Hörer für Funkanalyse Bayern am Telefon befragt

Infratest bewältigt Datenflut mit virtuellem Call-Center

16.04.1999
MÜNCHEN (sra) - Präzise Analysen über das Verhalten der Konsumenten gelten für die Entwicklung von Produkten sowie deren Vermarktung als A und O. Marktforscher wie Infratest haben deshalb ausgeklügelte Interviewmethoden entwickelt. Ihr technischer Schlüssel zu den Privathaushalten sind dabei Call-Center - im Fall von Infratest ein virtueller Verbund.

Jedem kann es passieren: Das Telefon läutet, und Infratest ist am Apparat. Die vor allem durch Wahlprognosen und Hochrechnungen bekannten Marktforscher befragen Menschen jedoch auch über ihre Radio- und Fernsehnutzung. Im Viertelstundentakt gehen sie mit dem Gesprächspartner den ganzen Tag durch und haken nach: "Was haben Sie um sechs Uhr gemacht? Haben Sie beim Aufstehen Radio gehört? Was haben Sie da gehört?"

Angaben über bevorzugte Programme helfen, die Zielgruppen einzugrenzen, und beeinflussen die Werbepreise der Sender. Auch die Bewertung der lokalen Fernseh- und Radiostationen spielt in der "Funkanalyse Bayern" eine Rolle. Es gibt rund dreißig verschiedene Hörfunksendegebiete im Freistaat, die sich auch überschneiden. Aufgabe von Infratest Burke ist es, in jeder dieser Regionen eine bestimmte Anzahl Hörer zu interviewen.

Papier und Bleistift haben ausgedient

Da die Überschneidungsgebiete zwischen den Anbietern separat ausgesteuert werden müssen, ergeben sich insgesamt 197 Teilgebiete, die bei der Planung zu berücksichtigen sind. Doch damit nicht genug: Die Radio- und Fernsehnutzung variiert je nach Wochentag. Demnach muß an jedem Tag einer Woche genau ein Siebtel der Befragungen stattfinden, damit sich eine repräsentative Aussage ergibt. Das erhöht die Anzahl der auszusteuernden Einheiten auf über 1000. Die Zahl der Interviews je Gebiet festzulegen sprengt folglich den Rahmen dessen, was sich mit Papier und Bleistift bewältigen läßt.

"Das muß man mit dem Computer steuern, und das tun wir", bekräftigt Matthias Thomae, Director New Projects bei Infratest Burke. Da ein einzelnes Call-Center mit manchen Marktforschungs-Projekten überfordert wäre, betreibt das Unternehmen vier sogenannte Cati-Studios in Berlin, Frankfurt am Main, Bielefeld und München (Cati = Computer Assisted Telephone Interviewing). Diese Telefonzentren sind über ISDN-Standleitungen verbunden und bilden zusammen ein virtuelles Call-Center.

An den einzelnen Standorten geben die Interviewer ihre erfragten Daten in eine Bildschirmmaske ein. Deswegen stehen die Predictive Dialer, die für den Wählvorgang zuständig sind, vor Ort. Die Steuerung der Auswahl erfolgt jedoch aufgrund ihrer Komplexität zentral in München. "Die Stichprobe noch einmal aufzusplitten wäre schlicht Wahnsinn", gibt Thomae zu bedenken. Dafür zuständig ist ein Sample Management System (SMS) von SPSS, das nebenbei auch die Terminverwaltung besorgt.

Da Infratest schon frühzeitig in die Call-Center-Technik einstieg, blieben dem Unternehmen Enttäuschungen nicht erspart. 1989 wurde IBM von den Marktforschern mit der Entwicklung eines Dialers beauftragt. Obwohl die Fertigstellung ein Jahr dauerte und einiges Geld verschlang, kam das Projekt zu keinem glücklichen Ende. Dem System mangelte es an Flexibilität und Schnelligkeit. "Wir hatten einen Hersteller ausgesucht, der viel von Computern versteht und wenig von Telefonie", erklärt Thomae den Fehlschlag aus heutiger Sicht.

Seitdem verwendet Infratest einen Server-basierten Dialer von Softek mit PC-Karten von Dialogic. Der Umstieg von analogen auf digitale ISDN-Karten verlief reibungslos. Nach der Vernetzung kam es jedoch vorübergehend zu Lastproblemen. Als Engpaß entpuppten sich die PCs, die daraufhin aufgerüstet wurden. Ein weiteres Problem, das gelöst werden konnte, betraf die Kommunikation zwischen dem SMS und den Dialern. Fiel nämlich ein Dialer aus, stand plötzlich alles still, denn das SMS versuchte weiterhin, mit dem defekten System in Verbindung zu treten.

Mittlerweile hat das Projekt die technischen Geburtswehen überstanden und ist reif für den Einsatz. Im Prinzip läuft eine Befragung wie die Funkanalyse Bayern folgendermaßen ab: Zuerst wählt ein Zufallsgenerator eine Telefonnummer. Dadurch lassen sich auch Personen erreichen, die nicht im Telefonbuch eingetragen sind. Dieser Vorgang läuft offline, um keine Verzögerung des Verbindungsaufbaus zu bewirken. "Die ersten Systeme haben den Interviewer erst nach zwei Sekunden verbunden", schildert Thomae, "da hatte der Gesprächspartner schon seinen Namen genannt." Inzwischen ist es gelungen, die Umkoppelzeiten auf maximal eine Zehntelsekunde zu senken.

Die generierte Telefonnummer wird dann an den Predictive Dialer weitergegeben. Dieser schaltet das Gespräch nur zu einem Interviewer durch, wenn der angerufene Haushalt das Telefonat entgegennimmt. Alle anderen Fälle filtert die Anlage aus. "Das einzige, was wir nicht wegschalten, sind Anrufbeantworter", stellt Thomae klar. In Tests hatte das System nämlich auch Menschen irrtümlicherweise als Anrufbeantworter identifiziert.

Ist die Verbindung zustande gekommen, gilt eine der ersten Fragen des Interviews dem Wohnort des Gesprächspartners, da die Vorwahl nicht immer genaue Rückschlüsse darauf zuläßt. Das SMS prüft, ob in diesem Gebiet die SollZahl an Befragungen schon erfüllt ist. Nur wenn dies nicht der Fall ist, wird das Interview fortgesetzt. Die Daten, die der Agent eingibt, speichert ebenfalls das SMS.

Während die Gespräche laufen, beobachtet ein Supervisor auf seinem Bildschirm verschiedene Kennzahlen. Oberste Priorität dürfte dabei die Wählrate (Dial rate) genießen. Eine Wählrate von 200 Prozent bedeutet, daß für jeden freien Interviewer gleich zwei Nummern angewählt werden. Die durchschnittliche Wartezeit eines Mitarbeiters auf ein Gespräch beträgt rund 14 Sekunden. Sollten beide Rufnummern zu einer Verbindung führen, landet einer der Angerufenen auf einem Anrufbeantworter mit einer Wartefeldansage.

Die Wählrate muß der Supervisor so einstellen, daß die Wartezeit der Agenten akzeptabel ist und trotzdem möglichst wenige Leute in die Warteschleife kommen. "Eine Person kann das besser austarieren als eine Maschine", findet Thomae. Ein Mensch erkenne, wann die Interviewer überlastet sind, und könne entsprechend darauf reagieren.

Für die Zukunft plant Infratest, Tonfunktionen in den Dialer zu integrieren. Dann könnte das Unternehmen Gespräche mitschneiden sowie Musik oder Werbespots abspielen, um sie beurteilen zu lassen. Das Mitschneiden offener Antworten setzt allerdings das Einverständnis der Zielperson voraus. Mit einer Spracherkennung für den Outbound-Verkehr wäre Infratest außerdem in der Lage, menschliche Interviewer teilweise zu ersetzen. Bisher greift die Firma hauptsächlich auf Studenten zurück.