Öffentliche Verwaltung sammelt Pioniererfahrungen

IP-Telefonie mit kleinen Schönheitsfehlern

23.03.2001
BÖNEN (hi) - Billiger und effizienter als klassische TK-Anlagen sollen IP-basierte Systeme die Telefonkommunikation bewältigen. Die öffentliche Verwaltung in Bönen sammelte als einer der Pioniere erste Erfahrungen mit dem Telefonieren über das Internet Protocol IP.

Die klassischen Telefonanlagen haben als Dinosaurier der Telekommunikation ausgedient. So oder ähnlich tönte es in den letzten beiden Jahren aus den Marketing-Abteilungen der Anbieter von IP-basierten Anlagen. Doch wer in der Praxis einen Benutzer der schönen neuen Voice-over-IP-Welt finden will, muss etwas länger suchen. Zu den Pionieren in Sachen Telefonieren über IP zählt Michael Höner, DV-Leiter bei der öffentlichen Verwaltung in Bönen, Nordrhein-Westfalen. Höner hat seit November 2000 eine IP-Telefonanlage im Alltagseinsatz.

Mit dem Gedanken, eine IP-Telefonanlage zu installieren, spielte der IT-Experte seit Mitte 1999. Nachdem er erfolgreich die IT-Struktur der Verwaltung von der mittleren IBM-Datentechnik auf eine moderne Client-Server-Struktur mit Switched Fast Ethernet migriert hatte, stand für ihn die TK-Anlage auf dem Modernisierungsplan, "denn an ihr nagte ebenfalls der Zahn der Zeit".

Klassische TK-Anlage zu teuerSo waren an der alten Anlage nur analoge Endgeräte zu betreiben, und viele moderne Telefonie-Features wie Rufnummernanzeige, automatischer Rückruf etc., die heute jeder ISDN- Benutzer bereits zu Hause nutzt, waren für die Bönener Fremdworte. Zudem war es um die Erweiterung der Anlage schlecht bestellt: So musste sich etwa die DV-Abteilung eigene ISDN-Leitungen legen lassen, da dies über die TK-Anlage nicht möglich war. Noch stärker als die eingeschränkte Funktionalität störte Höner die komplizierte Administration, "selbst für Kleinigkeiten wie eine Rufnummernänderung mussten wir einen Servicetechniker rufen und das ging ins Geld".

Angesichts dieser Nachteile war die Ablösung der TK-Anlage nur noch eine Frage der Zeit. Aufgrund der Erfahrungen mit dem im Support kostenspieligen alten System suchte Höner nun eine Plattform, die er selbst administrieren darf und kann. "Dies und der geringere Anschaffungspreis sprachen für ein IP-basiertes System", begründet der IT-Leiter seine Vorauswahl. Hinzu kam, dass Höner im Hinterkopf bereits eine weitere Idee für die Zukunft hatte: Den Aufbau einer Unified-Messaging-Struktur, bei der das bereits verwendete "Groupwise" von Novell als Basis für Vorgangsbearbeitung und Telefonintegration dienen sollte.

DesignunterschiedeKeine konkrete Anlage vor Augen, machte sich Höner auf der CeBIT 2000 an die Suche nach einem passenden Anbieter. Auf der Messe sprach er mit Unternehmen wie Cisco, 3Com, Alcatel, Deutsche Telekom und anderen. "Dabei zeigte sich schnell, dass damals kein Hersteller eine IP-Anlage im echten Praxisbetrieb präsentieren konnte", fasst der IT-Leiter seine Eindrücke vom CeBIT-Rundgang zusammen. In dieser Situation kam dem Bönener die Idee, in seiner Behörde eine Art Pilotbetrieb zu wagen. Ein Gedanke, der etwa bei Cisco oder 3Com auf positive Resonanz stieß. Von einigen Designunterschieden abgesehen, hätte sich Höner den Einsatz beider Anlagen vorstellen können. Den Ausschlag gab letztlich ein kleines Detail: Während der Call-Manager bei Cisco auf einem NT-Server läuft, verwendet 3Com in seiner Anlage einen Hardwarebasierten Manager unter Unix. Ferner vermittelte 3Com dem IT-Leiter während der Messegespräche einen besseren Eindruck in Sachen Support.

Features via SoftwarelizenzenBis zum eigentlichen Startschuss in Sachen IP-Telefonie ging dann noch ein halbes Jahr ins Land. Wie viele US-Hersteller hatte auch 3Com anfangs der deutschen TK-Realität nicht Rechnung getragen: Ein Line-Interface zum Anschluss der IP-Anlage an das deutsche ISDN-Netz war erst im Oktober 2000 verfügbar, worauf Höner seine "3Com NBX 100" versuchsweise in Betrieb nahm. Bei der Ausstattung der modular aufgebauten Anlage hatte sich der DV-Chef für folgende Komponenten entschieden: Digital Linecard, Hub-Karte, Terminalkarte zum Faxen sowie 64 MB RAM. Weitere teure Hardwaremodule, um spezielle TK-Features zu realisieren, waren nicht erforderlich, "denn im Gegensatz zu einer traditionellen TK-Anlage werden bei der IP-Anlage diese Funktionen über Softwarelizenzen freigeschaltet", erklärt Höner. Über diese Softwarelizenzen können etwa die Aufzeichnungslänge der Voice-Boxen, die H.323-Unterstützung und Ähnliches aktiviert beziehungsweise erweitert werden.

Unabhängigkeit bei der KonfigurationNach zwei Wochen Testbetrieb, in denen Höner im Gegensatz zur früheren TK-Anlage alle Einstellungen selbst vornahm, wartete für die NBX 100 Anfang November die Bewährungsprobe im Alltag. Dabei klappte die Inbetriebnahme ohne besondere Vorkommnisse. Weder hatten die Bönener mit den von Skeptikern oft erwähnten Latency-Problemen zu kämpfen, noch bereitete die Quality of Services (QoS) generell Schwierigkeiten. Selbst eine Netzauslastung von 50 bis 60 Prozent, welche das IT-Team künstlich mit einem LAN-Analyzer generierte, zwang die IP-Telefonie nicht in die Knie. "Hier zahlte sich aus, dass wir damals unser Netz sauber segmentiert hatten", erklärt Höner. Im normalen Betrieb erreicht die Behörde selbst zur Hauptzeit nur eine Last von fünf bis sechs Prozent und hat so genügend Luft für den Telefonverkehr. Anderen IT-Verantwortlichen, die ebenfalls die Migration zur IP-Telefonie planen, rät der IT-Leiter, besonders die WAN-Verbindungen zu überprüfen, "denn bereits eine einzige langsame 64-Kbit/s-Verbindung führt schnell zu Störungen". Ein Problem, das in Bönen nicht auftrat, da die Außenstellen via Glasfaser mit der Zentrale verbunden sind.

Problemfall MulticastSchwierigkeiten bereitet dagegen ein anderer Punkt: Zwar war die Sprachqualität insgesamt auf ISDN-Niveau, doch Bürger, die aus dem Randgebiet von Bönen anriefen, hörten die Gesprächsteilnehmer teilweise schlecht. Meist handelte es sich dabei um Anrufer, die noch am alten, analogen Netz der Telekom hingen. In den Griff bekam die IT-Abteilung das Problem, indem sie die Ausgangsimpedanz der TK-Anlage höher einstellte.

Insgesamt schien also der Start in das Zeitalter der IP-Telefonie gelungen. Doch plötzliche Totalausfälle der Anlage stellten das DV-Team anfangs vor ein Rätsel. Als Auslöser der Störfälle entpuppte sich dann "Norton Ghost". Die Bönener verwenden das Programm zur Softwaredistribution für ihre Workstations via Netz. "Weil Norton Ghost wie die TK-Anlage IP-Multicast verwendet, geriet die Telefonie ins Stocken", erklärt Höner die Fehlerursache. Komplizierter verhielt es sich mit einer zweiten Störung, als die Anlage plötzlich unregelmäßig abstürzte. Des Übels Wurzel war dabei eine defekte Festplatte der NBX 100. Zwar bekam die Verwaltung schnell ein Austauschgerät gestellt, doch die Lieferung der entsprechenden Softwarelizenzen, um etwa die Aufzeichnungsdauer des Voicesystems von 30 Minuten auf vier Stunden zu erhöhen, zog sich über mehrere Wochen hin. Ein Support, der sich nicht mehr mit dem Eindruck deckte, den Höner ursprünglich auf der CeBIT gewonnen hatte. Ein möglicher Grund für die schleppende Unterstützung, so vermutet der IT-Leiter, könnten die internen Umstrukturierungsmaßnahmen bei 3Com sein, denn in einem drei viertel Jahr wechselten seine Ansprechpartner dreimal.

Trotz dieser schlechten Erfahrungen möchte der DV-Leiter die IP-Telefonie nicht mehr missen, denn auf der anderen Seite überwogen die Vorteile. So braucht ein Mitarbeiter etwa nur sein Telefon unter den Arm klemmen und in einem anderen Zimmer wieder ans Netz stöpseln, um weiterhin unter der gleichen Rufnummer erreichbar zu sein. "Überhaupt ist es begeisternd, was der Endbenutzer über einen Web-Browser alles selbst einstellen kann", lobt Höner den geringen Administrationsaufwand und die Möglichkeit, dem Endbenutzer ein personalisiertes Telefon bereitzustellen. Zudem konnte mit der neuen Anlage der Service für die Bürger verbessert werden, denn ein Auto-Attendent-Management leitet Gespräche, wenn die Telefonzentrale besetzt ist, automatisch weiter. Eine andere Option sind Telefonlisten für die Anrufer, die so die Durchwahl des Gesprächspartners erhalten. "Letztlich haben wir ein kleines Call-Center", fasst Höner zusammen.

Während die IP-Anlage auf der einen Seite eine Vielzahl von neuen Einsatzszenarien eröffnet, vermisst der IT-Manager auf der anderen Seite einige Funktionen klassischer TK-Anlagen. Für Features wie Rückruf bei "Besetzt" ist er auf die Services seines Carriers angewiesen. Anderes, was er vermisste, wie zum Beispiel den Chefsekretärinnen-Knopf, programmierte Höner in Eigenarbeit, "da die Anlage ein offenes System ist, konnten wir diese Funktion durch eine Änderung im Routing-Protokoll nachbilden".

Ansonsten trübten weitere Kleinigkeiten den positiven Gesamteindruck. So monierte Höner, dass 3Com die IP-Telefone auch in Deutschland nur mit englischer Beschriftung ausliefert, "dies fördert nicht unbedingt die Akzeptanz bei Mitarbeitern". Ebenfalls zu den Detailmängeln zählt der Umstand, dass die IP-Telefone nur Ethernet mit 10 Mbit/s unterstützen. "Würden sie 100 Mbit/s beherrschen, könnte ich über die integrierte Hub-Karte einen PC anschließen und hätte bei der Verkabelung pro Arbeitsplatz eine Leitung gespart", regt der DV-Leiter zur Verbesserung an.

Ungeachtet der offenen Wünsche und Detailmängel denkt der IT-Manager bereits an den nächsten Schritt: die Verknüpfung der IP-Telefone mit dem Workflow von Groupwise. Dann könnte etwa nach Identifizierung des Anrufers über die Rufnummer auf dem PC des Sachbearbeiters automatisch der betreffende Vorgang erscheinen. Womit IT-Leiter Höner seinem Ziel einer modernen und effizienten Verwaltung wieder ein Stück näher wäre.

Abb: Aufbau der LAN-Telefonie

Die Verwendung der IP-Telefonie im Netz erspart eine eigene Infrastruktur für die Telekommunikation. Über die gleichen Ethernet-Verbindungen werden sowohl Sprache als auch Daten transportiert. Quelle: Michael Höner