IFIP '94: Telematikdienste und Umwelt-Informatik Information-Highways fuehren zu den Regenwaeldern Suedamerikas CW-Bericht, Gerhard Holzwart

09.09.1994

HAMBURG - Die digitale Informationsgesellschaft sucht derzeit nicht nur noch ihre Anwender, sondern auch verstaerkt ihre Rechtfertigung durch Beruecksichtigung gesellschaftspolitischer Aspekte. Neben dem Problem des Datenschutzes und einer drohenden Zweiteilung der Gesellschaft in Wissende und Nichtwissende geht es dabei mehr und mehr auch um Umweltfragen. Als eine der Hauptaufgaben zukunftsorientierter Informatik gilt daher auch die Entwicklung ressourcenschonender Anwendungen.

Das Aufgebot prominenter Namen bei der Eroeffnung des 13. Weltcomputerkongresses IFIP A94 war beachtlich - und auch die Themen der Veranstaltung, die seit 32 Jahren erstmals wieder in der Bundesrepublik stattfand, haetten populaerer nicht sein koennen: soziale Apekte von IT- und Kommunikationstechnologien sowie der anwendungsbezogene Einsatz moderner Informatiksysteme. Die digitalen Datenautobahnen duerfen jedenfalls nach Ansicht von immer mehr Informatik-Experten nicht nur 500 Fernsehprogramme ins Wohnzimmer der Konsumenten bringen, sondern sind auch als Instrument einzusetzen, um den drohenden globalen Umweltkatastrophen zu begegnen.

Dazu muessen die Information-Highways jedoch erst noch errichtet und mit entsprechenden Anwendungen ausgestattet werden, und auf dem Weg dorthin gilt es, vor allem in Europa endlich die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. "Es gibt keinen europaeischen Sonderweg in die Informationsgesellschaft", machte EU-Kommissar Martin Bangemann den versammelten Software- Spezialisten die globale Dimension dieser Aufgabe deutlich. Gleichzeitig stehe man aber, so das fuer gewerbliche Wirtschaft und Telekommunikation zustaendige Mitglied der Bruesseler Kommission, auf dem Alten Kontinent vor der Kernfrage, ob "zukuenftige Technologien ueber uns hereinbrechen oder ob wir vorhandene Gestaltungsspielraeume nutzen".

Bangemann skizzierte den in seinem Verantwortungsbereich entworfenen Aktionsplan der EU, der - Ende September dem Ministerrat zur Abstimmung vorliegend - Europas Weg in die Information Society vorzeichnen soll. Dabei gehe es, wie Bangemann betonte, um drei wesentliche Punkte: Die Bewertung der Telekommunikation als in Zukunft mit Abstand wichtigster Wettbewerbsfaktor, die Abschaffung aller noch vorhandener Monopole sowie eine mehr anwendungsorientierte Forschungspolitik. "Multimedia bedeutet nicht nur Teleshopping und Video

on demand, sondern vor allem auch Telelearning und Teleworking", spannte der deutsche EU-Kommissar den Bogen zur Bedeutung kuenftiger Telematikdienste.

Die deutsche Industrie jedenfalls ist durchaus bereit, die Herausforderungen, die in dem Bangemann-Papier zum Ausdruck kommen, anzunehmen. Gleichzeitig fordert sie jedoch, wie BDI- Praesident Tyll Necker vor den Kongressteilnehmern unmissverstaendlich klarstellte, mehr denn je einen mit den USA vergleichbaren gesellschaftlichen Konsens fuer den Aufbruch in das neue Informationszeitalter - sprich: in die neuen Wachstumsmaerkte. Die wirtschaftlichen und kulturellen Auswirkungen einer solchen Aufbruchsstimmung koennten, so Necker, gar nicht hoch genug eingeschaetzt werden. Geschehe dies nicht, laufe Europa Gefahr, "endgueltig den Anschluss zu verlieren".

Welche Rolle dabei der Informatik respektive der Software- Industrie zufaellt, machte der Vorstandsvorsitzende der Siemens AG, Heinrich von Pierer, deutlich. Der Muenchner Elektronikriese generiert mittlerweile, wie von Pierer aus dem Naehkaestchen plauderte, gut 50 Prozent seines Umsatzes mit Produkten, fuer die der Einsatz von Software "von grundsaetzlicher Bedeutung ist". Gleichzeitig sei mehr als die Haelfte der eigenen Forschungs- und Entwicklungsmannschaft im Software-Bereich taetig.

Wolle man sich an den lukrativen Zukunftsmaerkten orientieren, sei, so der Siemens-Chef, mehr denn je Systemkompetenz gefragt. Komplexe Infrastrukturprojekte im Verkehrs- oder TK-Sektor, Diagnosesysteme in der Medizintechnik oder moderne Kraftwerkleit- und Verbundtechniken lebten von der Integration verschiedenster Kompetenzen, Mikroelektronik und Software stuenden dabei "haeufig im Mittelpunkt".

Mehr denn je hadert man in Europa aber auch, wie in Hamburg deutlich wurde, ueber mangelnde Schnittstellen zwischen Forschung, Industrie und Politik. Die deutsche wie auch europaeische Softwarebranche untermauert, wie selbst Insider zugeben, zudem nachhaltig ihren Ruf, in der Grundlagenforschung - etwa im Bereich objektorientierter Datenbanken - weltweit fuehrend zu sein, waehrend man, was die Umsetzung in marktfaehige Produkte angeht, das Feld praktisch der US-Konkurrenz ueberlaesst. "Wir werden oft zu wenig gefragt", bestaetigte Kongressleiter Wilfried Brauer, Professor an der Technischen Universitaet Muenchen, die unzureichende Kommunikation zwischen den staatlichen Forschungseinrichtungen und den Labors der Hersteller.

Einig sind sich Industrie und Wissenschaft indes in ihrer Forderung nach mehr privaten wie oeffentlichen Forschungsgeldern. Dies um so mehr, da die zukuenftige Tragweite des Begriffes "Umwelt-Informatik" nach Ansicht von Franz Josef Radermacher, Professor am Ulmer Institut fuer anwendungsorientierte Wissensverarbeitung (FAW), gar nicht hoch genug eingeschaetzt werden koenne.

Bytes sollen anstelle von Menschen auf Reise gehen

Hier werde man es, so der Ulmer Wissenschaftler, schon sehr bald mit Anwendungsszenarien zu tun haben, in denen globale Umweltprobleme, beispielsweise das Abholzen der Regenwaelder, ein "weltweites Monitoring auf Basis entsprechender Netzinfrastrukturen" notwendig mache. Der eigentliche mit den Datenautobahnen zu verknuepfende Hoffnungsschimmer sei die Perspektive, dass kuenftig "weniger Menschen und dafuer um so mehr Bytes auf Reisen gehen".

Dass daraus letztlich nicht eine verspaetete Reise ins Orwellsche Zeitalter wird, war eine der Botschaften, die Bundespraesident Roman Herzog bei seinem Grusswort der versammelten Informatiker- Schar ins Stammbuch schrieb. Herzog, dessen Anwesenheit allgemein als Signal fuer eine deutlich zugenommene Sensibiltaet der Bonner Politik Themen dieser Art gegenueber gewertet wurde, konfrontierte das Auditorium unverbluemt mit Erwartungen, die er als Staatsoberhaupt an die Informatik habe: "Je schneller ihr Potential zum Transport und zur Vermittlung von Informationen waechst, desto groesser wird die Verantwortung fuer den Inhalt des vermittelten Information und die zu erwartenden Reaktionen der Benutzer." Wuenschenswert seien schliesslich, so der Bundespraesident, "kreative Nutzer der Telematik, nicht bloss passive Konsumenten der Multimedia-Welt".