beim Datenaustausch vornehmen zu muessen."

Die strategische Ueberlegung zur Anschaffung von CAD war bei Behr von Anfang an, dass es nicht nur um die 2D-Zeichnungserstellung geht, sondern auch eine 3D-Modellierung moeglich sein muss. Die dazu optimale Gestaltung der 3D-CAD-Prozesskette wurde in der juengsten Vergangenheit bei Behr im Rahmen einer vollstaendigen Reorganisation des Unternehmens in Richtung prozessorientierte Ablaeufe vorgenommen.

Neue Moeglichkeiten erfordern neue Methoden

Die 3D-CAD-Prozesskette unterscheidet sich grundsaetzlich von der 2D-Kette. Waehrend die 2D-Modellerstellung fuer die alten, sequentiellen Organisationsablaeufe typisch war, bietet 3D- Modellierung vollkommen neue Moeglichkeiten, die aber auch entsprechend neue Methoden erfordern. Die wichtigsten Merkmale der 3D-Kette sind, dass die Bauteilgestalt nicht mehr als Zeichnung weitergeleitet wird, sondern als elektronisches 3D-Modell. Der Austausch des Modells zwischen den verschiedenen CAE-Systemen des Konstruktionsbereichs, vom Entwurf bis zur NC-Programmierung, ist dadurch wesentlich schneller geworden, einzelne Arbeitsschritte koennen nun parallel im Sinne eines Simultaneous Engineering (SE) erfolgen.

Die CAD-Modelle, die in den einzelnen Phasen der Entwicklung und Konstruktion entstehen, sind jeweils auf ihre spezielle Anwendung zugeschnitten, etwa fuer FE-Berechnungen und Formenbau. In einer gut funktionierenden 3D-Prozesskette sollten soweit wie moeglich alle Modelle ueber eine bidirektionale Assoziativitaet verbunden sein, damit sichergestellt ist, dass Aenderungen an irgendeinem Punkt des Prozesses sofort auch in allen anderen Modellen nachvollzogen werden.

Isselhorst: "Die Chancen der 3D-Modellierung lassen sich nur nutzen, wenn auch die Organisation der Prozesskette darauf abgestellt ist, was insbesondere eine konsequente Projektorganisation mit allen Merkmalen des Simultaneous Engineering anstelle der herkoemmlichen funktionalen Strukturen bedeutet." Das hat bei Behr zum Beispiel die Konsequenz, dass die Entwicklung nicht mehr als eigene Abteilung existiert, sondern jeweils in den parallelen, nach Produkten oder Produktgruppen organisierten Prozessen als Funktion vorhanden ist.

Generell werden im Unternehmen die drei grossen Kernprozesse Technologiebereitstellung, Industrialisierung und Serie unterschieden. Im Industrialisierungsprozess werden zum Beispiel die in der Technologiebereitstellung erarbeiteten Verfahren fuer konkrete kundenspezifische Projekte in Produkte umgesetzt (Konzept, Konstruktion, Erprobung, Fertigungsvorbereitung).

Die Prozesskette Industrialisierung ist fuer die CAD/CAM- Gesichtspunkte der eigentliche Kernbereich. Die Ziele bezueglich einer kurzen Entwicklungszeit, eines geringen Aufwands und einer hohen Qualitaet lassen sich nur durch ein optimales Zusammenspiel aller Teilprozesse realisieren. Ein reibungsloser Datenfluss durch die beteiligten CAE-Systeme ist dabei eine Hauptbedingung. Um den gesamten Prozess zu beschleunigen, wird ab einem moeglichst fruehen Zeitpunkt parallel gearbeitet. Dazu muss die bis dato einmalige Freigabe am Ende des Prozesses durch fruehere Teilfreigaben an bestimmten Meilensteinen ergaenzt werden, so dass bereits mit den Teilfreigaben in speziellen Anwendungen gearbeitet werden kann.

Zur Verwaltung der Prozess- und Modelldaten ist nach Isselhorst eine leistungsfaehige Datenbank in Form eines EDM-Systems (Engineering Data Management) unerlaesslich. Erst eine derartige Loesung stelle auf Systemebene die eigentliche Verbindung der verschiedenen Aktivitaeten zu einem Prozess dar. Ohne EDM gebe es zwischen den Teilablaeufen einer Organisation nur eine "manuelle" Uebergabe, der Prozess finde im System ueberhaupt nicht statt. Funktionen des EDM-Systems in diesem Zusammenhang sind:

- die Integration der CAE-Module, die sich alle aus dem EDM heraus aufrufen lassen und ihre Datenverwaltung im EDM haben;

- eine geordnete Freigabeverwaltung, mit der die Verwendung der verschiedenen Datenmodelle innerhalb eines Projekts und zwischen verschiedenen Projekten geregelt wird;

- die Ueberwachung der Projektaktivitaeten (wer hat wann welche Daten erstellt oder erhalten?) und die Regelung der Zugriffsrechte sowie

- die Dokumentation der Lebensgeschichte eines Produkts mit saemtlichen Aenderungszustaenden als Basis fuer alle Fragen im Zusammenhang mit der Produkthaftung.

Das EDM-System bei Behr, entwickelt vom CAD/CAM-Service aus Karlsruhe, befindet sich noch im Aufbau. Es integriert aber schon jetzt die Daten verschiedener CAD-Systeme und enthaelt bereits eine Freigabe- und Zugriffsregelung.

Da viele Automobilhersteller nach Reorganisationsprojekten verstaerkt SE-Prinzipien umsetzen, versuchen sie, den Kontakt zu den Zulieferern in Form einer optimierten, gemeinsamen Prozesskette zu intensivieren. Damit steht jedes Zulieferunternehmen, das mit mehreren Kunden zusammenarbeitet und deshalb verschiedene, parallellaufende Prozessketten abwickeln muss, vor dem Problem, eine Reihe von Kommunikationsloesungen sowohl fuer die Kunden als auch fuer die Unterlieferanten vorzuhalten.

Anforderungen an die Zulieferer

Fast jeder Automobilhersteller hat zumindest zwei strategische CAD-Systeme definiert, die aufgrund ihrer besonderen Eignung in bestimmten Produktbereichen eingesetzt werden. So zum Beispiel eines fuer Karosserie und Mechanik und eines fuer Produktdaten und Fertigungsmittel. Besonders im Zuge von SE-Projekten wird vom Zulieferer erwartet und zum Teil auch per Vertrag verlangt, dass er zur Sicherstellung einer reibungslosen Zusammenarbeit das gleiche CAD-System einsetzt wie der Autohersteller selbst.

Fuer Zulieferer wuerde das in letzter Konsequenz den Einsatz einer Vielzahl unterschiedlicher CAD-Systeme bedeuten, die er zum einen schon vom Aufwand her gar nicht optimal einsetzen koennte, da ihn die erforderliche Anzahl an CAD-Fachleuten viel zu teuer kaeme. Zum anderen ist eine Vielzahl von CAD-Systemen verhaengnisvoll fuer die Prozessketten, denn natuerlich koennen die einzelnen Prozesse eines jeden Produkts nicht isoliert nebeneinander existieren, sondern muessen miteinander Daten austauschen, so zum Beispiel im Rahmen von Wiederholteilkonzepten.

Eine staendige Konvertierung zwischen den verschiedenen CAD- Systemen bedeutet da im guenstigsten Fall Zeit- und Datenverluste, verbunden mit hohen Kosten. Der Einsatz eines EDM-Systems bringt zwar eine gewisse Beruhigung, weil die Anzahl der benoetigten Schnittstellen erheblich reduziert wird. Das Problem der mangelhaften Standard-Schnittstellen ist damit aber auch noch nicht beseitigt.

Step laesst noch auf sich warten

Der Loesungsansatz, den hier alle Beteiligten zur Zeit favorisieren, ist die Einfuehrung der Step-Norm, deren Einsatz allerdings noch einige Zeit auf sich warten lassen duerfte. Bis Step ausgereift ist, werden zwei Strategien gleichermassen verfolgt: die Anwendung der bisherigen, mehr oder weniger unvollkommenen Neutralformate, wie VDAFS (VDA-Flaechen- Schnittstelle) und Iges (Initial Graphics Exchange Specification) einerseits sowie von Direkt-Schnittstellen andererseits.

Mit VDAFS ist, so Isselhorst, zwar die Uebertragung von 3D- Flaechenmodellen in guter Qualitaet moeglich. Es werde aber nicht mehr als gerade die "nackte" Geometrie uebermittelt, was fuer viele Anforderungen, wie etwa die Erstellung von Werkzeugen durch Unterlieferanten, ausreichend sei. Fuer den Entwicklungsvorgang des Produkts, bei dem Daten von Entwuerfen, halbfertigen Produkten, Einbauszenarien und aehnliches mehr ausgetauscht werden muessen, seien zusaetzliche Informationen wie Strukturdaten noetig. Step enthalte die Definition fuer solche Strukturen, VDAFS hingegen nicht. Iges sei in der Vergangenheit aus Qualitaetsgruenden fuer hochwertige Flaechenuebertragungen nicht in Frage gekommen. Mit Iges, Version 5, habe sich aber einiges veraendert. Bei 3D- Uebertragungen sei es heute nicht weniger leistungsfaehig als VDAFS, aufgrund seiner Vergangenheit im Automobilsektor aber unpopulaer.

Aus diesen Gruenden wird laut Isselhorst bei Behr ueberwiegend extern im Originalformat uebertragen, also zwischen gleichen CAD- Typen. Denn gluecklicherweise sei der Kundenkreis so strukturiert, dass er fast komplett mit Catia-Modellen und dem zweiten CAD-System Cadds bedient werden koenne. Etwa 80 Prozent des Datenaustauschs werden uebrigens ueber Catia abgewickelt. Dabei laeuft die Uebermittlung der Daten zu den wichtigsten Kunden bereits per DFUE ueber ISDN-Leitung und nicht mehr mittels Datentraeger.

Bei Behr wurde auch mit einem sogenannten Front-end-CAD-System gearbeitet, das speziell zur Datenkommunikation mit dem CAD- Programm des Kunden angeschafft werden musste. Intern wurde das Produktmodell auf einem der hauseigenen Systeme erstellt und anschliessend auf das Kundensystem im Hause konvertiert, um es dann im Originalformat zu uebertragen. Diese Loesung ist allerdings kostenintensiv, abgesehen davon, dass der Mitarbeiter sich erst einmal ausreichend in das entsprechende Konstruktionsprogramm einarbeiten musste. Das CAD-System wurde nach Fertigstellung des Projekts abgebaut.

Zeitverlust von drei bis fuenf Tagen

Mittlerweile favorisiert Behr in solchen Faellen die Loesung, den Brueckenkopf ausser Haus zu verlagern und das Originalformat ueber ein Ingenieurbuero mit der entsprechenden CAD-Ausstattung zu liefern. Das bedeutet zwar auch einen Zeitverlust bei der Datenuebermittlung von drei bis fuenf Tagen, was gerade in der Entwicklungsphase mit ihren haeufigen Aenderungsvorgaengen schmerzhaft ist. Aber unter dem Strich sei das zur Zeit die guenstigste Alternative, so Isselhorst.

Die interne Kommunikation zwischen den zwei CAD-Systemen Catia und Cadds geschieht ueber eine Direkt-Schnittstelle. Da hat sich bei Behr der Theorem-Konverter, der auch Anschluesse zu anderen Systemen bietet, bewaehrt. Der Direktkonverter koenne 3D-Draht- und Flaechenmodelle, mit der neuen Catia-Version auch weitgehend die Solids, fehler- und nacharbeitungsfrei uebertragen. Eine Einschraenkung gibt es allerdings bei der Uebertragung von 2D- Zeichnungsdaten.

Step-Option auch fuer die Archivierung

Technische Zeichnungen sind in den Detailproblemen so vielfaeltig, "dass wir es nicht mehr erleben werden, dass man normgerechte Zeichnungen nacharbeitungsfrei von einem System zum anderen uebertragen kann". Das Problem werde erst beseitigt, wenn das freigegebene 3D-Modell, bei dem die Uebertragung nahezu fehlerfrei erfolgt, endlich als Originalobjekt akzeptiert wird. Heute werde in den Unternehmen noch zu oft die freigegebene Zeichnung verlangt.

Der Idealzustand des Produktdatenaustauschs ist fuer Behr dann erreicht, wenn die interne und die externe Kommunikation ueber eine leistungsfaehige, neutrale Schnittstelle vorgenommen wird, so dass ein Unternehmen bei der Gestaltung von Prozessketten nicht zu Abstrichen aufgrund des CAD-Datenaustauschs gezwungen wird. Das einzige Schnittstellen-Format, das diesen Vorstellungen in absehbarer Zeit gerecht werden kann, ist fuer Behr die Step-Norm. Denn neben den Funktionen des CAD-Datenaustauschs sei Step auch die einzige bekannte Option, um Produktdaten langfristig, also mindestens 20 bis 30 Jahre, bei voller Verfuegbarkeit zu archivieren.

* Eduard Ruesing ist freier Fachjournalist in Karlsruhe