Re-Engineering versus Kontinuierlicher Verbesserungsprozeß:

Kaizen hat in Europa noch längst nicht ausgedient

21.06.1996

"Viele Menschen, die über Business Re-Engineering reden, haben keine Ahnung, was es bedeutet. Der Begriff wird in so ungeheuer falscher und unangemessener Weise verwendet, daß man schon verzweifeln könnte. Er ist zum Modewort geworden, zu einer Art Synonym für gut." Diese Art von eigener "Nestbeschmutzung" des Management-Gurus Michael Hammer war schon vor gut zwei Jahren in der COMPUTERWOCHE zu lesen - und der für viele Zeitgenossen als Re-Engineering-Papst geltende Autor und Berater scheint mit seiner Kritik auch heute noch recht zu haben.

Business Re-Engineering beginnt in den Köpfen der Mitarbeiter - und die wollen meistens nicht. Dort wo Veränderungsbereitschaft besteht, weil es dem Unternehmen schlecht und damit an den Kragen geht, ist es meistens zu spät. Zudem fehlt es nach wie vor an statistischen Aussagen darüber, wie erfolgreich Business-Re- Engineering-Projekte in der Praxis verlaufen. Und zu allem Überfluß bekommen dann diejenigen, ohne die gar nichts geht, nämlich die IT-Abteilungen der Unternehmem, den Frust des Topmanagements über ausbleibende Erfolge zu spüren.

Nichts Neues also an der Re-Engineering-Front - erst recht, was die Resultate angeht. In erschreckend vielen Fällen schlagen unternehmensweite Restrukturierungen fehl. Ein Umstand übrigens, den die Marktforscher von Arthur D. Little schon 1994 bei rund 85 Prozent der Top-1000-US-Unternehmen konstatierten und der sich Insidern zufolge auch heute nicht wesentlich anders darstellt. Trotzdem befinden sich mehr als zwei Drittel aller US-Unternehmen in Business-Re-Engineering-Prozessen - Tendenz steigend. Und Europa, respektive Deutschland, holt bei den Anstrengungen zur Optimierung von Geschäftsabläufen auf. Positive Beispiele wie etwa Audi, Lufthansa und Porsche dienen dabei den Beratern als Argumenta- tionshilfen.

Viel zur Hochkonjunktur alter und neuer Business-Re-Engineering- Rezepte trägt zwangsläufig die Standortdebatte auf dem Alten Kontinent bei. Mehrere europäische Industriezweige, unter anderem die Computerbranche, sind unter den Angriffen asiatischer und amerikanischer Konkurrenz zur Bedeutungslosigkeit degradiert worden, heißt es beispielsweise in der "Quintessenz" eines vor kurzem veröffentlichten Weißbuchs des European Executive Council. Das von Arthur D. Little initiierte Forum europäischer Führungskräfte spricht sich darin für die Rückbesinnung auf potentielle Stärken aus, die insbesondere deutsche Unternehmen gezielt ausbauen müssen, um wieder aktiver an den neuen Wachstumsmärkten partizipieren zu können.

Demnach wäre es unter anderem wichtig, die Entwicklung kollektiver Lernkulturen in den Firmen voranzutreiben.

Während asiatische Wettbewerber Erkenntnisse über neue Markt-, Technologie- und Produktmöglichkeiten immer schneller in Innovationen umsetzen, hindern sich deutsche Unternehmen häufig durch hierarchische Barrieren an schnellen Entscheidungen. 70 Prozent der am Council beteiligten Führungskräfte gaben an, daß in ihren Unternehmen Wissen aus einem Bereich nicht schnell genug in andere Firmenteile übermittelt werde. Genauso entscheidend sei aber, so das Weißbuch, die Nutzung guter Ideen von Mitarbeitern. Entsprechende Risikobereitschaft und innovatives Verhalten des einzelnen müßten sich wieder lohnen, wenn deutsche Unternehmen neue Märkte erschließen wollten.

Darüber hinaus mißt der Management-Report von Artur D. Little der Restrukturierung vieler Industriezweige in Europa über die nationalen Grenzen hinweg eine entscheidende Bedeutung bei. Bisher seien Restrukturierungen viel zu stark innerhalb einzelner Unternehmen oder innerhalb der einzelnen europäischen Länder verlaufen. Wirklich europäische Unternehmen größeren Zuschnitts seien dabei nur selten entstanden. Genau diese müßten jedoch geschaffen werden, um Kostennachteile bei Produktion und Entwicklung gegenüber der Konkurrenz auf den Weltmärkten zu kompensieren.

Auf ähnlichen Überlegungen beruht das mit dem durch einen von Arthur D. Little geprägten Begriff bezeichnete Konzept des Technologie- und Innovations-Management (TIM), das jetzt seine Wiedergeburt feiert. Nachzulesen ist dies in einer Dokumentation, die die Marktforscher nach einem Kolloquium zwischen Vertretern 14 europäischer Konzerne (darunter Audi, BASF, BMW, British Telecom, Ericsson Philips, Shell und Siemens) veröffentlicht haben. Demzufolge gilt es für Europas Industrie und Wirtschaft, sich für die Zeit bis zur Jahrtausendwende auf folgende TIM-Schwerpunkte zu konzentrieren: den Aufbau eines nahtlosen Innovationsprozesses, die Etablierung eines strategischen Technologie-Managements sowie die globale Ausrichtung aller Aktivitäten bei Forschung und Entwicklung.

Pure Platitüden und Fachchinesisch eines längst überspannten Business-Re-Engineering-Bogens meinen dazu andere Experten, die namentlich zwar nicht genannt werden wollen, deren Auffassung in der täglichen Praxis jedoch immer häufiger bestätigt wird. Jedenfalls scheinen sich deutsche Unternehmen verstärkt mit deutlich bescheideneren Restrukturierungsansätzen zufrieden zu geben. TQM (Total Quality Management) und vor allem KVP heißen die neuen (alten) Zauberformeln. Was nichts anderes bedeutet, als daß doch nach dem japanischen "Kaizen"-Prinzip (siehe Kasten) verfahren wird. Statt "Was können wir anders machen?" wird gefragt "Wie können wir es besser machen?".

Laut "Wirtschaftswoche" kam die Starnberger Unternehmensberatung Agamus Consult GmbH in einer KVP-Studie zu erstaunlichen Ergebnissen: 84 Prozent der insgesamt 309 befragten deutschen Firmen gaben an, ihre Kosten mit Hilfe von jeweils in kleinen Schritten eingeführten Verbesserungen um bis zu 15 Prozent gesenkt zu haben. 45 Prozent der Unternehmen reduzierten ihre Lagerbestände um sechs bis 20 Prozent, und 96 Prozent konnten ihre Produktivität um immerhin ein Fünftel erhöhen. Basis aller Errungenschaften ist dabei, wie es in der Untersuchung heißt, die traditionelle japanische Vorgehensweise: Neben einer sukzessiven Implementierung verbesserter Geschäftsabläufe werden vor allem Mitarbeitervorschläge gefördert und in Entscheidungen einbezogen.

Wie sieht es nun aber mit der Rolle der IT in Business-Re- Engineering-Prozessen aus? Wie eh und je, heißt die nicht gerade befriedigende Antwort. Ohne IT und damit heutzutage in erster Linie Client-Server, Workflow und Enterprise Networking geht es nicht, aber die IT-Abteilungen können allenfalls eine Katalysatorfunktion übernehmen, meinen nicht nur Experten wie Michael Hammer. Schlagen indes Restrukturierungs-Maßnahmen - aus welchem Grund auch immer - fehl, ist die hauseigene DV oft der Prügelknabe, weil Business Re-Engineering immer noch häufig mit zwei Dingen verwechselt wird: dem Abbau von Arbeitsplätzen und/oder Downsizing.

Oder es kommt noch schlimmer: Man verwechselt das Ganze mit Software-Re-Engineering - ein Trend übrigens, der sich durch jüngste Entwicklungen in den USA wieder zu festigen scheint. "Forget Re-Engineering" heißt es da bei immer mehr großen Anwenderfirmen, für die nur eines zählt, nämlich die Effizienz und der Zeitgewinn bei der Installa- tion komplexer Standardsoftware wie beispielsweise R/3.

Wenn dies ein Systemintegrator heute in sechs statt wie bisher zwölf Monaten bewerkstelligt, hat man (zunächst) genug für die Optimierung der Geschäftsabläufe getan, heißt es. Anders formuliert: Die hauseigene DV muß mehr denn je mit den immer schneller werdenden Produktzyklen mithalten können. Was übrig bleibt, sind oft wie eine Seifenblase platzende Blütenträume, oder wie Michael Hammer es formulierte: "Re-Engineering-Vorhaben gehen nicht mit einem lauten Knall unter, sondern sterben mit einem leisen Wimmern - wie eine große Armee, die gar nicht zum Kämpfen kommt, sondern auf dem Weg zu Schlachtfeld im Sumpf steckenbleibt..

KVP/Kainzen

Mit KVP wurde Re-Engineering-Experten zufolge Anfang der 90er Jahre im Zusammenhang mit Fragen der Unternehmensorganisation nicht gerade das Rad neu erfunden. Aber auch manches im Prinzip bewährte Rezept, das dabei in der täglichen Praxis angewendet werden soll, hat seine Tücken. Kostenreduktion, Erhöhung der Produktqualität und Durchlaufzeiten sowie vor allem Verbesserung der Mitarbeitermotivation sind die wichtigsten Faktoren von KVP. Vor allem letzteres soll durch eine stärkere Integration der Basis in Entscheidungsprozesse erreicht werden - eine weitgehend optimierte Form des betrieblichen Vorschlagswesens sozusagen. Als Initiator des neuen Denkens in den westlichen Chefetagen gilt der Japaner Masaaki Imai, der in seinem Buch "Kaizen" beschrieb, was die "Japan AG" so stark machte, nämlich vor allem die uneingeschränkte Kundenorientierung.