Kampf der Kulturen bei SAP

11.05.2007
Nach dem überraschenden Abgang von Produkt- und Technikchef Shai Agassi muss die SAP-Führung zusehen, dass ihr globales Entwicklernetz nicht zerfällt.

Nach dem Abschied von Shai Agassi, der schon als Favorit für die Nachfolge von SAP-Vorstandssprecher Henning Kagermann gehandelt worden war, treten überwunden geglaubte Spannungen im weltweiten Entwicklernetz des Softwarekonzerns wieder zutage. Das berichtet das "Wall Street Journal" (WSJ) in seiner heutigen Ausgabe. In den zurückliegenden Jahren hat die Führungsriege rund um Firmenchef Kagermann und dem Aufsichtsratsvorsitzenden und SAP-Gründer Hasso Plattner die eigene Softwareentwicklung radikal umgekrempelt und globaler aufgestellt. Neben der Firmenzentrale im badischen Walldorf entstanden weltweit eine Reihe weiterer Entwicklungszentren, unter anderem in den USA, Indien und China. Heute baut der Konzern seine Software in acht Labors, die rund um den Globus verteilt sind, und sich jeweils auf bestimmte Teilaspekte konzentrieren (siehe auch: "Zu 100 Prozent fehlerfreie Software gibt es nicht").

Mit der neuen Softwaregeneration, die im Wesentlichen auf der Integrationsplattform "Netweaver" und der "Enterprise Service Oriented Architecture" (E-SOA) aufbauen, wuchs auch der Entwicklungsaufwand für den Softwarehersteller. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Zahl der Entwickler fast verdreifacht. Werkelten vor sieben Jahren noch etwa 5150 Softwareexperten in den Labors waren es Ende des vergangenen Jahres schon über 14.300.

Zwar wuchs über die Jahre auch die deutsche Entwicklergemeinde von 3900 auf 8500. Insgesamt verlor die hiesige Dependance laut WSJ jedoch an Gewicht und Einfluss. Saßen im Jahr 2000 noch über drei Viertel der SAP-Entwickler in Deutschland, waren es Ende 2006 nicht einmal mehr 60 Prozent. Dagegen wuchs der Einfluss der Zentren in Übersee. Beispielsweise arbeiten heute 2500 Softwareexperten für SAP in Indien. Vor sieben Jahren waren es gerade 400. Die Zahl der Entwickler in den USA stieg im gleichen Zeitraum von 675 auf 1550.

Mit dieser Umverteilung nahmen aber auch die kulturellen Spannungen zu, berichtet das Wirtschaftsblatt. In Walldorf grassierten demnach Ängste, das Stammhaus, das Jahrzehnte die Geschicke von SAP bestimmt hatte, könnte degradiert werden zu einer Filiale unter vielen und die Kontrolle über die Gesamtstrategie könnte verloren gehen. Immer wieder gab es Gerüchte, die zum Teil auch aus der Führungsetage genährt wurden, der Konzern werde seine Zentrale ganz ins Ausland verlegen. Mitarbeiter fürchteten, ihre Jobs würden ins Ausland verlagert. Zwar taten die SAP-Verantwortlichen alles, um diese Sorgen und Ängste aus der Welt zu schaffen, und auch die Entwicklung der Mitarbeiterzahlen in Deutschland deutet nicht darauf hin, dass Jobs gestrichen wurden. Das Betriebsklima soll sich trotzdem zusehends abgekühlt haben. Der kulturelle Graben wurde tiefer.

Shai Agassi, Ex-Entwicklungschef von SAP, verglühte wie ein Komet am SAP-Himmel.
Shai Agassi, Ex-Entwicklungschef von SAP, verglühte wie ein Komet am SAP-Himmel.
Foto: SAP

Auf der anderen Seite standen die aufstrebenden Entwicklungszentren – vor allem in den USA. Die dort eingesetzten Entwickler sahen sich als Antreiber und Vorreiter einer neuen SAP, die sich von der alten Abap-Welt verabschiedet und neuen Internet- und Service-basierenden Softwarekonzepten öffnet. Leitfigur dieser Entwicklung war laut WSJ Produktchef Agassi, der auch sein Hauptquartier jenseits des großen Teichs aufschlug. Der Manager, der 2001 mit der Übernahme von Toptier zu SAP gestoßen war und sich dort binnen kürzester Zeit seinen Weg in die Führungszirkel bahnte, galt vielen als Inbegriff des Fortschritts – ganz im Gegensatz zu den verkrusteten Strukturen in Walldorf.

In der Walldorfer Zentrale stellte sich das Management dem Schwung des neuen Jung-Managers nicht in den Weg (siehe auch: Gartner: SAP richtet Strategie neu aus). Schließlich galt es, sich zügig auf die rasant verändernden Marktbedingungen einzustellen. Jeder sprach von Service-orientierten Architekturen und Standards, die eine völlig neue Softwarewelt in Aussicht stellten (siehe auch: SAP predigt Enterprise SOA). Zudem blies die Konkurrenz zum Angriff auf die Festung SAP, allen voran Oracle, das in den vergangenen Jahren über 20 Softwarefirmen schluckte und sich damit mehr und mehr zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten mauserte.

Allerdings verlief der Kulturwandel bei SAP nicht reibungslos. Agassi konnte zwar seine Hausmacht in den USA und den anderen internationalen Entwicklungszentren festigen; in der Walldorfer Firmenzentrale wurde die Geschwindigkeit, mit der der agile Israeli die Veränderungen voran trieb, jedoch immer skeptischer beobachtet. Versuche des Produkt- und Technikchefs, sich in erster Linie auf die neuen Produkte rund um Netweaver zu konzentrieren, sollen Kagermann und Plattner abgelehnt haben.

Agassi ging seine Aufgabe von der US-Zentrale im Silicon Valley an. Dort krempelte er die Entwicklungsorganisation komplett um und setzte sich und seinen Gefolgsleuten, die er konsequent um sich scharte, ehrgeizige Ziele. Die Schlagzahl der Entwicklungen erhöhte sich schnell. Innerhalb weniger Monate stampfte sein Team eine Reihe neuer Applikationen und Tools aus dem Boden. Entwicklungen, für die die alte SAP Jahre gebraucht hätte.

In den etablierten Walldorfer Entwicklerkreisen sollen diese Entwicklungen indes kritisch beobachtet worden sein. Als "quick and dirty" wurde die Arbeit Agassis angeblich abgetan. Viele pochten auf deutsche Tugenden wie Qualität und gute solide Ingenieursarbeit (siehe auch: Software – Qualität ist gefragt).

Diese Gräben, die bis heute nicht überbrückt scheinen, dürften ein wesentlicher Grund für den Abschied Agassis gewesen sein. Mit den Entwicklungsfortschritten, die SAP unter seiner Ägide erreichte, setzte der Manager auch seine persönlichen Ziele weiter nach oben. Auf dem Sessel des Vorstandssprechers wollte er einmal sitzen, und auch nicht zu lange darauf warten. Mit der Ankündigung, dass Kagermann seinen Platz bis 2009 behalten werde, platzten diese Träume. Agassi zog die Konsequenzen und verabschiedete sich (siehe auch: Zu schnell, zu smart, zu ungeduldig).

Zurück bleibt ein Softwarekonzern, der sich nach außen in einem rasch wandelnden und heftig umkämpften Markt behaupten und intern zu einer neuen Geschlossenheit finden muss. Das dürfte für Kagerman und seinen designierten Nachfolger Leo Apotheker nicht einfach werden (siehe auch: Der SAP-Tanker fährt auch ohne Agassi). Es gilt nicht nur, die Lücke, die Agassis Abgang gerissen hat, zu schließen, auch müssen die Fronten, die sich durch die globale SAP-Belegschaft ziehen, beseitigt werden. Der Trend hin zu einer global aufgestellten Entwicklung ist dabei nicht umzukehren. Die Schwierigkeit für das SAP-Management dürfte darin liegen, die Interessen der verschiedenen Gruppen zu berücksichtigen sowie auch bestehende Ängste wahrzunehmen und auszuräumen. Das darf allerdings nicht auf Kosten der Entwicklungsdynamik geschehen (siehe auch: SAP will Wachstum weiter aus eigener Kraft stemmen). Sonst überrollen der Markt und die Wettbewerber den noch amtierenden Branchenprimus im Segment Business-Software und SAP ist nach 35 Jahren nur noch Softwaregeschichte. (ba)