Thema der Woche

IT-Managern fehlt noch der Blick für E-Commerce

26.06.1998

CW: Ihr Unternehmen hat vor kurzem in Amsterdam eine erste europäische Niederlassung eröffnet, die sich vor allem mit dem Zukunftsthema Electronic Commerce beschäftigen soll. Liegt der Grund für diese Maßnahme darin, daß Europa bei der Nutzung zeitgemäßer IT im Vergleich zu den USA immer noch Defizite aufweist und Sie deshalb auf dem Alten Kontinent einen besonders lukrativen Markt wittern?

Colony: Daß wir überall dorthin gehen, wo wir einen interessanten Markt sehen, wird man uns nicht verübeln können. Was den von Ihnen implizierten vermeintlichen Rückstand der Europäer bei der Nutzung moderner Technologien angeht, läßt sich feststellen: Es gibt ihn nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in dieser gravierenden Form.

CW: In einer unlängst von Ihrem Haus veröffentlichten Internet-Studie hörte sich das aber noch ganz anders an.

Colony: Sie müssen da schon genau hinhören beziehungsweise nachlesen. Wir haben den unserer Ansicht nach etwas übertriebenen Optimismus europäischer Führungskräfte in bezug auf die künftigen Möglichkeiten eines Web-basierten Handels kritisiert - weil es, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, in Europa eben noch eine Menge Hindernisse auf dem Weg zu einem umfassenden Electronic Commerce gibt. Denken Sie nur an die vergleichsweise geringe PC-Durchdringung der privaten Haushalte oder an die immer noch zu hohen Telekommunikationsgebühren. Die Barrieren in den Köpfen sind jedoch zu einem Großteil verschwunden. Insofern war besagter Optimismus vielleicht der erste und wichtigste Schritt.

CW: Macht sich denn dieser Kulturwandel schon in vollem Umfang bemerkbar?

Colony: Nach meiner Überzeugung schon. In den vergangenen zwei Jahren hat sich da eine Menge getan. Natürlich gibt es sowohl in den Vorständen der Unternehmen als auch innerhalb der IT-Shops noch immer Betonköpfe, die sagen, der Hype um das Internet interessiert mich nicht. Doch die Gruppe derjenigen, die sich fragen, wie sie mit dem Web neue Märkte erschließen und im Zweifel alte Kunden halten können, hat auch in europäischen Firmen längst Oberwasser.

CW: Welche Konsequenzen hat dies für das IT-Management?

Colony: Wir sehen in diesem Zusammenhang ein neues Problem auf die Europäer zukommen. Der absehbare Generationswechsel bei den IT-Verantwortlichen fördert jedenfalls eine gefährliche Technikverliebtheit. Mit anderen Worten: Es nützt nichts, wenn die Java-Freaks an die Macht kommen und dann den Firmenchefs nicht erklären können, mit welchem Internet-Auftritt, mit welcher Electronic-Commerce-Strategie und vor allem mit welchen Investitionen in neue Kommunikationstechnologien sie zusätzliche Märkte erobern können.

CW: Das Problem mangelnder Kommunikationsfähigkeit zwischen IT-Abteilung und Vorstand ist aber alles andere als neu und vor allem nicht ausschließlich in Europa verbreitet.

Colony: Auf den ersten Blick mögen Sie recht haben. Doch wir haben es nicht nur mit nachwachsenden Leuten im IT-Management, sondern auch mit immer jüngeren Firmenchefs zu tun. Denen können Sie nicht sagen, wir führen SAP ein, und dann brauchen wir über die Themen Warenwirtschaftssystem und Finanzbuchhaltung nicht mehr zu diskutieren. Ein verantwortlicher Manager, der seinen Job gut macht, erhält und schreibt heute pro Woche mehrere hundert E-Mails - und will zum Beispiel wissen, warum sein Unternehmen ausgerechnet mit dem Internet-Service-Provider "X" eine Geschäftsbeziehung eingegangen ist.

CW: Und dieses Problem hat man in den USA nicht?

Colony: Nicht in dem Ausmaß, weil sich dort der bekannte Zeitvorsprung bei der Internet-Nutzung ja nicht über Nacht in Luft aufgelöst hat. Die Schnittstellen zwischen Internet-Auftritt und Geschäftsstrategie sind in den USA einfach schon in einem fortgeschritteneren Stadium implementiert. Ich will mit dieser Aussage übrigens gar nicht den vielzitierten Chief Information Officer (CIO) strapazieren, auch wenn sich zu diesem Thema im Vergleich von USA und Europa immer noch einiges sagen ließe. Worauf es mir ankommt, ist etwas anderes: Forrester bezeichnet es als "Third Skill", und die Amerikaner haben es - tut mir leid, das so sagen zu müssen - schon begriffen.

CW: Was beinhaltet dieser Third Skill?

Colony: Lassen Sie mich es so darstellen: Sie können einen CIO als Kommunikationsplattform zwischen IT-Abteilung und Vorstand installieren, und er wird viele ihrer klassischen IT-Probleme lösen können. Electronic Commerce funktioniert jedoch nach anderen Regeln. Durch das Internet ist die IT erstmals nicht mehr nur Mittel zum Zweck, sondern selbst Katalysator bei der Erschließung neuer Märkte. Konsequenz: Es haben sich völlig neue Maßstäbe in Sachen Kundenorientierung ergeben. Andererseits hat sich an der Tatsache, daß für die IT-Abteilung Kundenorientierung nach wie vor ein Fremdwort ist, die Marketing- und Vertriebsleute indes mit den technischen Grundlagen, also den Bits und Bytes oder Java-Applets nichts am Hut haben, nichts geändert. Und daran wird sich auch nichts ändern. Es muß und wird also innerhalb der Unternehmen eine dritte Division geben, die die jeweilige Electronic-Commerce-Strategie umsetzt.

CW: Das sollten Sie aber schon noch etwas detaillierter erklären.

Colony: Wir bezeichnen diesen zukünftigen Geschäftsbereich als Internet Commerce Group - schließlich wird alles über das Web abgewickelt, dann sollte man das Kind auch beim Namen nennen. Die Division sollte organisatorisch beim Marketing-Chef des jeweiligen Unternehmens aufgehängt sein, weil - ich wiederhole es - Kundenorientierung und damit der berühmte Content, also das Angebot, beim Internet Commerce das Maß aller Dinge sind. Meinetwegen kann diesen Job auch der CIO übernehmen, wenn er über einen entsprechenden Hintergrund verfügt. Und natürlich benötigt man in dieser Gruppe Technologie-Spezialisten, die Trends erkennen und umsetzen, sich aber nicht im Dschungel einzelner Java-Tools verirren.

CW: Das klingt nach einer abteilungsübergreifenden Task Force, die das ebenfalls aus Ihrem Haus stammende "Transactive-Con- tent"-Modell umsetzen soll.

Colony: Im Prinzip ja. Wir wollten mit dem von Ihnen erwähnten Modell ein Problembewußtsein dafür schaffen, daß ein erfolgreiches Web-Angebot den Kunden vom ersten Blick auf die Homepage bis zur Bestellung über alle Transaktionsebenen hinweg interessieren, ansprechen, neugierig machen muß. Man kann es nicht besser als Ihre Zeitung formulieren, die in diesem Zusammenhang schrieb: "Im Web ist der potentielle Käufer immer nur einen Mausklick vom Geschäftsabschluß entfernt - oder von der Konkurrenz." Ich würde daher den Chef der Internet Commerce Group gerne mit dem Produzenten eines Hollywood-Films vergleichen: Er ist kein Schauspieler, er hat das Drehbuch nicht geschrieben, und er führt auch nicht Regie. Aber er muß dafür die richtigen Leute auswählen und ist letztlich für den kommerziellen Erfolg des gesamten Projekts verantwortlich.

CW: Die Schauspieler wären demnach die einzelnen Business Units, das Drehbuch käme aus der Marketing-Abteilung, und Regie würde das IT-Management führen. Ein in der Theorie nachvollziehbares Modell, aber wie sieht es in der Praxis aus?

Colony: Ich hatte vorhin erwähnt, daß US-Firmen bei der Implementierung dieser Internet-Commerce-Schnittstelle weiter sind als europäische Firmen.

Schauen Sie sich nur Cisco und Dell oder zum Beispiel auch Federal Express an. Wir alle kennen die Umsatzzahlen, die diese Companies momentan schon über das Web erzielen. Da sind völlig neue Kulturen entstanden - und natürlich auch ein komplett neues Verständnis von IT-Management. Mit einem IT-Chef oder CIO alter Prägung können Sie keine funktionsfähige Internet Commerce Group etablieren. Und noch eines sollte man im Zusammenhang mit den genannten Firmen berücksichtigen. Dort kommen selbstentwickelte Internet-Commerce-Plattformen zum Einsatz - Intershop und erst recht Microsoft oder IBM hatten keine Chance.

CW: Warum?

Colony: Fragen Sie die CIOs der jeweiligen Unternehmen. Die fertigen Produkte von der Stange waren nicht gut genug, um die erforderliche Integrationsarbeit zu leisten. Ich muß hier leider noch einmal unser angesprochenes Modell zitieren. Inhalte und Angebot, die durchgängige Interaktion mit dem Kunden und die daraus resultierenden Transaktionen müssen zu einem durchgängigen Handlungsablauf verschmolzen werden.

CW: Firmen wie Intershop werden also Ihrer Ansicht nach nicht die ersten Gewinner des Electronic Commerce sein?

Colony: Bei aller Wertschätzung für den wieder aufflammenden Unternehmergeist in Deutschland: Nein. Die Kunden, der Markt sind durstig, und die derzeit professionell vermarkteten Internet-Commerce-Plattformen bestehen lediglich aus Wasser. Die Dells und Ciscos dieser Welt werden aber in Kürze Champagner kredenzen.

CW: Daß die Web-Erfolge von Firmen wie Cisco und Dell momentan die These bekräftigen, wonach sich Electronic Commerce zunächst vor allem im Business-to-Business-Bereich durchsetzen wird, ist unstrittig. Was ist aber mit dem Consumer-Markt, und was ist mit den großen Netzbetreibern, die man in diesem Zusammenhang wohl auch nicht unterschätzen darf?

Colony: Tut mir leid, wenn ich jetzt Europa noch einmal kritisch sehen muß. Für die USA mag das, was Sie sagten, vielleicht mit Einschränkung gelten. Doch die Telcos auf dem Alten Kontinent werden noch mindestens zwei Jahre benötigen, um die technische Grundvoraussetzung für einen funktionierenden Internet Commerce zu schaffen - nämlich Bandbreite zu einem auch für die privaten Verbraucher erschwinglichen Preis zur Verfügung zu stellen. Und wie, bitteschön, sollen die Monopolisten von gestern ihre Lektion in Sachen Kundenorientierung quasi über Nacht gelernt haben?

Nein! Blicken Sie nicht nur auf Cisco und Dell. Federal Express habe ich erwähnt, General Electric und manch anderen US-Konzern könnte ich in diesem Zusammenhang auch noch nennen - von Amazon.com ganz zu schweigen! Die Gewinner im Internet Commerce werden all diejenigen sein, die schneller als der Wettbewerb ein dafür taugliches Geschäftsmodell implementieren. Und das wird letztlich mit einiger Verzögerung auch für den Business-to-Consumer-Markt gelten. Wir haben zu Beginn über den Rückstand der Europäer gesprochen. Der wird, wie ich fürchte, bis auf weiteres bestehen bleiben. Allerdings werden wir in zwei Jahren nicht mehr über ein Bandbreiten- oder Akzeptanz-"Gap" zwischen beiden Kontinenten sprechen, sondern über Defizite der Europäer beim Third Skill.

Kritische Wahrheiten

Wie viele andere Marktforschungs-Gesellschaften reitet natürlich auch Forrester Research momentan auf der Electronic-Commerce-Welle. Doch anders als der vielzitierte Wettbewerb haben die in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts beheimateten Auguren zuletzt durch zumindest kritische Zwischentöne auf sich aufmerksam gemacht. In der Anfang April veröffentlichten Studie "Europe's Internet Growth" (siehe CW 14/98, Seite 1) prognostizierte Forrester zwar bis 2001 einen Anstieg der Online-Umsätze in Europa von 1,2 Milliarden Dollar (1998) auf 64,4 Milliarden Dollar, kritisierte jedoch die nach wie vor schlechten Standortfaktoren. Die geringe PC-Durchdringung der privaten Haushalte, hohe Telekommunikationsgebühren sowie Debatten über sichere Online-Transaktionen dürften, so die Studie, bis auf weiteres nur zu einem moderaten Wachstum bei privaten Internet-Anschlüssen führen. Der Business-to-Business-Sektor bleibt deshalb zunächst alleiniger Motor der Internet-Ausbreitung in Europa. Der Web-Handel mit einer breiten Consumer-Basis ist deshalb noch mehr Wunsch als Wirklichkeit.

E-Commerce nach Forrester

In Rahmen eines im Herbst vergangenen Jahres vorgestellten "Transactive-Content"-Modells (siehe CW 48/97, Seite 23) beschreibt Forrester Research die Grundprinzipien einer funktionierenden Internet-Commerce-Strategie. Zentrale Forderung ist dabei eine für die Kunden möglichst einfache Handhabung aller Online-Transaktionen mit Unternehmen und Dienstleistungsanbietern. Tenor: Ein erfolgreiches Web-Angebot muß den "Besucher" vom ersten Eindruck an, den die Homepage vermittelt, bis hin zur möglichen Bestellung über alle Transaktionsebenen hinweg an sich binden. Inhalte, Interaktion - also virtueller Dialog zwischen Anbieter und Kunde - sowie daraus resultierende Transaktionen sollten zu einem durchgängigen Handlungsablauf integriert werden. Nur dann lassen sich die gewünschten Synergieeffekte im Online-Auftritt und damit der angestrebte Geschäftserfolg im Cyberspace realisieren.