Selbstregulierung, Filtersysteme, Meinungsfreiheit und der Staat

Internet Content Summit: Zensur im Internet

17.09.1999
CW-Bericht, Wolfgang Terhörst Bertelsmann hatte gerufen - und alle sind gekommen. Wer beim Thema Web-Inhalte etwas zu sagen hat, folgte am vergangenen Wochenende der Einladung des Medienriesen nach München. Auf dem "Internet Content Summit 1999" diskutierten über 200 Experten aus 25 Nationen kontrovers über Zensur im Internet.

Je selbstverständlicher der Umgang mit dem Internet wird, desto häufiger nutzen auch Kriminelle und Extremisten das Web als Werkzeug für illegale Handlungen oder zur Verbreitung ihres Gedankenguts. Spektakuläre Fälle von Kinderpornografie, Mordaufrufen und Anleitungen zum Bombenbau führen in der Öffentlichkeit regelmäßig zu einem Aufschrei des Entsetzens. So verwerflich die Taten schon für sich genommen sind, sie gefährden zusätzlich das Vertrauen der Nutzer beziehungsweise ihrer Eltern in das World Wide Web. Genau darauf ist aber die Internet-Branche angewiesen - allen voran die Inhalteanbieter und Betreiber von E-Commerce. Staatliche Stellen sehen sich in steigendem Maße zum Handeln gezwungen und setzen die Industrie zusätzlich unter Druck.

Die Bertelsmann-Stiftung hat in dieser Diskussion die Initiative ergriffen und versucht gemeinsam mit einem internationalen Expertennetz, zu allgemeinen Richtlinien für die Bewertung und Filterung von Netzinhalten zu kommen. Sie sieht sich dabei als Mittler zwischen Politik, Wirtschaft und Verbrauchern. Auf dem Internet Content Summit in München präsentierte die Stiftung in Zusammenarbeit mit der Internet Content Rating Association (Icra) und der EU-Initiative Internet Content Rating for Europe (Incore) erstmals der Öffentlichkeit zwölf Thesen zur Zensur im Web.

Das Memorandum fußt auf den informellen Gesprächen im Expertennetzwerk sowie auf Gutachten von Wissenschaftlern der Universitäten Yale (USA), Oxford (Großbritannien), St. Gallen (Schweiz) und Würzburg. Die Verfasser legen sehr viel Wert auf Konsens und setzen in hohem Maße auf Selbstregulierungsinitiativen. Wenn aber ein solch komplexes Thema in zwölf knappen Thesen (siehe Kasten Seite 28: "Das Bertelsmann-Memorandum") zusammengefaßt wird, bleibt natürlich der Teufel im Detail stecken. Obwohl alle Teilnehmer die Bertelsmann-Initiative begrüßten und um eine gemeinsame Linie bemüht waren, gärte es doch unter der Oberfläche. Die Spannbreite der Meinungen reichte von "Tastet das Netz nicht an" bis zu "Der Staat muß es richten".

Ira Magaziner, bis Anfang dieses Jahres Berater des US-Präsidenten in Sachen Internet, gab die Marschroute in seiner Eröffnungsrede vor: alle Versuche, das Web zu zensieren oder ihm von einer zentralen Stelle aus Regeln zu verordnen, seien von vornherein zum Scheitern verurteilt. Magaziner forderte Selbstregulierung, wo immer es möglich sei. "Die Entwicklung ist zu schnell, als daß Regierungen das Heft in die Hand nehmen könnten. Ihre Entscheidungsstrukturen sind zu langsam und unflexibel. Sie sollten im Hintergrund bleiben, beobachten, lernen und Selbstregulierungsorganisationen unterstützen", so der Berater. Eingreifen sollten Regierungen nur dort, wo es unerläßlich sei, beispielsweise im Vertragsrecht. Staatliche Stellen sollten einheitliche Grundlagen schaffen, damit der Markt sich frei entwickeln könne. Magaziner lehnt eine internationale "Über-Organisation" ab und setzt auf viele spezialisierte Gruppen. Bundesinnenminister Otto Schily konzedierte in seiner Replik, daß der Staat sich in der Tat nicht für alles verantwortlich fühlen dürfe. Er betonte gleichwohl, daß das Internet kein rechtsfreier Raum sein dürfe in dem Sinne, daß die Beurteilung und eventuelle Bekämpfung problematischer Aktivitäten ganz in private Hände gelegt würde. "Filtersysteme dürfen nicht zu einem Alibi für Diensteanbieter werden, die Verantwortung für Inhalte auf die Nutzer abzuwälzen", so der Minister. Die Regierungen seien verpflichtet, die Rechte ihrer Bürger zu wahren - allein schon vom Gesichtspunkt der Glaubwürdigkeit her. OECD-Direktor Risaburo Nezu schlug in die gleiche Kerbe: die Anstrengungen von Bertelsmann in allen Ehren, fragte er provokant, "aber wer hat Sie eigentlich beauftragt, ein allgemeingültiges System zu entwickeln?"

Mark Wössner, Ex-Chef des deutschen Mediengiganten und jetzt Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, versuchte als Gastgeber, die Wogen zu glätten. Er stellte kurz die Thesen des Memorandums vor und betonte dann dessen Diskussioncharakter. Gleichzeitig legte er die Schwierigkeiten dar, ein flexibles, globales Selbstregulierungsnetzwerk zu etablieren, das unterschiedlichen kulturellen Empfindungen gerecht wird. Denn was beispielsweise in den USA als pornografisch empfunden wird, muß in Deutschland noch lange kein Problem sein. Umgekehrt reagieren die Deutschen wesentlich empfindlicher auf Extremismus aller Art als die Amerikaner. Eine Studie im Auftrag der Stiftung habe ergeben, so Wössner, daß auch die Nutzer sehr ambivalent seien: Einerseits glaubten 80 Prozent der Menschen daran, daß Selbstregulierung zum Erfolg führe, andererseits forderten die meisten eine stärkere Rolle des Staates.

Letzteres war das Stichwort für Gareth Grainger von der australischen Telekommunikationsbehörde ABA (Australian Broadcasting Authority). Er führte den Begriff der Co-Regulierung in die Diskussion ein - so verstanden, daß der Staat am Ende Lösungen für die Öffentlichkeit finden müsse. Australien beispielsweise verpflichte sämtliche Provider, sich an einem bestimmten Verhaltenskodex zu orientieren. In einer Umfrage habe er hohe Zustimmung für dieses Verfahren erhalten, so Grainger. Das ließ sich die "First Lady des Internet" und derzeitige Interimsvorsitzende der Domain-Organisation Icann (Internet Association of Assigned Names and Numbers), Esther Dyson, nicht zweimal sagen. Süffisant fragte sie Grainger, warum in der Erhebung die Frage gestrichen wurde, wer denn besser geeignet sei, Inhalte für Kinder auszuwählen - die Eltern oder die Regierung? Um gleich hinzuzufügen, daß es nicht Aufgabe von Regierungen sein kann und darf zu entscheiden, was die Menschen sehen dürften. Grainger erntete mit seiner Antwort, man habe eben aus Geldmangel bestimmte Fragen streichen müssen, Gelächter im Saal.

Dyson spielte ihre Rolle als Anwältin des freien Informationsflusses im Internet mit Bravour. Sie fragte mit Recht, wo denn die Grenzen für eventuelle Verbote zu ziehen seien. An das Publikum gewandt: "Halten Sie Lolita von Vladimir Nabokov für gute Literatur? Okay, würden Sie das Buch Ihrem 11jährigen Kind geben? Ihrem 18jährigen Kind?" Dyson setzt auf die Entwicklung von Filter-Tools und die Entscheidungsfreiheit der Anwender. Allerdings sollte es niemals eine zentrale Instanz geben, die ein Bewertungs- oder Filtervokabular entwickelt und vorschreibt - weder national noch global. Damit redete sie Organisationen wie der "Global Internet Liberty Campaign" das Wort, die befürchten, daß derartige Kataloge zur Unterdrückung von Meinungsfreiheit und Kontrolle der Web-Anwender führen könnten.

Jean-Francois Abramatic, Chairman des World Wide Web Consortium (W3C), nahm den Befürwortern von Filtersystemen mit einer knappen Bemerkung jede Illusion: Es sei ohnehin vollkommen unmöglich, Millionen von Netzinhalten sozusagen proaktiv zu sichten, zu bewerten und schließlich zu filtern. Außerdem stehe man erst am Anfang des Problems, da noch nicht mehr als zwei Prozent der Weltbevölkerung Zugang zum Internet hätten. Andere Redner wiesen zusätzlich auf den enormen Kostenaufwand für Provider hin, falls diese verpflichtet würden, Inhalte zu filtern. AOL-Senior-Vice-President George Vradenburg brachte mit einem sehr pragmatischen Drei-Punkte-Ansatz schließlich wieder Ordnung in die Debatte: erstens müßten Anwender durch Filter-Tools selbst in die Lage versetzt werden, zu entscheiden, zweitens müßten Eltern, Kinder und Verantwortliche besser geschult werden, und drittens müßte das Bewußtsein für die spezifischen Probleme des Internet bei den staatlichen Stellen geschärft werden.

Der Internet Content Summit und das Bertelsmann-Memorandum waren sicherlich ein wichtiger Schritt, um auf globaler Ebene Lösungen für ein brisantes Thema zu finden. Viele Fragen blieben naturgemäß offen, und die Veranstaltung hinterließ beim Beobachter das ungute Gefühl, hier werde über Regelungen nachgedacht, die der schnelllebige Internet-Markt sich längst selbst schaffe. Oder wie es ein beteiligter Industrieverteter scherzhaft formulierte: "Die Politiker tun so, als gäbe es ein Problem, und wir tun so als hätten wir die Lösung." Veranstaltungsleiter Jens Waltermann versprach dennoch zum Schluß, daß die Bertelsmann-Stiftung mit Nachdruck versuchen werde, handfeste Vorschläge zu erarbeiten. Etwas Hoffnung machte ihm ein IBM-Vertreter: Er glaube, daß sich das Problem unerwünschter Inhalte durch intelligente Software-Agenten schon bald von selbst erledigen werde.