Konzeption und Durchführung von DV-Seminaren

Kein "geistiger Ausstieg" mit sachlichen Vereinfachungen

27.09.1991

Der technologische Fortschritt fordert seinen Tribut: Unternehmen müssen ihre Mitarbeiter zur Weiterbildung schicken, wollen sie vorne mitmischen. In diesem Beitrag stellt Günther Thomas einige Prinzipien zur Gestaltung von Trainingsmaßnahmen vor, die im Umfeld der Informatik besonders wichtig sind.

Der zunehmende Bedarf an qualifizierten DV-Fachkräften, der schneller steigt, als neue Fachkräfte in den Hochschulen und in der Industrie ausgebildet werden können, bringt Unternehmen in Not.

Darüber hinaus verändern sich durch informationstechnologische Innovationen ganze Erwerbszweige, so daß Berufstätige vom Facharbeiter in der Industrie und im Handwerk über Angestellte im DV-Wesen bis hin zum Manager nur durch intensive Fortbildungsmaßnahmen wettbewerbsfähig bleiben können.

Die Folge ist ein großer und immer schneller steigender Bedarf an Beratungs- und Schulungsmaßnahmen von DV-Anwendern und letztlich auch Software-Entwicklern, die neue Technologien und damit neue Chancen im Wettbewerb wahrnehmen möchten.

Im wesentlichen geht es um drei Aspekte der Schulung:

1) Lernen im Informatik-Umfeld: Hierbei versteht man vor allem spezielle lernpsychologische Phänomene beim Lernen von Informatikinhalten. Kenntnisse darüber sind sowohl für die Vorbereitung als auch für die Durchführung von Schulungen notwendig, gelten aber gleichermaßen für den Berater, der die Einführung neuer Technologien in ein Unternehmen unterstützen soll.

2) Didaktische Reduktion in der Informatik: Unter didaktischer Reduktion wird die pädagogische Vereinfachung von komplizierten Wissensgebieten verstanden, ohne daß dabei eine inhaltliche Verfälschung einhergeht. Besonders wichtig ist zum Beispiel ein folgerichtiger Aufbau von Kursinhalten, um keinen vorzeitigen "geistigen Ausstieg" der Seminarteilnehmer zu provozieren.

3) Konzeption und Durchführung von Informatik-Seminaren: Die Konzeption und Durchführung eines Seminars ist ein Projekt. Wie für andere Projekttypen auch, ist es vorteilhaft, nach einem Projektmodell, zum Beispiel einem Phasenschema vorzugehen.

Eine einheitliche Theorie des menschlichen Lernens existiert nicht, obwohl die Wissenschaftler bereits seit mehr als 80 Jahren intensive Lernforschung betreiben. Die Vielzahl an Forschungsansatzen und Modellvorstellungen macht es dem Informatik-Trainer sehr schwer, der lediglich Folgerungen für seine Dozententätigkeit (oder vielleicht auch für das eigene Lernen) ziehen möchte.

Hinzu kommt die Schwierigkeit, daß in den für die DV relevanten didaktischen Konzepten von Berufs- und Wirtschaftspädagogen meist Ergebnisse der Lernpsychologie aus dem schulischen Bereich aufgegriffen werden. Die Übertragbarkeit solcher Konzepte auf Informatik-Ausbildungsveranstaltungen in Industrie und Wirtschaft ist jedoch fraglich.

Einige abgesicherte Ergebnisse aus der "Softwarepsychologie" können aber dennoch als wichtige Hinweise für DV-Trainer dienen.

An erster Stelle soll das Lernen (oder besser das Umlernen) einer Programmiersprache und dabei auftretende Probleme betrachtet werden. Die Forschung auf diesem Gebiet geht davon aus, daß das menschliche Gedächtnis hierarchisch strukturiert ist. Eingaben der Außenwelt gehen in ein relativ kleines Kurzzeitgedächtnis. Zusätzlich scheint es eine Art Arbeitsgedächtnis zu geben, in dem Informationen des Kurzzeitgedächtnisses mit Informationen des Langzeitgedächtnisses verschmelzen.

In bezug auf Programmiersprachen (aber auch in anderen Informatikkonzepten) läßt sich Wissen prinzipiell in zwei Kategorien unterteilen:

1. Semantisches Wissen, also Wissen über bestimmte Konzepte, beispielsweise die Wirkung einer Zuweisungsanweisung, eines Wiederholungsbefehls (Schleife) oder Aufruf eines Unterprogramms: Dieses Wissen wird durch Erfahrung und aktives Lernen erworben und in einer Weise behalten, das nicht von einer konkreten Darstellung abhängt. Die Verschmelzung mit bereits vorhandenen semantischen Strukturen spielt hierbei eine große Rolle.

Semantisches Wissen läßt sich auf neue Gebiete (zum Beispiel neue Programmiersprachen) übertragen und hat somit in einer sich schnell ändernden Arbeitsumgebung große Bedeutung.

2 Syntaktisches Wissen ist das Wissen über Details einer konkreten Darstellung, etwa die Gestalt einer Prozedurdeklaration, die Darstellung einer Zuweisung durch = oder := etc.

Dieses Wissen ist willkürlich und detailliert. Syntaktisches Wissen wird mechanisch aufgenommen, wobei neue Kenntnisse nicht unbedingt mit bereits vorhandenen harmonieren. Leider wird in DV-Ausbildungsveranstaltungen, teilweise sogar an Hochschulen, zu viel Wert auf dieses syntaktische Wissen gelegt, welches keinen anhaltenden Ausbildungseffekt hat.

Ein wichtiges Problem beim Lernen neuer Konzepte (insbesondere neuer Programmiersprachen) ist der negative Transfer. Hierunter versteht man folgendes: Syntaktisches Wissen wird mit semantischem Wissen verknüpft, so daß man bei bestimmten syntaktischen Ausdrücken eine bestimmte Semantik assoziiert. Neu hinzukommendes syntaktisches Wissen kann durch scheinbare Ähnlichkeit zu einem "negativen Transfer" führen. Hierzu ein Beispiel:

Beim Lernen der Programmiersprache 2 kann durch syntaktische Ähnlichkeiten mit der Programmiersprache 1 möglicherweise die Semantik von Programmiersprache 1 auf Programmiersprache 2 übertragen werden.

Der Begriff der "geistigen Trägheit"

Ein typisches Beispiel hierfür sind Prolog-Prädikate, die "Umsteiger" häufig als Funktionen interpretierten. Umsteiger unterliegen immer wieder der Versuchung, Prädikate zu schachteln, was prinzipiell auch erlaubt ist, jedoch eine völlig andere Bedeutung als in prozeduralen Sprachen, wie Pascal, hat.

Die Schwierigkeiten bei der Umstellung von einer Programmiersprache auf eine andere lassen sich im Prinzip auch auf die Umstellung von einem Textsystem auf ein anderes oder von einem Anwendungsprogramm auf ein anderes übertragen. Menschen haben bei Umstellungen im DV-Bereich Angst, häufig mehr als in anderen Disziplinen Verschiedentlich wird hierfür auch der Begriff "geistige Trägheit" verwendet.

System mit maximal sieben hierarchischen Ebenen

Lernprozesse werden unter anderem auch durch die Aufnahmekapazität des Kurzzeitgedächtnisses bestimmt. Das Kurzzeitgedächtnis kann etwa nur sieben Informationseinheiten gleichzeitig speichern. Das weitere Lernen geschieht durch Zusammenfassung von Informationseinheiten zu neuen Einheiten (Superzeichenbildung), was auch als Abstraktion bekannt ist.

Die Speicherung von nur etwa sieben Informationseinheiten im Kurzzeitgedächtnis hat im Software-Engineering-Prozeß zu einer sogenannten 7er Regel geführt. Die 7er Regel besagt, daß in einer grafischen Darstellung von Systemmodellen (Spezifikationen) höchstens sieben Elemente gleichzeitig in Beziehung gesetzt werden sollen oder daß ein System in maximal sieben hierarchische Ebenen zergliedert wird. Die gleiche Aussage läßt sich auch auf die Gestaltung von Schulungsmaterial übertragen.

DV-Trainer stehen vor der Aufgabe, ein technisch-wissenschaftliches Gebiet der Informatik so zu vereinfachen, daß es für die Seminarteilnehmer verständlich wird. Der Grad der Vereinfachung des Wissensgebietes oder auch "didaktische Reduktion" richtet sich nach dem Niveau der Seminarteilnehmer.

Im Idealfall können die Seminaristen an das ursprüngliche technisch-wissenschaftliche Niveau herangeführt werden, von dem aus der DV-Trainer seine didaktische Reduktion angesetzt hat.

Gültigkeitsumfang wird nicht eingeschränkt

Im Prinzip erfolgt eine didaktische Reduktion durch den Übergang von einer differenzierten zu einer allgemeinen Aussage, wobei der ursprüngliche Gültigkeitsumfang nicht eingeschränkt wird. Eine vereinfachte Aussage darf somit niemals falsch sein und ein widerspruchsfreier Übergang von einer didaktisch vereinfachten Aussage zur ("obersten") wissenschaftlichen Aussage muß stets möglich sein.

Abstrakt formuliert handelt es sich hier also um eine hierarchische Generalisierung mit dem Zweck, unwichtige Details für die jeweilige Zielgruppe zu "verstecken". Je nach Stoffumfang und Schwierigkeit erfolgt diese Generalisierung über mehrere Stufen. Didaktisch falsch reduzierte Aussagen können langfristigen "Schaden" bei den Betroffenen anrichten, auch wenn der DV- Trainer sonst durch eine perfekte Präsentation geglänzt haben sollte.

Software-Entwicklern sollte das Prinzip der didaktischen Reduktion aus dem Software-Engineering bekannt vorkommen, da hier eine gewisse Analogie besteht.

Die Analogie des Software-Engineering zur didaktischen Reduktion besteht darin, daß in beiden Fällen eine stufenweise Abstraktion von technischen Details bis hin zu einer allgemeinen und dadurch leicht verständlichen Ebene durchgeführt werden muß.

Im Sinne einer didaktischen Reduktion kann zum Beispiel das auf dem Rechner ausführbare Programm als die "oberste", am stärksten differenzierte Aussage betrachtet werden.

Als "unterste" Aussage ließe sich beispielsweise ein Anforderungskatalog verstehen, der von den Software-Entwicklern zusammen mit dem Auftraggeber erstellt wurde.

Während bei der didaktischen Reduktion komplizierte Aussagen vereinfacht werden, wird in der Software-Entwicklung von einer einfachen allgemeinen Ebene aus detailliert, bis die Programmebene erreicht ist. Auch hier ist die Korrektheit (entsprechend dem Gültigkeitsumfang bei der didaktischen Reduktion) beim Übergang von einer Ebene in die nächste äußerstes Gebot.

Wenn eine Dokumentation entsprechend dieser Vorgehensweise erstellt wird, liegt nach Abschluß des Projektes eine "quasi didaktisch reduzierte" Beschreibung des Systems vor, die bei Wartungsarbeiten von unschätzbarem Wert ist. Eine Aussage läßt sich didaktisch reduziert mit Hilfe von Beispielen, Analogien und grafischen Veranschaulichungen darstellen.

Ähnlich wie bei der Software-Entwicklung kann auch die Entwicklung von Seminaren phasenorientiert geschehen. Diese konzeptionelle Vorgehensweise hat folgende Vorteile:

- DV-Spezialisten sind in der Regel an ein phasenorientiertes Vorgehen gewöhnt.

- Arbeitsteilung bei der Vorbereitung ist möglich, da Seminarbausteine, die von unterschiedlichen Mitarbeitern erstellt wurden, leichter in ein Gesamt-Seminarkonzept eingepaßt werden können.

- Ein "Seminarautor" kann niemals an alles denken. Durch ein Phasenmodell erhält der Autor eine Art Check-Liste, nach der er vorgehen kann. Der Autor wird somit an die wichtigsten Prinzipien der Seminarentwicklung erinnert. Grobe didaktische Fehler werden somit zumindest reduziert.

- Die Qualität eines bestehenden Seminarkonzeptes läßt sich mit Hilfe eines solchen Vorgehensmodells exakt evaluieren. Natürlich werden die einzelnen Phasen anders bezeichnet als die Phasen in einem Software-Entwicklungsmodell. Es gibt in der Literatur allerdings noch kein Phasenmodell zur Seminarplanung, welches einen gewissen Begriffsstandard definiert hat.