IT im Gesundheitswesen/

Konkurrenz belebt auch Gesundheitsindustrie

21.06.1996

Vernetzte Praxen und Krankenhäuser, digitaler Datenaustausch und elektronische Patientenakten sind neben Kommunikation und Information über Online-Dienste die Schlagwörter, die die bereits begonnene "informationelle Revolution im Gesundheitswesen" prägen. Der IT-Einsatz in den unterschiedlichsten administrativen und medizinischen Bereichen des "Industriezweigs" Gesundheitswesen steigt kontinuierlich.

Seit dem 1. Januar dieses Jahres sind nach dem Seehoferschen Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte im Bundesgebiet dazu verpflichtet, DV-gestützte Datenaustauschsysteme einzusetzen. Gemäß den Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) in Köln setzen heute über 60 Prozent (72273) der niedergelassenen Ärzte in Deutschland Computer für ihre Abrechnungen ein. Innerhalb der letzten 15 Monate sind allein 11150 Praxen hinzugekommen. Auch Apotheker müssen jetzt die maschinenlesbaren Daten aller Rezepte erfassen und in digitalisierter Form an die Krankenkassen übermitteln. IT ist auch hier, unabhängig von den gesetzlichen Vorgaben, zur Überlebensfrage geworden. Jede Verzögerung bei der Kostenabwicklung ist für die Liquidität von entscheidender Bedeutung. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil Kostengarantiezusagen weitgehend an die Einhaltung bestimmter Fristen gekoppelt sind. Der Ausbau der DV-gestützten Abrechnung zwischen Versorgern und Kostenträgern ist aber nur ein kleiner Teil und erst der Anfang einer Entwicklung, die weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen wird.

Anstelle der bisher üblichen festen Beträge pro Tag sind Krankenhäuser verpflichtet, ihre Leistungen über sogenannte Entgeltformeln abzurechnen. In komplexen Regelwerken sind für bestimmte Krankheitsbilder, unabhängig von der Verweildauer des Patienten im Krankenhaus, neben Sonderentgelten und Abteilungspflegesätzen Fallpauschalen festgelegt. Werden diese Kostenvorgaben unterschritten, kommen die Differenzbeträge dem Krankenhaus zugute, werden sie überschritten, arbeitet die Klinik mit Verlust. Die Krankenhäuser sind also gefordert, über eine patientenbezogene Deckungsbeitragsrechnung zu kalkulieren. Hierzu bedarf es einer wesentlich detaillierteren Kostenträgerrechnung und damit auch einer Dokumentation aller pro Patient erbrachten Leistungen. Eine Controlling-Aufgabe, die ohne IT nicht zu bewältigen ist.

Bisherige DV-Lösungen für die Administration waren von den medizinischen und pflegerischen Verfahren weitgehend getrennt und wurden über zentrale Host-Systeme, oftmals auch über externe Rechenzentren, abgewickelt.

Adäquat auf neue Aufgaben reagieren

Mit diesen unflexiblen DV-Strukturen lassen sich jedoch keine durchgreifenden organisatorischen Verbesserungen erreichen. Wer in Zukunft konkurrenzfähig bleiben will, setzt auf Krankenhausinformations- und -Kommunikationssysteme (KIS), wie sie beispielsweise von den Branchenspezialisten Boss, MAI, Laufenberg und SMS angeboten werden.

Aber auch der Standardsoftware-Anbieter SAP kann etliche Kunden vorweisen, die ihre DV-Lösungen inhouse betreiben wollen. So haben sich vor wenigen Wochen in einem Gemeinschaftsprojekt vier Hamburger Krankenhäuser für den Einsatz von R/3 IS-H auf RISC- Servern von IBM entschieden. "Wir benötigen eine hochflexible, integrative Lösung einschließlich unserer medizinischen und pflegerischen Subsysteme auf einer bewährten technischen Plattform", so Oliver Rentzsch, DV-Leiter und zuständig für medizinisches Qualitäts-Management im Allgemeinen Krankenhaus Barmbek. "Auf diese Weise werden wir die Arbeitsprozesse optimieren und können adäquat auf die neuen Aufgaben eines Krankenhaus-Managements reagieren."

Ein KIS ist modular aufgebaut, alle Aufgaben- und Funktionsbereiche eines Krankenhauses sind integriert. Durch eine zentrale Datenbank werden redundante Informationen vermieden. Über die zeitnahe Verfügbarkeit aller patientenbezogenen Daten an den vorgesehenen Stellen wird eine schnellere und zuverlässigere Versorgung der Patienten erreicht. Dadurch verkürzen sich auch die Zeiten für die Befundung und Leistungserbringung, die Verweilkosten werden reduziert und das Krankenhauspersonal von mühseligen Routineaufgaben entlastet.

Auch Heiner Elsken, Leiter des KIS-Projektteams im Bremer Zentralkrankenhaus Sankt Jürgen Strasse, bestätigt: "Das Client- Server-Konzept und die daraus resultierende Hardware- Unabhängigkeit, die Einhaltung von Standards und die grafische Benutzeroberfläche, die Möglichkeit der verteilten Datenerfassung und -archivierung nebst der Möglichkeiten zur Steuerung und Kontrolle der Software machen KIS zu einem wirksamen Mittel des Managements."

Auch niedergelassene Ärzte setzen auf die Einsatzmöglichkeiten der Informationstechnologie. "Ohne umfassendes DV-System wird die Einzelpraxis kaum überleben können", glaubt Dagobert Fell aus dem saarländischen Bexbach und plädiert für die vernetzte Praxis. Der Facharzt für Allgemeinmedizin hat eine Vielzahl von Arbeitsvorgängen mit der Stoppuhr erfaßt, die möglichen zeitlichen Einsparungen ermittelt und bewertet. Die Vorteile summieren sich auf über 50000 Mark jährlich, so der Experte.

Datenautobahn für Nord-Württemberg

In Fells Praxis ist das papierlose Büro weitgehend Wirklichkeit. Neben der Patientenakte liegen alle Befunde, Labordaten, Röntgenbilder und EKG nur noch in digitaler Form vor. Alle Bereiche der Praxis sind mit Rechnern ausgestattet, von den Diagnostik- und Röntgenräumen über Labor, Endoskopie bis hin zu den Sprechzimmern und selbstverständlich der Anmeldung. Insgesamt bilden elf PCs und ein zentraler Server mit Speichermedien sowie Modem- und ISDN-Anschluß die Basis für ein umfassendes Netzwerk, das durch weitere computergesteuerte Spezialsysteme (EKG, Videoendoskopie, Radiografie) ergänzt wird. Die vernetzte Praxis, die mit anderen vergleichbar ausgestatteten medizinischen Leistungsanbietern kommunizieren kann, sei eine wichtige Grundlage, so Fell, um auch in Zukunft konkurrenzfähig zu bleiben: Der digitale Austausch medizinischer Daten spart Zeit und Kosten, Mehrfachuntersuchungen werden vermieden, der Patient kann schneller und besser versorgt werden.

In einem Modellprojekt ist die gemeinsame Nutzung von Diagnostik- und Röntgenbild-Digitalisierungssystemen über das Netz geplant. Dadurch sollen neben den Anschaffungs- und Wartungskosten der teuren Anlagen auch die damit verbundenen Personalkosten reduziert werden. Der Einsatz zahlreicher medizinischer Geräte wird für viele Praxen durch dieses System- und Kosten-Sharing überhaupt erst (wirtschaftlich) möglich. "Wenn wir Ärzte es nicht schaffen, unsere Praxiskosten in den Griff zu bekommen", resümiert der Arzt in seinem Projektbericht, "dann werden wir Stück für Stück auf unsere Geräte verzichten müssen und können schließlich nur noch Rezepte ausstellen."

Neben den Praxen profitieren auch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) von der informationellen Revolution in ihrem Industriezweig. Nach einer Untersuchung der Boston Consulting Group bei der KV Bremen reduziert sich der Aufwand für die Bearbeitung der Quartalsabrechnungen erheblich.

Ein weiteres Beispiel hierfür ist das Pilotprojekt "Datenkommunikation für Mediziner" der KV Nord-Württemberg (KVNW) und der Deutschen Telekom. Bis Anfang Mai 1996 wurden zirka 170 von 400 geplanten Ärzten in Nord-Württemberg an das Euro-ISDN-Netz der Telekom angeschlossen. Seit Oktober 1995 wird die Software getestet, die letztendlich die Kommunikation der Ärzte untereinander, mit ihren kassenärztlichen Vereinigungen sowie zwischen Ärzten, Apotheken und Krankenhäusern über ISDN ermöglichen soll. "Die Übertragung von elektronischen Arztbriefen, Labordaten oder Befunden über ISDN ist verglichen mit Übertragungen per Modem um ein Vielfaches schneller. Insbesondere bei Röntgen-, CT- oder Ultraschallbildern verkürzen sich die Wartezeiten erheblich", so Dietfried Herles, Geschäftsführer der KVNW.

In der aktuellen Phase des Projekts beschränken sich die Möglichkeiten der angeschlossenen Ärzte noch auf den Abruf von Daten aus der Datenbank des Servers. Sobald diverse Detailprobleme, verursacht durch veraltete Hardware und noch uneinheitliche Kommunikationsstandards, gelöst sind, sollen die Abrechnung über das Netz und die umfassende Kommunikation in Angriff genommen werden. In einem weiteren Schritt ist dann die Einbindung von Informationen verschiedener Content-Provider wie Ministerien, Kongreßveranstaltern, Verlagen, Universitäten oder Pharmaunternehmen geplant. Bis dahin, betont Herles, sei es aber noch ein weiter Weg.

Das von der Burda-Gruppe Anfang März dieses Jahres ins Leben gerufene Projekt Health-Online-Service befindet sich bereits in der Realisierungsphase. Nach einem zweimonatigen Test wurde in München offiziell der Gesundheitsservice von Ärzten für Ärzte im Internet http://www.hos.de gestartet. Er bietet Zugriffsmöglichkeiten auf weltweite Datenbanken (Nachschlagewerke, Adressen, Medikamentenverzeichnisse etc.) und ein aktuelles Informationsangebot (Kongreßberichte, Produktdaten, Nachrichten, Termine etc.). Die in einem zentralen Rechner gehaltenen Informationen werden von einer medizinischen Fachredaktion aufbereitet und ständig aktualisiert, heißt es bei Burda. Mit einem Standard-PC, einem Modem und einer gängigen Software kann sich jeder Arzt oder Apotheker rund um die Uhr umfassend über neueste Entwicklungen informieren und sich in Online-Konferenzen oder über eine persönliche E-Mail-Box mit Kollegen und Experten in der ganzen Welt austauschen. Die Nutzung des Online-Services ist, von bestimmten aufwendigen Fachpublikationen oder Übersetzungsdiensten einmal abgesehen, grundsätzlich kostenlos. In erster Linie wird der Service durch Sponsoring und (eine im Infoboard rotierende) Werbung getragen. Bis Ende des Jahres erwartet Helmut Flohrer, Geschäftsführer von Health Online, zirka 20000 angeschlossene Ärzte.

Auch das Leverkusener Chemie- und Pharmaunternehmen Bayer AG plant für 1997 den Start eines eigenen Online-Dienstes. Ab Oktober 1996 soll im Rahmen eines Pilotprojekts mit der Einführung einer gemeinsam mit der IBM Deutschland entwickelten speziellen Chipkarte ein neues Zeitalter in der Krankenversorgung eingeläutet werden. Mit dieser Karte, die sich der Patient für etwa 50 Mark kaufen müßte, werde eine effizientere Betreuung möglich, so Walter Wenningner, Vorstandsmitglied bei Bayer. Auf der Karte, die zunächst nur für Diabetiker, Hypertoniker sowie Krebs- und Notfallpatienten angeboten wird, lassen sich, ähnlich wie bei einer beschreibbaren CD, bis zu 6,6 MB Daten speichern. Das entspricht in etwa dem Platzvolumen von 1800 Schreibmaschinenseiten oder 1000 Textseiten und 50 mit Scannern eingelesenen Dokumenten, 35 Röntgenaufnahmen, 20 Ultraschallbildern und fünf Minuten Spracheingabe. Der behandelnde Arzt kann dann über ein Schreib-/Lesegerät (für zirka 300 Mark), das an den Praxis-PC angeschlossen wird, alle von ihm benötigten Krankheitsdaten, Behandlungspläne oder Risikofaktoren inklusive aller Bilddaten, Laborwerte, EKG etc. abrufen und aktualisieren.

Mit Fachkollegen Daten austauschen

Über einen Online-Dienst, den die Unternehmen bereitstellen wollen, soll es dann möglich sein, medizinische Datenbanken abzufragen oder mit Fachkollegen Daten auszutauschen. Die direkte Einbindung der Karte in den Online-Dienst, mit der Chance, Behandlung und Prävention auf der Grundlage exakter Daten fortlaufend zu optimieren, ist das zur Zeit weitreichendste Kartenprojekt, betont der bei Bayer zuständige Manager Gunnar Weickert. Bei IBM glaubt man, daß durch die neue Technologie Einsparungen in dreistelliger Millionenhöhe zu erwarten sind.

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Wesentlich detaillierter muß die Kostenrechnung werden und nahezu absolut zuverlässig die Dokumentation aller pro Patient erbrachten Leistungen. Diese strengen Anforderungen des Gesundheitsstrukturgesetzes zwingen zum Einsatz von IT-Technik sowohl in den administrativen als auch den technischen Bereichen des Gesundheitswesens - von den Arztpraxen über Spezialkliniken und Labors bis zu den Kassenärztlichen Vereinigungen. Der Markt ist dafür gerüstet.

*Anne Christina Remus ist freie Journalistin in Kuddewörde bei Hamburg.