MIT-Professor: Flexible Netzwerke dominieren die neue Arbeitswelt

Im Unternehmen der Zukunft arbeiten zehn Mitarbeiter

08.11.1996

"Topsytail weist den Weg in die Zukunft. Mit nur drei festangestellten Mitarbeitern erwirtschaftet das amerikanische Unternehmen für Haarschneidemaschinen einen jährlichen Umsatz von 80 Millionen US-Dollar", erklärte Mallone, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), USA, in seinem Vortrag "Kleine Unternehmen und große Netzwerke" auf dem von Lotus, dem ZDF und der "Süddeutschen Zeitung" im Frankfurter Palmengarten veranstalteten "Forum Treffpunkt Arbeit".

Mallone entwarf ein futuristisches Szenario, in dem die heutigen organisatorischen und geografischen Grenzen angesichts potentiell weltweiter flexibler Netzwerke keine Rolle mehr spielen: "Nationale Regierungen werden dann eigentlich nicht mehr gebraucht."

Die Unternehmen der Zukunft werden Mallone zufolge nur noch einen bis maximal zehn ständige Mitarbeiter haben, die zeitlich begrenzt für eine bestimmte Produktion zusammenarbeiten und dann wieder auseinandergehen. Die nicht in den Koordinationsbereich fallenden Produktionsabläufe werden als Aufträge an unabhängige Unternehmen und Freiberufler, "freelancer", vergeben. Topsytail arbeitet auf diese Weise mit über 20 outgesourcten, ehemals festangestellten Mitarbeitern zusammen. Dies sind unter anderen die Werkzeugmacher, Verpackungsdesigner, Mailing-Experten und Handelsvertreter.

Eine funktional eingerichtete Wohnung oder ein Hotelzimmer reichten als moderner Arbeitsplatz völlig aus, so Mallone. Unabhängige Berater werden in diesem Zukunftsbild für die Systematik und Koordination verantwortlich sein. Outgesourcte Dienstleistungsunternehmen übernehmen die vertragliche Anbindung der freien Mitarbeiter, ähnlich wie bei einer Filmproduktion, bei der nur befristete Verträge für den Regisseur, die Kameraleute und die Schauspieler abgeschlossen werden.

Vorteile dieser "Entmassung" der Gesellschaft seien enorme Flexibilität und schnelle Anpassung an die Bedürfnisse des Marktes sowie geringerer Kapitaleinsatz bei der Entwicklung neuer Strategien. Die immer wirksamere Informationstechnologie mache Kommunikation preiswerter. Die persönliche Autonomie der Mitarbeiter werde gefördert, da sie sich ihre Projekte und Arbeitsstunden selbst aussuchen und einteilen könnten. So stellt zum Beispiel Teltec, ein Netzwerk aus freiberuflichen Experten in Minneapolis, Anwälte zur Verfügung, die rund um die Uhr Fragen beantworten und Fachleute aus Forschungsinstituten für Projekte an die Industrie weitervermitteln.

Die Probleme dieser neuen Arbeitswelt sieht der MIT-Angestellte im erhöhten Leistungsdruck, in der Vereinsamung und dem Zugehörigkeitsverlust der nicht mehr kontinuierlich an einen Betrieb Gebundenen. Dazu kommen die mangelnde finanzielle Absicherung der Freiberufler und ihre fehlenden Weiterbildungsmöglichkeiten. Mit der Schaffung neuer sozialer Netzwerke ähnlich den mittelalterlichen Gilden will Mallone diese Probleme lösen.

Solche Berufsvereinigungen würden gegen Mitgliedsbeiträge nicht nur eine Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung gewährleisten, sondern auch Weiterbildungsprogramme anbieten. Großunternehmen müßten sich neu fragen, wie sie die Bedürfnisse des Marktes befriedigen können, Gewerkschaften müßten mehr als bisher ihren Mitgliedern helfen, ohne Festanstellung ökonomisch produktiv zu sein.

Nicht alle Teilnehmer des Frankfurter Treffens fanden Gefallen an Mallones Vorstellungen. Diskutiert wurde, ob das (Arbeits-)Leben in einem Netz von Experten, die über "multimediale Internet-Workstations" miteinander verbunden sind, die Menschen nicht überfordert. Die fehlende Beschäftigungssicherheit und finanzielle Existenzängste könnten sich auf die Loyalität der Mitarbeiter gegenüber der Unternehmensführung auswirken. Das gesamte Netz könnte durch Fehlverhal-ten einzelner Beteiligter in Mitleidenschaft gezogen werden. Und grundsätzlich: Warum können Unternehmen mit ihren und für ihre Mitarbeiter nicht auf der Grundlage bewährter Strukturen den Weg ins 21. Jahrhundert gehen, begleitet von Dienstleistungen aus Inter- und Intranet?

Lernen und Wissen neu definieren

Doch egal, unter welchen Grundvoraussetzungen sich der Wandel vollzieht, der Übergang von einer "belehrten" zu einer "lernenden Gesellschaft" ist unverzichtbar. Man müsse Lernen und Wissen neu definieren, brachte Manfed Broy, Ordinarius für Informatik an der Technischen Universität München, das Problem auf den Punkt. "Es ist wohl symptomatisch, daß in der europäischen Wissenschaftskultur tendenziell der Analyse und der Erkenntnis der höchste Rang gegeben wird, während in den USA höher bewertet wird, Erkenntnis zur Wirkung zu bringen", so Broy. Schule und Hochschule sollten sich darauf besinnen, daß Wissenschaft "aktives Erschließen von Inhalten" bedeute. Über Kenntnis-se und Grundfertigkeiten hinaus müsse gelehrt werden, wie in konkreten Situationen Fähigkeiten entwickelt werden können, um die anfallenden Probleme zu lösen.

*Veronika Renkes ist freie Journalistin in Bonn.