Entlastung für Gerichte

KI spricht Recht

13.03.2024
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 
Prozessorale Massenverfahren sind für die überlasteten deutschen Gerichte eine Herausforderung. In Stuttgart und Frankfurt stehen mit OLGA und FRAUKE zwei KI-Systeme den Richtern zur Seite, um sie zu entlasten.
Im Zuge der Digitalisierung setzen Hessen und Baden-Württemberg in der Justiz verstärkt auf den Einsatz von KI.
Im Zuge der Digitalisierung setzen Hessen und Baden-Württemberg in der Justiz verstärkt auf den Einsatz von KI.
Foto: TSViPhoto - shutterstock.com

Aktenberge, langwierige Prozesse, überarbeitete Richter - viele deutsche Gerichte sind chronisch überlastet. Kommen dann noch Massenverfahren hinzu, dann heißt es häufig Land unter.

Um dieser Überlastung Herr zu werden, setzten die Bundesländer Baden-Württemberg und Hessen auf den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und nehmen damit eine Vorreiterrolle ein. Aus ersten Pilotprojekten entstanden die KI-Tools OLGA, FRAUKE, FRIDA sowie JANO.

Verfahrensflut am OLG

Land unter hieß es auch am Oberlandesgericht Stuttgart, das für die Bearbeitung der Berufungsverfahren im Zusammenhang mit dem Diesel-Abgasskandal zuständig war und ist. Das Gericht, das normalerweise rund 1.500 Fälle pro Jahr bearbeitet, sah sich plötzlich aufgrund der nicht abreißenden Flut von eingehenden Berufungen klagender Dieselfahrer mit der zehnfachen Menge an Fällen pro Jahr konfrontiert.

KI unterstützt Gericht beim Dieselskandal

Diese abzuarbeiten, hätte das Gericht auf Jahre beschäftigt. Denn, so Jan Spoenle, Präsidialrichter am OLG Stuttgart, "die entscheidenden Eckdaten verstecken sich in anwaltlichen Schriftsätzen, die häufig mehr als 100 Seiten lang sind - und lassen sich schon bei geringfügigen Abweichungen im Text nicht mehr an derselben Stelle auffinden". Um die einzelnen Klagen bestimmten Kategorien und entsprechenden Beschlusstypen zuzuordnen, sind Daten wie Kaufdatum, Verkäufer, Fahrzeugtyp, Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN), Schadstoffklasse, Motortyp oder die Frage, ob das Fahrzeug von einer offiziellen Rückrufaktion des Kraftfahrtbundesamts betroffen war, erforderlich.

KI soll Richter unterstützen

Durch den Dieselskandal sah sich das OLG Stuttgart plötzlich mit der zehnfachen Menge an Fällen konfrontiert. Das KI-Tool OLGA soll bei der Bewältigung dieser Aktenflut helfen.
Durch den Dieselskandal sah sich das OLG Stuttgart plötzlich mit der zehnfachen Menge an Fällen konfrontiert. Das KI-Tool OLGA soll bei der Bewältigung dieser Aktenflut helfen.
Foto: Toa55 - shutterstock.com

Schnell war den Stuttgarter Richtern klar, dass dieser Berg an Schriftsätzen und Daten ohne digitale Hilfe nicht zu bewältigen sei. Rückenwind erhielten sie dabei von der Ministeriumsseite, das die Digitalisierung des Justizwesens vorantreiben will. Auf der Suche nach einem entsprechenden Massenverfahrensassistenten stießen die Schwaben auch auf die KI-gestützte Suchplattform Watson Discovery von IBM.

Diese schien zumindest auf dem Papier das zu bieten, was die Stuttgarter suchten: Daten aus unstrukturierten Dokumenten zu extrahieren und das mit einer Zeitersparnis von rund 75 Prozent gegenüber der manuellen Suche. Soweit die Theorie, doch in der Praxis musste das System erst noch an die Anforderungen der Richter angepasst werden. In fünf Wochen erarbeiteten die Juristen gemeinsam mit Entwicklern vom IBM Client Engineering Team einen ersten Prototyp.

OLGA sortiert die Verfahren

Dazu definierte das Projektteam zunächst Strukturen in Dokumenten wie etwa dem erstinstanzlichen Urteil. Darin enthaltene Strukturelemente sind etwa das Rubrum, der Tenor, der Tatbestand und die Entscheidungsgründe. Anschließend wurde das KI-Modell für seine eigentliche Aufgabe trainiert. Diese besteht darin, innerhalb der erkannten Strukturelemente mittels der von IBM Watson Discovery bereitgestellten Smart-Document-Understanding-Funktion Informationen zu ermitteln und in strukturierten Kategorien auszugeben. Dabei ist die KI in der Lage, beispielswiese eine Zeichenkette in einem bestimmten Format als Motor-Typ oder FIN zu erkennen und dem Benutzer als Ergebnis eine regelbasierte Zuordnung und Priorisierung der Kriterien zu liefern.

Dadurch wird die automatisierte Einordnung in eine Kategorie möglich. Anstelle einer aufwändigen Beschlusserstellung für jeden Einzelfall können gerichtliche Beschlussvorlagen für die verschiedenen Fallkategorien mit den jeweiligen individuellen Informationen angepasst werden. Ihr fertiges KI-Tool tauften die Stuttgarter in Analogie zur Abkürzung OLG auf den Namen OLGA, wobei das A für Assistent steht.

15.000 Verfahren im Jahr

Bis zu 15.000 Entschädigungsverfahren wegen Flugverspätungen und Flugausfällen muss das Amtsgericht Frankfurt pro Jahr abarbeiten. Ohne KI-Unterstützung ist das nicht mehr zu stemmen.
Bis zu 15.000 Entschädigungsverfahren wegen Flugverspätungen und Flugausfällen muss das Amtsgericht Frankfurt pro Jahr abarbeiten. Ohne KI-Unterstützung ist das nicht mehr zu stemmen.
Foto: Martin Furtivo - shutterstock.com

Mit ähnlichen Herausforderungen ist das Amtsgericht Frankfurt konfrontiert. Bei ihm landen jedes Jahr zwischen 10.000 und 15.000 Verfahren zu den Fluggastrechten - sprich Entschädigungsverfahren wegen Flugverspätungen oder Flugausfällen.

Wie ihre Stuttgarter Kollegen setzten die Richter in Frankfurt auf die Unterstützung durch KI, um die Masse an Verfahren zu bewältigen. Allerding schlugen die Frankfurter einen anderen Weg ein. Dort soll die KI nicht die Fälle vorsortieren und kategorisieren, sondern die Richter bei der Urteilsfindung unterstützen und einen Textentwurf für das Urteil erstellen.

FRAUKE assistiert bei Urteilsfindung

Aus dieser Idee entstand dann die KI-Lösung FRAUKE, der "Frankfurter Urteils-Konfigurator Elektronisch". Seine Funktionsweise beschreibt man im Justizministerium Hessen so: FRAUKE kann Schriftsätze analysieren, Metadaten auslesen und unter Verwendung von Textbausteinen den Richterinnen und Richtern bei der Erstellung eines Urteilsentwurfs zuarbeiten.

KI kreiert Urteilsbegründung

Mit den Streiks im Luftverkehr dürfte dem Frankfurter Urteilskonfigurator - kurz FRAUKE - in nächster Zeit die Arbeit nicht ausgehen.
Mit den Streiks im Luftverkehr dürfte dem Frankfurter Urteilskonfigurator - kurz FRAUKE - in nächster Zeit die Arbeit nicht ausgehen.
Foto: Yulia Reznikov - shutterstock.com

Dazu wird in dem Programm zunächst das Aktenzeichen, die Fallkategorie, etwa Wetterphänomene, und der Tenor ausgewählt. Weiter entscheiden die Juristen zwischen Klage-Abweisung oder Stattgabe. Ausgehend von der richterlichen Entscheidung erfolgt die Unterstützung durch FRAUKE. Dazu erstellt die KI einen Vorschlag zum Tatbestand und den Urteilsgründen anhand der in der Klageschrift gefundenen Metadaten.

Die so kreierten Textbausteine basieren auf den vorherigen richterlichen Eingaben und den von der KI gefundenen Metadaten. Es besteht die Möglichkeit, sich weitere Textbausteine unter anderem zur individuellen Rechtsprechung zum einschlägigen Fall anzeigen zu lassen und einzufügen.

Kein Roboter für Urteile

Dabei sind alle vorgeschlagenen Textbausteine vollständig editierbar. Und der Mensch hat das letzte Wort, wie Frankfurter Amtsgerichtspräsidentin Susanne Wetzel gegenüber der Hessenschau betont: "FRAUKE soll kein Urteilsroboter sein, sondern vielmehr eine Richterassistenz."

Wie die Stuttgarter setzten auch die Frankfurter bei der Realisierung von FRAUKE auf die watsonx-Technologie von IBM mit GenAI. Dass FRAUKE dabei ein voller Erfolg ist, zeigt ein anderes Ereignis: Im November 2023 unterzeichneten Hessens Justizminister Roman Poseck und Brandenburgs Justizministerin Susanne Hoffmann eine Absichtserklärung zum Projekt FRAUKE.

Auch Brandenburg setzt auf FRAUKE

Ziel ist, dass auch die brandenburgische Justiz von dem KI-Projekt FRAUKE profitieren soll. Mit KI-Hilfe soll so die steigende Zahl an Fluggastrechteverfahren seit der Eröffnung des Flughafens Berlin-Brandenburg bewältigt werden.

KI-Schwester FRIDA

Die KI soll die Gerichte bei der Abarbeitung der Fälle unterstützen, nicht jedoch den Menschen als letzte Instanz ersetzen.
Die KI soll die Gerichte bei der Abarbeitung der Fälle unterstützen, nicht jedoch den Menschen als letzte Instanz ersetzen.
Foto: Stokkete - shutterstock.com

Neben FRAUKE hat das Amtsgericht Frankfurt mit FRIDA ein weiteres KI-Projekt gestartet. Die "Frankfurter Regelbasierte Intelligente Dokumentenerstellungs-Assistenz" (FRIDA) ist eine Eigenentwicklung des Amtsgerichts Frankfurt. FRIDA soll die Richterinnen und Richter bei elektronisch geführten Verfahren zu Verkehrsordnungswidrigkeiten unterstützen.

Laut Justizministerium Hessen hilft FRIDA den Juristen bei der Erstellung von Dokumenten in Verfahren von Verkehrsordnungswidrigkeiten. So erstellt die KI mithilfe einer Sammlung von Textbausteinen die entsprechenden Dokumente. Zudem erfolgt das Auslesen der Akten für Verfahrensdetails automatisch anhand fester Suchkriterien. Von Ministeriumsseite heißt es zu FRIDA, dass bereits positive Betriebserfahrungen in Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren gewonnen wurden.

Hessens Justiz setzt auf KI

Ziel ist es, so Hessens Justizminister Roman Poseck, "die Arbeitsabläufe weiter zu modernisieren und noch effizienter zu gestalten. Dabei können KI und Automatisierung von großem Nutzen sein". Selbst im Bereich der Strafgerichtsbarkeit wird bereits im Zusammenhang mit KI über "Smart Sentencing" diskutiert. So stellte Hessen ferner ein Projekt vor, das dazu dient, Strafurteile im Hinblick auf die Strafzumessung unter Einsatz von KI zu kategorisieren, um eine größere Vergleichbarkeit herzustellen.

JANO anonymisiert Urteile

Gemeinsam mit Baden-Württemberg brachte man zudem mit JANO ein weiteres KI-Projekt auf den Weg. JANO ("Justiz Anonym") soll mit Hilfe Künstlicher Intelligenz die Justiz bei der Anonymisierung von Gerichtsurteilen unterstützen, denn diese müssen vor einer Veröffentlichung zur Wahrung von Persönlichkeitsrechten anonymisiert werden.

Ein Vorgang, der bislang in der Regel vollständig manuell von den Gerichten erledigt wurde. Für die Gerichte bedeutet dies einen erheblichen Personalaufwand und erschwert eine breite Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen.

So funktioniert JANO

Das ebenfalls wie OLGA und FRAUKE gemeinsam mit IBM entwickelte Tool auf watsonx-Basis durchsucht dazu die Gerichtsentscheidungen. Dabei erkennt es personenbezogene Daten automatisch und schlägt diese zur Anonymisierung vor. Justizbeschäftigte prüfen anschließend die KI-Vorschläge und geben sie frei.

Mit JANO zu KI-Trainingsdaten

Auf diese Weise reduziert sich der Arbeitsaufwand beträchtlich. Zudem könnte der Einsatz von JANO noch einen nützlichen Nebeneffekt haben: Die so anonymisierten Entscheidungen könnten als Trainingsdaten für die künftige Entwicklung weiterer KI-Anwendungen dienen. Ein Ansatz der zumindest bereits diskutiert wird.

Sowohl in Hessen als auch in Baden-Württemberg ist man nach den positiven Erfahrungen mit den Tools davon überzeugt, dass KI in der Justiz ein großes Potenzial bietet. Gleichzeitig besteht ein Konsens über die Grenzen des Einsatzes von KI in der Justiz - Richterinnen und Richter sollen weiterhin im Mittelpunkt stehen.