Industrialisierung schlägt Personalkosten

02.01.2012
Eine Verlagerung des SAP-Anwendungs-Managements in "Leading Cost Countries" birgt Risiken. Der Industrialisierungsansatz hat keine Nebenwirkungen - und funktioniert auch mit Offshoring.

Lange Jahre galt die Devise, dass sich SAP-Offshoring vor allem bei größeren Vorhaben schnell auszahlt. Denn die Stundensätze in Billiglohnländern betragen häufig nur einen Bruchteil der deutschen Honorare für SAP-Consultants. Durch diesen Vorteil werden, so besagt die Ratio, Set-up-Kosten, Reibungsverluste durch unterschiedliche Zeitzonen und kulturelle Unterschiede sowie die damit einhergehenden Ineffizienzen überkompensiert. Das Management, die Entwicklung und das Customizing von SAP-Anwendungen, kurz: das SAP-Application-Management, ist deshalb einer der Klassiker des Offshorings.

Die Europäer haben aufgeholt

Aber die Zeiten haben sich geändert. Europäische Anbieter holen auf, indem sie ihre Application-Management-Prozesse industrialisieren, beispielsweise durch Automatisierung des Change-, Release- und Transport-Managements (CR&T). Schritt für Schritt verringern sie so den Kostenrückstand gegenüber der Konkurrenz aus fernen Ländern. Das setzt wiederum die Offshoring-Spezialisten unter Druck.

In einer zunehmend arbeitsteiligen Welt verlagern sich die Produktivitätspotenziale: Entscheidend sind nicht mehr allein die Effizienz und Effektivität der Entwicklung, sondern zunehmend auch die der adminis-trativen Prozesse. Sie können bis zu 40 Prozent der Tätigkeit eines Softwareentwicklers ausmachen. Eine Studie der Bell Labs geht von einem 32-prozentigen Anteil an "arbeitsbezogener Kommunikation" aus. Nach Untersuchungen von Tom De Marco und Timothy Lister beträgt der Anteil ungestörter Arbeit im Verhältnis zur Anwesenheit des Entwicklers lediglich 40 Prozent. Und Herwig Mayr, Professor an der Fakultät für Informatik der FH Hagenberg, beziffert den Management-Overhead bei Projekten auf 20 bis 40 Prozent.

Was ist CR&T-Management?

Beim CR&T-Management gilt es, Benutzeranforderungen an das SAP-System zu bewerten, zu priorisieren, den Aufwand abzuschätzen, ihn in eine IT-Anforderung umzuwandeln und diese an die richtigen SAP-Berater zu verteilen. Unterschiedliche Änderungen ("Changes") sollten dabei in "Releases" gebündelt werden.

Darüber hinaus sind Änderungen in verschiedenen Testphasen zu validieren, um sie dann richtig, vollständig und termingerecht vom SAP-Entwicklungssystem erst in das Test- und dann in das Produktivsystem zu überführen. Je nach Fehleranfälligkeit kann der gesamte Prozess mehrere Iterationen zwischen Entwicklungsteam und Fachabteilung oder Kunde durchlaufen.

Wenig Ausbildung, viel Fluktuation

Die Industrialisierung des CR&T-Managements ist also eine Chance, den etwa 30-prozentigen administrativen Overhead zu verringern und die Produktivität zu erhöhen. Das Ziel orientiert sich an der Automobilproduktion: weg von der "Manufaktur", hin zur Entwicklung auf Basis eines flexiblen, getakteten "Fließbands".

In Europa ist diese SAP-Industrialisierung aufgrund der hohen Lohnkosten längst ein wichtiges Thema. Doch auch für die Offshore-Aktivitäten steht die Automatisierung an oberster Stelle, wenngleich aus anderen Gründen: Der vergleichsweise niedrige Ausbildungsstand der SAP-Consultants und die relativ hohe Fluktuation verringern die Lohnkostenvorteile deutlich. In den Leading Cost Countries ist es deshalb essenziell, die SAP-Entwickler in einem speziellen Arbeitsgebiet schnell und ohne großen Overhead auf Geschwindigkeit zu bringen.

Tibor Piroth, CEO von Siemens IT Solutions and Services (SIS) Thailand, hat das vor vier Jahren erfahren. "Das Mengengerüst der von uns durchgeschleusten SAP-Änderungen war manuell nur noch mit überproportionalem Aufwand zu handhaben", erläutert er: "Wir haben zu viel Zeit in nicht produktive Tätigkeiten gesteckt."

Vorbild Automobilindustrie

Die osteuropäische Automobilindustrie hat in den vergangenen zehn Jahren Kosten und Qualität ihrer Werke auf den Operational-Excellence-Methoden und Lean-Management-Prinzipien des "Toyota Production Systems" aufgesetzt. Analog dazu hat SIS Thailand zunächst eine Wertstromanalyse vorgenommen und dann ein Operational-Excellence-Programm für das SAP-CR&T-Management ins Leben gerufen.

Um die in Frage kommenden Anbieter zu evaluieren, erstellte der Dienstleister eine Checkliste für die Anforderungen an ein effizientes und effektives CR&T-Management. Dazu zählten übergeordnete Management-Ziele wie

  • durchgängige Automatisierung des gesamten CR&T-Management-Prozesses ohne Medienbrüche;

  • Null-Fehler-Ziel; KPI ist die Anzahl "logisch" unvollständiger Change-Requests;

  • Reduzierung ungeplanter Downtimes bis auf null;

  • Revisions- und Compliance-Sicherheit gegenüber Governance-Regeln sowie Regularien und Wirtschaftsprüfern;

  • Reduzierung von Prozess-Overhead im zweistelligen Prozentbereich sowie

  • hundertprozentige Erfüllung der Service-Level-Agreements (SLAs) ohne durch Softwarefehler verursachte Downtimes.

  • Hinzu kamen die funktionalen CR&T-Ziele:

  • Anpassung der CR&T-Lösung durch einfaches Customizing an die abgenommenen und zertifizierten Standardprozesse;

  • Implementierung von transparenten, automatisierten Prozessen für das Change-, Release- und Transport-Management;

  • automatisierte Einbindung von SAP-Testwerkzeugen in den IT-Workflow;

  • revisionssichere Archivierung der Change-Requests und Releases;

  • durchgängige Automatisierung von Transportverwaltung und -abläufen über den gesamten Software-Änderungsprozess;

  • Integration mit vorhandenen Change-Management- und Helpdesk-Systemen;

  • umfangreiches Reporting per Knopfdruck auf vielen Management-Ebenen sowie

  • bidirektionale Prozessintegration mit den unternehmensweiten Change-Management- und Ticket-/Helpdesk-Systemen durch ein leistungsfähiges API.

Auf Basis der Standardlösung "Conigma" von der Galileo Group AG entstand schließlich ein "Softwarefließband" für SAP-Änderung und -Pflege.

Value-Stream-Analyse und -Design

SIS Thailand orientierte sich an erprobten Operational-Excellence-Methoden wie der Value-Stream-Analyse (VSA) und dem Value-Stream-Design (VSD). Im Rahmen der SAP-CR&T-Analyse wurde der Wertstrom aus Entwicklung und Customizing in vier Hauptblöcke unterteilt - Change-Management, Implementierung, Testing und Transport-Handling - sowie in Aufgabenschritte zerlegt. Mittels Zeitanalysen und MTM-/Refa-analogen Methoden skizzierte SIS Thailand einen Ist-Wertstrom. Und auf der Basis von Best Practices wurde ein Soll-Wertstrom umrissen. Eine optimale Taktung der Abläufe zielte darauf ab, Geschwindigkeit mit gleichbleibend hoher Output-Qualität zu verbinden.

Die aus Wertstromanalyse und -design gewonnenen Erkenntnisse wurden mit dem existierenden Service-Desk umgesetzt. Dabei handelte es sich um eine Lösung für Change-Request- und Incident-Verwaltung sowie Kundenkommunikation, die SIS Thailand auf Basis des SAP-Support-Line-Feedbacks und des SAP-Customer-Service erstellt hatte. Das CR&T-Tool wurde so angepasst, dass es den Zielwertstrom abbildete.

Think global, start local

Aus früheren CR&T-Vorhaben hatte SIS Thailand gelernt: "Think global, start local". Nach einer Pilotierungsphase wurden Struktur und Funktionen des Systems im PDCA-Zyklus (Plan - Do - Check - Act) nachgeschärft. Beispielsweise änderte das Team die Hierarchiestrukturen für Change-Requests, um die großen Datenmengen besser handhaben zu können. Zudem wurden rollenspezifische Status-Views für die Change-Requests eingeführt. Eine automatisierte Re-Paketierung sollte das Laufzeitverhalten beim Produktivimport verbessern. Schließlich wurde der Zielwertstrom für alle 400 SAP-Professionals verbindlich.

Das ging nicht ganz ohne Reibung ab. Dazu Piroth: "Wir hatten schon vorher einen ausgefeilten und dokumentierten IT-Prozess, der auch von unseren Teamleitern unterschrieben war. Im Rahmen der Werkzeugeinführung haben wir festgestellt, dass dieser Prozess nicht immer so gelebt wurde wie vereinbart. Ein Werkzeug stellt aber die Prozesseinhaltung sicher. Deshalb mussten wir wechselseitig nachsteuern."

Die Erfolge können sich sehen lassen: Die Prozesszeiten und damit die administrativen Kosten für jeden der 15.000 Change-Requests im Jahr ließen sich im zweistelligen Prozentbereich reduzieren. Im Projekt-Investitionszyklus waren Einsparungen im siebenstelligen Euro-Bereich möglich. Und trotz gesunkener Kosten stieg die Qualität zum Kunden hin. "Zudem finden sich neue Mitarbeiter wesentlich schneller in unsere IT-Prozessstandards ein", ergänzt Piroth.

Rückblickend ist SIS-Thailand-Geschäftsführer Piroth froh, frühzeitig auf Produktivitätspotenziale gesetzt zu haben. Als er vor fünf Jahren begonnen habe, den Kreislauf der immer noch günstigeren Stundensätzen zu durchbrechen, sei er noch belächelt worden. Heute bilde der "kontinuierliche Verbesserungsprozess in Sachen Automatisierung" einen echten Vorteil angesichts der auch in Asien steigenden Löhne. (qua)

Malte Klassen ist CEO der Galileo Group AG in München.

Lessons learned

CR&T-Management muss als "Operational-Excellence"-Projekt begriffen werden. Eprobte Methoden aus Lean Management und Six Sigma sind gut auf CR&T-Projekte übertragbar.

Wie bei jedem Automatisierungsvorhaben müssen alle IT-Manager geschlossen hinter dem Projekt stehen.

Ebenso wichtig ist das "Buy-in" der Mitarbeiter. Den bei Automatisierungs- und Rationalisierungsvorhaben üblichen Zweifeln und Ängsten lässt sich a priori durch Überzeugungsarbeit begegnen.

Value Stream Analysis und Value Stream Design sind die Schlüssel zum Erfolg. Eine detaillierte Prozessanalyse mittels Standardmethoden und ein klares Prozess-Design-Zielbild sind Voraussetzungen, um die Ratio-Potenziale heben zu können.

KPIs sind a priori zu definieren - und a posteriori zu managen. Eine stringente Zielvorgabe wie "Null Fehler" oder "Six Sigma" hilft, sich auf die wesentlichen Wertetreiber zu konzentrieren.

Form follows Function. Das Tool-Reengineering sollte auch Anlass für ein Prozess-Engineering sein.