Thema der Woche

"Know-how teilen ist eine unnatürliche Handlung"

27.02.1998

Wer kennt das nicht: Abteilung A arbeitet an einem Projekt, und plötzlich tritt ein Problem auf. Ein Teammitglied erinnert sich, daß in Abteilung B im vergangenen Jahr ein ähnliches Vorhaben gelaufen ist und dort die Schwierigkeiten beseitigt wurden. Nun geht die Sucherei los: Wer war noch gleich der Projektleiter? Mit welchem Trick konnten die Spezialisten von B das Problem beseitigen?

Was folgt, dürfte den meisten bekannt vorkommen: Unzählige Telefonate werden geführt, verstaubte Akten gewälzt, Protokolle und Projektpläne gelesen - falls überhaupt vorhanden, und zu guter letzt ist man so schlau wie vorher und erfindet das Rad von neuem.

"So etwas kann sich heute kein Unternehmen mehr leisten", sagt Andreas Rüter, Senior-Projektleiter bei Booz Allen & Hamilton in München (BAH). "Die Entwicklung eines neuen Medikamentes kostet heute durchschnittlich 250 Millionen Mark - die eines Autos ein Vielfaches davon. Wenn man bedenkt, wie viele Entwicklungsteams zeitgleich oder auch nacheinander dabei an ähnlichen Aufgaben arbeiten, wird deutlich, daß ein unternehmensweites Knowlege-Management-System nützlich sein kann."

Seit über zwei Jahren setzt das Beratungshaus ein Intranet-basiertes KM-System ein, um das Wissen und die Projekterfahrungen der rund 7000 Mitarbeiter zu sammeln und weltweit zur Verfügung zu stellen. "Ziel war es, die Anlaufzeiten von Projekten zu verkürzen und den Kunden das beste Wissen zur Verfügung zu stellen", erklärt Rüter. Dazu wollte man künftig innerhalb der Projekte auf die Mitarbeiter zurückgreifen, die bereits ähnliche Arbeiten verrichtet hatten: "Ein Berater hat beispielsweise ein Joint-venture oder einen Merger von Telekommunikations-Unternehmen in Polen fachlich begleitet. Das Wissen kann natürlich auch einem Kollegen in Brasilien helfen, der eine ähnliche Aufgabe bewältigen muß."

Das Projekt "Knowledge Online" (KOL) startete 1994 und hatte höchste Priorität: "Uns war sehr schnell klar, daß KM eine Vollzeitbeschäftigung ist. Eine Reihe von Managern sind deswegen von ihren Positionen zurückgetreten und haben Innovationsteams gebildet." Die Gruppen haben Schlüsselgebiete und strategische Themen identifiziert, zu denen Wissen gesammelt werden sollte. Pro Team stand dazu eine Million Dollar jährlich zur Verfügung. Begonnen wurde dann mit einem Bulletin Board. Wenig später gründeten die Berater eine Knowledge-Systemgruppe, die auf Basis von Netscape-Produkten und Internet-Standards eine Pilotanwendung entwickelte. Seit fast zwei Jahren steht die Anwendung Mitarbeitern weltweit zur Verfügung.

Aber nicht nur innerhalb von Entwicklungsprojekten ist eine unternehmensweite Datenbasis sinnvoll: "Im Zuge von Total Customer Care (TCC), Kundenorientierung und lernenden Organisationen kommen Unternehmensbereiche wie Vertrieb, Marketing und auch Personalentwicklung um Wissens-Management nicht herum", erklärt Volker Bach, zuständig für KM-Projekte am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen. Es stecke viel Wissen beispielsweise über Kunden in den Köpfen der Mitarbeiter, das für Kollegen aber nicht erreichbar sei - ein verschenktes Potential. Mit Hilfe von KM können diese Daten allen Interessierten zugänglich gemacht werden.

Für viele Anwender drängt sich die Frage auf, was unter Wissens-Management eigentlich zu verstehen ist: Gerade haben Unternehmen die Client-Server-Einführung hinter sich, haben endlich Datum-2000- und Euro-fähige Anwendungen, setzen Data- Warehouses und Data-Mining ein, um ihre Käufergruppen zu analysieren. Und nun Knowledge-Management: Ist das wieder ein Schlagwort, das in den Köpfen der Marketing-Strategen von IT-Anbietern geboren ist? Versuchen pfiffige Berater wieder teure Konzepte zu verkaufen?

"Die Idee des Wissens-Managements ist viel älter als die Datenverarbeitung selbst", sagt Volker Bach. Doch haperte es bisher an einer tragfähigen Plattform. Neueste Techniken wie Internet und Intranet sowie Dokumenten-Management- und Groupware-Lösungen könnten der KM-Idee jedoch zum Durchbruch verhelfen. Ziel sollte es sein, die Geschäftsstrategie, Prozesse und auch Informationssysteme auf die "Ressource Wissen" abzustimmen und diese unternehmensweit zur Verfügung zu stellen (siehe Grafik auf Seite 10). Mögliche Ansätze sind laut Bach unter anderem Mitarbeiter- und Kundeninformationssysteme, elektronische Telefonbücher (Who is Who), Diskussionsforen, Archive, Kontakt-, Dokumenten- und Projekt-Management sowie Schlagwortverzeichnisse mit Thesaurus-Funktionen. Standard-Browser und Suchmaschinen eigneten sich als Navigationsinstrumente durch den Wissensdschungel.

Doch ist ein System nur so gut, wie die Menschen, die es pflegen und nutzen. Hier liegt nach Ansicht von Experten das Problem. Wenn Unternehmen KM-Projekte zunächst mit Team-Management-Kursen anfingen und den Leuten erklärten, wie wichtig Kommunikation sei, könnte das Vorhaben nur scheitern: "Teamgeist predigen wir schon seit zehn Jahren - das ist langweilig", sagt Norbert Willkens vom Kooperationsverbund Wissens-Management in Berlin. Ein möglicher Türöffner sei dagegen die Technik: Intranet- oder Groupware-Systeme sind in vielen Unternehmen vorhanden und bildeten eine ausgezeichnete Startplattform. Nach dem Motto "Der Appetit kommt beim Essen" sollten die Mitarbeiter zügig an technische Lösungen herangeführt und dafür begeistert werden. Im Laufe des Projektes fänden sie dann immer mehr Gefallen an KM und machten mit.

Daß die Schwierigkeiten von KM-Lösungen eher im organisatorischen Bereich liegen, hat auch Andreas Dörner, Technical Manager Informations-Management und Organisation bei der Daimler-Benz AG in Stuttgart erfahren.

Das Unternehmen baut derzeit ein KM-System auf Basis von Groupware-Lösungen und Intranet-Techniken auf: "Vor rund einem dreiviertel Jahr sind wir mit dem Fraunhofer-Institut gestartet. Unser Ziel war es, zunächst mit einem Pilotprojekt eine IT-Mall zu gestalten", sagt Projektleiter Dörner. Dort werden Informationen zu Themen wie Produktionsplanung und -Steuerung (PPS), Electronic Data Management (EDM) sowie für Euro-Projekte gesammelt. Besucher können sich aus dem Intranet in die verschiedenen Projekte einklinken, die wie Shops in dieser Mall aufgebaut sind. "Für uns war es wichtig, die Erfahrungen aus Projekten für alle bereitzustellen und nicht nur im Aktenschrank des Projektleiters zu sammeln."

Auf das Daimler-Intranet haben rund 50000 Nutzer Zugriff. Es gibt Verbindungen (Links) vom Intranet auf die Groupware-Lösungen einzelner Bereiche, Unternehmensteile oder auch Forschungsprojekte. "Wir geben nur den Rahmen zentral vor", sagt Dörner. Der jeweilige Projektleiter hat ein Vetorecht und kann bestimmen, was wann veröffentlicht werden soll. Zugriffsrechte lassen sich über Tools festlegen.

"Die Technik ist heute sehr leistungsfähig, Probleme gibt es, die Mitarbeiter zu motivieren". Dazu müsse sich die Unternehmenskultur ändern. Entsprechende Motivations- und Anreizsysteme sind bei der Autoschmiede noch in Arbeit. Doch Dörner ist auch klar, daß dabei Schwierigkeiten auftreten können: "Wenn man nur bewertet, ob ein Mitarbeiter das System verwendet, kann dies dazu führen, daß Dinge verfaßt werden und ins System einfließen, nur um bei der Leistungsbeurteilung einen Pluspunkt zu erhalten."

Booz-Allen-Hamilton-Mann Rüter empfiehlt darüber hinaus, nicht nur die Quantität der eingebenen Informationen zu prüfen, sondern festzustellen, ob diese auch für Kollegen verständlich und hilfreich sind. Je Industriebereich haben die Berater ein Review-Board ins Leben gerufen, das die eingehenden und vorhandenen Daten filtert: "Diese Instanz löscht veraltete Informationen und prüft Vorschläge für Neueingaben. Damit wird sichergestellt, daß kein Wildwuchs entsteht und die Informationen auch für diejenigen wertvoll sind, die nicht direkt mit der Materie vertraut sind." Das Beratungsunternehmen McKinsey bestimmt mit Hilfe der Güte von abgelieferten Berichten sogar nicht nur das Gehalt: Die Beförderung hängt davon ab, ob andere Mitarbeiter Erfahrungsberichte und Projektprotokolle lesen und verwenden können.

Rüter gesteht jedoch ein, daß es bei Beratungsunternehmen von der Kultur her einfach sei, ein KM-System zu etablieren: "Wir leben davon, unser Wissen anderen mitzuteilen und es umgekehrt förmlich aufzusaugen." In anderen Bereichen stoße man oft auf Widerstände: "Know-how zu teilen ist eine unnatürliche Handlung. Gerade im Vertrieb ist das sehr ausgeprägt", sagt er. Tantiemen und Provisionen machten dort einen erheblichen Anteil des Einkommens aus. Warum also sollte ein Verkäufer seine spezifischen Kenntnisse über Kunden und Mitbewerber seinen Kollegen zugänglich machen, die dann eventuell in seinem "Revier wilderten"? Um dieser Einstellung zu begegnen, werden auch in diesen Bereichen Anreizsysteme oder Bonusregelungen wie bei Beratungen geschaffen: "Den Mitarbeitern muß klar sein, daß Wissen zwar Macht ist, aber damit das Know-how im Unternehmen gemeint ist und nicht das des einzelnen."

High-Tech-Unternehmen wie 3M oder Motorola räumten ihren Mitarbeiter zeitliche Freiräume ein, um Informationen in das unternehmensweite Netzwerk einzugeben. 15 Prozent der Arbeitszeit dürfen beispielsweise die Angestellten von 3M dafür verwenden, kreativ zu sein, Daten aufzubereiten und für jedermann nachvollziehbar zur Verfügung zu stellen.

Wer von KM-Projekten einen schnellen Return on Investment erwartet, dürfte laut Booz-Berater Rüter enttäuscht werden: "Der monetäre Nutzen von KM-Vorhaben läßt sich meist erst nach zwei bis drei Jahren konkret messen." Das hören Entscheider und Geldgeber nicht gerne. Auch für Daimler-Projektleiter Dörner ist es angesichts der kurzen Laufzeit zu früh, konkrete Zahlen vorzulegen. Bewährt haben sich aber bereits jetzt die im Intranet hinterlegten Informationen: "Damit läßt sich sehr rasch ein kompetenter Ansprechpartner für bestimmte Bereiche oder Probleme finden", so Dörner konkret.

Konkrete Zahlen liegen der amerikanischen Ford Motor Company vor. Das Unternehmen setzt seit längerem KM-Systeme ein und konnte beispielsweise mit Hilfe ihres "Best-practise-Replication"-Projektes von 1996 bis 1997 rund 245 Millionen an Entwicklungskosten sparen.