IBMs MVS: Ein Zombie?

18.11.1983

Noch nicht lange her, da hatte die IBM den dyadischen Prozessorkomplex 3081 K mit 370-XA (Extended Architecture) unter dem Betriebssystem MVS (Multiple Virtual Storage) als Overhead-Killer präsentiert. In der /370-Architektur waren Großsystem-Anwender bekanntlich starken Zwängen ("Constraints" im IBM-Jargon) ausgesetzt: Bei maximal 16 MB Realspeicher und einem Kanalkonzept ohne eigenständige Ein-/Ausgabe-Prozessoren stellte sich "Parkinsonsche Agonie" ein - nichts ging mehr.

Nun scheint selbst "Quadrophonie", wie beim High-End-Modell 3084 Q, nicht mehr alle Performance-Fragen zu beantworten, ist der Zweifel der Benutzer an einer echten Durchsatzsteigerung geblieben (CW Nr. 35 vom 26. August 1983: "XA-Voraussetzung bremst IBM-3084 Q-lnteresse").

Dabei gehören die neuen XA-Fazilitäten hardwaretechnisch zum Allerfeinsten, was Big Blue zu bieten hat: direkt adressierbarer Realspeicher bis zwei Gigabytes, dynamisches Kanal-Subsystem, bis zu vier Prozessoren. Nur um zu verdeutlichen, wie groß zwei Gigabytes sind: Ein "normaler" Programmierer hätte einen Arbeitsaufwand von 143 000 Jahren "in Worten: einhundertdreiundvierzigtausend), um ein so umfassendes Programm zu schreiben (IBM-Aussage). Und doch scheint die neue Hardware-Konzeption viele Großrechnerprofis nicht überzeugt zu haben, daß das Problem des zu hohen Systemaufwands nun endgültig ausgestanden sei. Zu einer Kurskorrektur gehören eben nicht nur einige noch so ausgeklügelte Designtricks.

Einer "Schizophrenie" verdanken es die IBM-Großsystemanwender, daß sie zwar ihre alten Programme auf den neuen Maschinen fahren, deren volle Leistung jedoch nicht nutzen können: Essential der IBM-Großrechner-Politik ist nämlich, Kompatibilität zur 360/370 zu gewährleisten, bei XA erreicht durch Bimodal-Operation, Koexistenz von alten und neuen Anwendungen.

Der bisherige Maßstab ist eben de facto weithin, daß die Investitionen der IBM-Kunden in die Software auch bei einem Systemwechsel geschützt bleiben. Zum Punkt "Ease of Migration" ist relevant, daß viele IBM-lnstallationen von MVS unterstützt werden. Sehr schön, werden manche sagen, daß wir unsere /370-Programme ohne Änderungen auf XA-Maschinen übernehmen können.

Man soll jedoch nicht übersehen, daß dies mit einigen gravierenden Nachteilen erkauft wird: Um zwei Systeme in einem abbilden zu können, ohne Emulation oder Simulation, mußte der 308X-Hersteller im MVS schon erhebliche Klimmzüge machen. Da liegt mittlerweile kein Baustein, kein Modul mehr auf dem anderen. Das Betriebssystem wurde laut IBM bereits dreimal total umgeschrieben und umfaßt heute, in der XA-Version, mehrere Millionen Lines of Code: ein Dinosaurier, ein DV-Urzeit-Monstrum, durch komplizierte Operationen vermeintlich am Leben erhalten - kurz: ein "Zombie", ein wandelnder Leichnam.

Als ein eng mit der Hardware verheiratetes Betriebssystem (tightly coupled) schafft MVS langfristige Abhängigkeiten - für die IBM wie für die Anwender. Selbst XA, das ja erst implementiert werden muß, löst das generelle Throughput-Problem nicht, daß nämlich Personal Computing, LANs, Bildschirmtext etc. enorme Kommunikationsanforderungen an moderne Großrechner stellen. Mit XA glaubt IBM gleichwohl auf dem richtigen Weg zu sein. Es könnte eine Sackgasse sein.