IT-Arbeitsmarkt: Vom Boom profitieren nur die Jüngeren

16.11.2000
Von den en
Pünktlich zur Systems wartete der Branchenverband Bitkom mit einer spektakulären Hochrechnung auf: In Westeuropa fehlen derzeit der IT-Branche 1,9 Millionen IT-Experten. Eine Nachricht, von der nicht alle Bewerber profitieren, wie der Eröffnungstag im Zentrum für Jobs & Karriere der COMPUTERWOCHE zeigte.

Mit über 100 personalsuchenden Unternehmen als Aussteller hat auch das Zentrum für Jobs & Karriere im dritten Jahr auf der Systems seinen Superlativ erreicht. Karrierechancen ohne Ende, wohin man blickt. Zu dieser Aufbruchstimmung schien die Einschätzung von IG-Metall-Vetreter Wolfgang Müller in der ersten Podiumsdiskussion des Tages nicht zu passen: „Das Jobparadies existiert nur für die unter 35-Jährigen, die über gefragtes Know-how wie UMTS, XML oder WAP ver-fügen.

Diskussionsrunde Systems 2000

Was aber ist mit den älteren IT-Mitarbeitern, die kein aktuelles Wissen haben, weil sie die letzen zehn Jahre proprietäre Systeme verwaltet haben?“ So sei die Politik von IT-Dienstleistern wie Siemens Business Service, die im nächsten Jahr 1000 neue Stellen schaffen, gleichzeitig aber 2000 Mitarbeiter „entsorgen“ würden, kein Einzelfall.

Auch wenn sich die Vertreter von IBM und BMW gegen Müllers Wortwahl zur Wehr setzten, gaben sie doch indirekt zu, dass auch sie am liebsten 25- bis 30-jährige Bewerber einstellen. Dazu Wolfgang Ober, Leiter des Recruiting beim bayerischen Autohersteller: „Im Bereich Software-Engineering sind wir nicht bereit, Kompromisse zu machen, da wir hier auf das aktuelle Know-how der Mitarbeiter angewiesen sind.“ Juliane Wiemerslage, IBM-Geschäftsführerin und zuständig für den Bereich Personal, betonte zwar, dass ein großes Unternehmen neben der Innovationskraft von jungen Mitarbeitern auch erfahrene Leute mit Branchen- und Projektwissen brauche; Vorrruhestandsregelungen kämen aber „hin und wieder“ vor. Betroffene, die für Gewerk-schafter Müller „entsorgte Mitarbeiter“ sind, sieht die IBM-Geschäftsführerin als potenzielle Unternehmensgründer an, die

sich mit der Abfindungssumme selbständig machen und als Zulieferer weiter für IBM arbeiten.

Für Müller war es ein offensichtlicher Widerspruch, dass die IT-Unternehmen einerseits über den Fachkräftemangel lamentieren, andererseits bezüglich der Qualifikationen und des Alters der Bewerber keine Abstriche machen wollen. In seinen Augen müssten vor allem die großen Firmen umdenken, da sie die Trendsetter seien, an denen sich andere orientieren. Dass viele Firmen aber schon umgedacht haben, belegte Professor Rudolf Haggenmüller von der Softwareoffensive Bayern anhand einer aktuellen Umfrage des Verbandes der Softwareindustrie (VSI): Demnach sind 70 Prozent der Mitarbeiter in der IT-Branche so genannte Quereinsteiger, das heißt Nicht-Informatiker. Die Hälfte der Mitarbeiter sei über Schulungsmaßnahmen in den Job gekommen.

 Eine Lanze für die verstärkte Qualifizierung brach der bayerische Staatsminister Erwin Huber, der als Schirmherr das Zentrum für Jobs & Karriere eröffnete: „Angesichts der gewaltigen Jobprognosen für die IT-Branche müssen wir die Aus- und Fortbildung kräftig voranbringen.“ Hier seien Staat und Wirtschaft gleichermaßen gefordert. Eine Herausforderung für die Unternehmen und ihre Personalabteilungen stellt aber auch die abnehmende Firmenloyalität dar, wie die zweite Podiumsdiskussion des Tages zum Thema „Jobhopping“ zeigte. „Zweistellige Fluktionsraten sind heute an der Tagesordnung“, meinte beispielsweise Volker Jansen, Personalchef des Softwarehauses Softlab. „Jeder, der das Gegenteil behauptet, kennt seine Zahlen nicht“, so der Münchner Manager weiter. Selbst der weltweit agierende Internet-Dienstleister Razorfish

hatte dieser Tage stolz vermeldet, dass seine Fluktuationsrate „nur“ 16 Prozent betrage. Früher in der Old Economy galten solche Zahlen als höchst alarmierend und als Zeichen dafür, dass im Unternehmen einiges im Argen liegen muss. Heute werden sie als selbstverständlich hingenommen.

Mehr noch: Bernd Engelien, Sprecher des Personaldienstleisters Career Company in Köln, versuchte die Runde damit zu trösten, indem er sagte, dass im Silicon Valley die Mitarbeiter pro Jahr mehrmals den Job wechselten und bei den italienischen Ingenieuren die Fluktationsrate 75 Prozent ausmache, bei den deutschen dagegen seien es nur zehn Prozent. Der Münchner Personalberater Jürgen Herget ging mit den Jobhoppern als denjenigen, die in erster Linie die hohen Fluktuationsraten zu verantworten haben, hart ins Gericht. Für ihn sind diese Mitarbeiter, die in drei Jahren vier- oder fünfmal den Job wechselten, Versager. Denn immer dann, wenn sie sich beweisen müssten, verlassen sie das Unternehmen. So sehr ihm als Headhunter diese Entwicklung entgegen kommen könnte, so wenig sind diese Art von Bewerber zu vemitteln, „weil sie sich in keinem Projekt durchgebissen haben“.

Eine Verweildauer von weniger als einem Jahr in einer Firma sei zu kurz, um sein Können unter Beweis zu stellen. Softlab-Personalchef Jansen geht auf die Jobhopper pragmatisch zu. In Zeiten des großen Fachkräftemangels müsse man sich jeden Be-werber genau anschauen und nach den eventuellen Gründen eines häufigen Wechsels fragen. Er habe Verständnis für solche Kandidaten, die auf die Versprechungen von Internet-Startups reingefallen sind und sich Hoffnungen gemacht haben, in diesen Firmen das gro-ße Geld - dank Aktienoptionen - zu verdienen. Jansen nimmt auch ehemalige Mitarbeiter wieder auf, die - nach einiger Zeit von der New Economy geheilt - wieder bei ihm anklopfen. Einziges Problem seien die harten Gehaltsverhandlungen, denn Sprünge von 30 bis 40 Prozent, die einige Beschäftigte nach dem Wechsel realisieren konnten, ist er nicht bereit zu finanzieren. Das heisst, die Rückkeh-rer müssten sich dem Softlab-Einkommensrahmen wieder

anpassen.

Helmut Fleischmann, Vorstandsvorsitzender des Münchner Softwaredienstleisters Brainforce, glaubt, dass bei einem Wechsel die Aufgaben und die Position im Vordergrund stehen und weniger das Geld: „Wir reden über unsere Unternehmenskultur, über die Soft facts und nur zum Schluss über das Gehalt.“ Engelien pflichtet ihm bei: „Was nützt ein hohes Gehalt, wenn der Mitarbeiter jeden Morgen mit Bauchschmerzen in die Firma geht.“ Deshalb sei es ganz wichtig, sich als attraktiver Arbeitgeber im Markt zu präsentieren, ist Jansen überzeugt. Um die Fluktuation in Griff zu bekommen, ist er immer wieder bemüht, für ein gutes Betriebsklima zu sorgen. Neueste Errungenschaft, auf die er ganz stolz ist: Jeder Mitarbeiter hat sein eigenes Weiterbildungsbudget erhalten, um die vielzitierte Eigenverantwortlichkeit zu stärken. Dadurch erhalte die Bindung an das Unternehmen eine neue Qualität und Mitarbeiter ezählten mit Stolz, wo sie

be-schäftigt seien. Die abnehmende Firmenloyalität und gestiegene Bereitschaft, den Arbeitgeber zu wechseln, ist aber auch eine Frage des Alters. Headhunter Herget zog die Demarkationslinie bei 40 Jahren: „ Wer älter ist, wechselt nicht mehr so häufig, da es für ihn zunehmend schwieriger wird, einen adäquaten Job zu finden.“ Vor diesem Hintergrund müssten sich viele Firmen eigentlich freuen, wenn sie einen älteren Mitarbeiter für sich gewinnen könnten, zumal sie dann nicht bangen müssten, ihn gleich nach einem Jahr wieder zu verlieren.