Ausweis-Chaos nach Einführung eines neuen IT-Systems

Keine Pässe für britische Bürger - schwere Vorwürfe gegen Siemens-Tochter SBS

09.07.1999
LONDON/MÜNCHEN (IDG/qua) - Ausgerechnet zur Ferienzeit arbeiten die Systeme der britischen Paßbehörden mit angezogener Handbremse. Die Gewerkschaft der Regierungsangestellten schiebt Siemens Business Services (SBS) dafür den Schwarzen Peter zu - nicht ganz zu Unrecht, wie der IT-Dienstleister einräumt.

Einen Zehnjahresvertrag über 100 Millionen englische Pfund (rund 300 Millionen Mark) hat das britische Innenministerium im Juni 1997 mit Siemens Business Services Plc. geschlossen. Der Auftrag an die Siemens-Tochter lautete, ein neues und sichereres System für die Bearbeitung von Paßanträgen zu installieren.

Nach Angaben der deutschen SBS-Zentrale ist das Passport Application Support System (Pass) mittlerweile durch den Kunden abgenommen. Ein Pilotsystem läuft seit Herbst vergangenen Jahres in zwei von sechs Regionalbüros der Paßbehörde: in Liverpool und Newport.

Jüngsten Medienberichten zufolge kommt es in Großbritannien derzeit zu gewaltigen Verzögerungen bei der Ausstellung von Reisepässen. Statt der üblichen 50000 warten derzeit 500000 Ausweisanträge auf ihre Bearbeitung, räumt das Innenministerium (Home Office) ein. Dem Vernehmen nach mußten einige Urlauber wegen fehlender Pässe sogar ihre geplanten Reisen absagen. Die Public and Commercial Services Union (PCS), eine gewerkschaftliche Vereinigung britischer Regierungsangestellter, gibt SBS die Schuld dafür.

"Zu 90 Prozent liegt der Grund darin, daß Siemens kein arbeitsfähiges Computersystem bereitstellen kann", schimpft ein PCS-Sprecher, der anonym bleiben will. "Mit dem alten System konnte jeder Angestellte 100 Pässe pro Tag fertigstellen. Mit dem neuen sind es nur 35."

Die Wut des Gewerkschaftlers hat aber wohl auch politische Motive. Im Rahmen des Vertrags wechselten etwa 200 Mitglieder der Gewerkschaft teilweise gegen ihren Willen zur Siemens-Tochter. Schützenhilfe bekam die PCS immerhin von Home-Office-Sekretär Jack Straw. Im BBC-Kanal Radio 4 sagte er, daß den Computersystemen zumindest ein Teil der Schuld anzulasten sei.

Die Siemens-Tochter reklamiert für sich, dem Ministerium ein System geliefert zu haben, das den Vereinbarungen entspreche. Allerdings räumt sie in einer gemeinsamen Stellungnahme mit der britischen Paßbehörde ein, daß der Output der Pilotsysteme bislang hinter den Erwartungen zurückgeblieben sei und die Verarbeitungsgeschwindigkeit nicht an die Werte des Vorgängersystems heranreiche. Für Projektverzögerungen und mageren Durchsatz nennen die beiden Vertragspartner vor allem zwei Gründe: Zum einen habe die Definition der neuen Prozesse länger gedauert als geplant, zum anderen schade der erweiterte Funktionsrahmen der Performance. Die Folge: Obwohl das System in einer Phase niedrigen Arbeitsaufkommens in Betrieb ging, entstand im Lauf der Monate ein Auftragsstau, der mit Beginn der Reisesaison jetzt zum Eklat geführt hat.

Verschärft wird die Situation durch eine neue Regelung der Europäischen Gemeinschaft, erläutert Klaus Hommer, Marketing-Chef der Münchner SBS-Zentrale. Die britische Regierung habe der Bevölkerung mitgeteilt, daß ab sofort auch Kinder einen eigenen Reisepaß benötigten - ohne deutlich zu erklären, daß das nur für den Nachwuchs gelte, der nicht im Paß der Eltern registriert sei.

Dadurch gingen plötzlich viele tausend Anträge ein, auf die der Apparat der Passport Agency nicht vorbereitet war. Zusätzliches SBS-Personal in den betroffenen Behörden soll jetzt helfen, das anvisierte Ziel - zehn Tage vom Antragseingang bis zur Paßausstellung - zu erreichen.