Hohe Abbrecherzahl - Kritiker an den Hochschulen sammeln sich

Informatikstudium: Nur sicheren Job im Sinn

27.06.1986

MÜNCHEN - Informatik ist "in": Die deutschen Universitäten und Fachhochschulen klagen, die Studienrichtung Informatik stehe vor dem Kollaps, da sie mehr als überlaufen sei. Attraktive Bezahlung im zukünftigen Job, mannigfache Tätigkeitsbereiche und vielfältige berufliche Chancen locken nämlich seit Jahren wesentlich mehr Studenten an, als Kapazitäten an den 22 deutschen Unis mit Informatiklehrstühlen vorhanden sind.

Ist Informatik also zur Mode geworden? Mit statistischen Werten läßt sich diese naheliegende Annahme indes kaum belegen. "Man wird es wohl schon sagen müssen", formuliert Professor Dr. Hans-Jürgen Schneider am Lehrstuhl für Programmiersprachen der Universität Erlangen-Nürnberg und Vorsitzender des Prüfungsausschusses mit Blick auf den Absolventenandrang, "betrachtet man den Run auf die Informatik". Und die Überlast ist ebenso erheblich wie andauernd: Im Wintersemester 1985 suchten immerhin knapp 7000 Studenten um einen Informatikstudienplatz nach, weisen Zahlen der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) in Dortmund aus.

Jeder Bewerber hat eine verbriefte Studienplatzgarantie; gegen einen Numerus clausus (NC) steht wohl auch künftig das Argument der Bildungspolitiker: "Wir können nicht in einem zukunftsträchtigen Fach die Hochschulen dichtmachen." Tatsächlich vorhanden sind aber nur rund 2600 Studienplätze. Das Studium angetreten haben 1985 rund 4700 Informatik-Anfänger.

Zwar erhöhte sich die Bewerberzahl ab Wintersemester 1983/84 nicht, doch seitdem läuft das Faß über: Vor drei Jahren war ein deutlicher Anstieg von etwa 4000 auf 6600 Bewerber bei 2400 freien Plätzen und tatsächlichen 4400 Anfängern zu verbuchen. Seither ist das Verhältnis eines Überhangs von etwa 7000 Bewerbern, 4500 Anfängern und 2500 freien Plätzen gleichgeblieben.

"Modestudium" sei eine mißverständliche Bezeichnung, korrigiert Professor Dr. Peter Deusser von der Informatiksektion der Universität in Karlsruhe: "Informatik bleibt eine Grundlage vieler Anwendungswissenschaften, der Bedarf in der Wirtschaft ist nicht nur kurzfristig vorhanden."

Als Voraussetzungen seien aber Lust und Liebe an der naturwissenschaftlichen Denkweise wichtig, zudem die Fähigkeit, analysieren und abstrahieren zu können. Ein Kennzeichen der Informatik unterstreicht der Karlsruher Professor besonders, nämlich konstruktiv arbeiten zu wollen.

Seit mehreren Jahren beobachten indes die wissenschaftlichen Hochschulen hierzulande, daß viele Jungakademiker sich bei der Fachwahl ausschließlich von dem Wunsch nach einem sicheren Job leiten lassen. Ein signifikanter Anteil von ihnen hat wegen der arbeitsplatzorientierten Gesichtspunkte, so wird aufgrund von Beratungs- und Prüfungsgesprächen befürchtet, kein starkes Interesse an dem Fach selbst.

Gerade hier sehen die Dozenten jedoch den Haken für die Entwicklung des Studenten wie auch des Informatik-Studiums, so etwa der Informatikprofessor Hans-Peter Schneider. Oft werde seiner Meinung nach die Frage in den Hintergrund gedrängt, ob die persönlichen Voraussetzungen auch mit den Anforderungen dieser allgemein als "schwierig" eingestuften Fachrichtung übereinstimmen. Denn: "Auswendig Gelerntes reicht nicht aus, das Verständnis muß unabdingbar hinzukommen."

Abstraktes Denken und gute Kenntnisse in Mathematik gehören für Schneider bei einem erfolgreichen Studium der Informatik zusammen. Ohne fundiertes Mathematikwissen bringe man es eben häufig "nur" bis zum guten Programmierer, so der Professor aus Erlangen.

Doch nicht nur der Mangel ausschlaggebender persönlicher Qualitäten wie die Begabung für naturwissenschaftlich-mathematische Denkweisen und die Tendenz, präzise arbeiten zu können, führt zur hohen Abbrecherquote von um 50 Prozent in diesem jungen Studienzweig. Hier spiele zum einen eine Rolle, so Professor Deusser, daß die angehenden Akademiker häufig keine klaren Vorstellungen über den Fachinhalt sowie den künftigen Berufsalltag hätten.

Zum anderen, ergänzt Professorin Christiane Floyd von der Technischen Universität Berlin, werde das Grundstudium an allen Hochschulen stark methodenorientiert gehandhabt. Einseitig ausgelastet, zweifeln dann Studenten oft an sich selbst: "Ich habe eben nicht die richtige Art von Verstand für Informatik." Der Bezug zu einer möglichen Berufsperspektive bleibt gerade in den ersten Semestern häufig nur schwer erschließbar, stellt die Professorin an der TU fest.

Gerade die "Erfahrung einer erlebten geistig-seelischen Verarmung" lasse viele Kandidaten aussteigen. Dieses Problem stelle sich jedoch auch für nicht wenige im Berufsleben. Das Schicksal des Informatikers schlechthin dürfe es jedoch nicht sein: Vielmehr hätte sich der einzelne als Mensch zu begreifen, der zusammen mit anderen für andere Programme schreibe. Dies verlange in der Informatiklehre vor allem veränderte Schwerpunkte. Sie würden derzeit bereits zum Teil - und an den einzelnen Hochschulen unterschiedlich gewichtet - in die Lehre eingebracht; noch allerdings sei dies nicht die gängige Linie.

Neben solchen Voraussetzungen für den erfolgreichen Studienverlauf, wie starke Ausrichtung auf die Mathematik und dem Spaß am Programmieren, stellt Christiane Floyd vor allem die Neigung zum Durchhalten fest. Sie warnt indes: Der "NC" in anderen Disziplinen - etwa Medizin - führe nicht selten dazu, daß Studenten bei Informatik durchhielten, obwohl sie "innerlich vertrocknen".

Weder Hacker noch reine Mathematiker sind gefragt

Dabei seien weder Kandidaten mit "Hacker-Mentalität" noch ausschließlich mathematisch geprägte Studenten jene Spezies, die der Anwender für das Tagesgeschäft suche. Dort laute die Anforderung nämlich, reale Gegebenheiten mit Blick auf ihre Automatisierungsfähigkeiten und -würdigkeiten untersuchen zu können: Danach stehen Entscheidungshilfe und Unterstützung durch den Informatikexperten im Vordergrund.

Gerade Informatik-Curricula in der Schule könnten nach Ansicht der Berliner Hochschullehrerin Begabungen transparent machen. Sie sollten die Fähigkeiten wesentlich stärker als bisher nicht nur fach-, sondern auch berufsbezogen vorbereiten und verstärken.

Die Chancen, durch eine Anreicherung das Informatikstudium zu optimieren, sind groß, so die Professorin an der TU, und die Themen sind dazu weit gefächert - etwa die Vermittlung der Kommunikations- und Teamfähigkeit.

Denn mittlerweile gelten, postuliert Christiane Floyd, modifizierte Regeln bei den marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten in der Praxis für den Informatiker. Die herkömmlichen Spielregeln der Rationalisierung seien auf die Informatikanwendungen dagegen nicht übertragbar: "Geistige Arbeit und Kapazität lassen sich nicht kalkulieren wie Webstühle."

Die partnerschaftliche Veränderung von Arbeitsinhalten sei anzustreben: Vorhandene Gestaltungsspielräume, in denen man sich über Interessengegensätze verständigen könne, seien dazu zu nützen.