Hochschulen präsentieren sich als Wegweiser und Know-how-Vermittler in der Informationsgesellschaft:\ Auch Geisteswissenschaften akzeptieren Computer

14.08.1987

BERLIN - Durchaus selbstbewußt traten heuer auf dem Wissenschaftskongreß der IBM in Berlin sowohl Geistes- als auch Wirtschaftswissenschaftler gegenüber den Kerninformatikern auf. Die Probleme der Anwendung wollen die Vertreter dieser bisher in Hinblick auf den Computer noch wenig emanzipierten Disziplin offenbar inzwischen selbst lösen und den Rest "an die Technik" delegieren.

Das fast zu üppige Menü der angebotenen Informationsmöglichkeiten listete für die 2000 Teilnehmer 60 Fachvorträge, rund 100 Demonstrationen - erwartungsgemäß vorwiegend auf IBM-Hardware - und fünf Kolloquien auf.

Unter dem gemeinsamen Nenner "Informationsverarbeitung für Lehre und Forschung" liefen teilweise bis zu sieben Parallelveranstaltungen, was die Auswahl entsprechend schwermachte. Auch dem Eifrigsten auf dem Berliner Parkett gelang es nur, maximal 15 Vorträge zu besuchen und in den Pausen an der einen oder anderen Vorführung teilzunehmen.

Zum Eröffnungsredner hatte sich die IBM den Bundeswirtschaftsminister gewünscht, gekommen war sein Staatssekretär Dr. Eberhard Böhning, der eine nachdenklich stimmende Rede über die Rolle der Hochschulen in der Informatiosnsgesellschaft hielt.

Da Information das bestimmende Element für das technische, politische, wirtschaftliche und geistige Leben unserer Gesellschaft ist, stehen nach Böning Hochschule und Informationsgesellschaft in einem Netz engster Beziehungen. Die Hochschulen müssen die Chance, besondere Kompetenz , für wissenschaftliches Arbeiten zu entwickeln, heute einer viel größeren Anzahl von Menschen geben als früher.

"Das Offenhalten der Hochschule für alle Fähigen ist daher eine unmittelbare politische Folge oder auch Voraussetzung einer demokratisch strukturierten, einer freiheitlichen Informationsgesellschaft. " Der Zugang, die Weiterentwicklung und die Verbreitung des Wissens wird in nahezu allen Disziplinen von den Instrumenten der Informationswissenschaften bestimmt. Die Anstöße, die vom Computer und den von ihm ausgelösten nicht nur technischen, sondern auch geistigen Prozessen ausgehen, erfordern nach Böning eine unmittelbare Konsequenz: "Die Hochschulen werden allen Studenten den Zugang zur neuen Informationsvielfalt und den zu ihrer Bewältigung erforderlichen Techniken erschließen müssen. "

Im Kongreßprogramm kristallisierten sich drei Hauptschwerpunkte heraus: die Bereiche Natur- und Ingenieurwissenschaften mit einem leichten Übergewicht der Ingenieursprobleme sowie Wirtschaftswissenschaften und Geisteswissenschaften. Daneben wurden Themen behandelt, die für alle gleichermaßen wichtig sind, wie Expertensysteme, Datenbanken oder Kommunikationsnetze. Dieses Spektrum spiegelte sich auch in den praktischen Vorführungen wider. Da Computeranwen-

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"Das Offenhalten der Hochschule für alle Fähigen ist daher eine unmittelbare politische Folge oder auch Voraussetzung einer demokratisch strukturierten, einer freiheitlichen Informationsgesellschaft. "

------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ dungen in den Natur- und Ingenieurswissenschaften seit jeher einen breiteren Platz in Publikationen einnehmen, seien aus Berlin die Bereiche Geisteswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften herausgegriffen.

Für die meisten Leser der COMPUTERWOCHE dürfte der Computer in den Geisteswissenschaften ein fast exotisches Thema sein. Bereits in Düsseldorf fielen Ägyptologen, Musikwissenschaftler oder Linguisten auf; in Berlin waren derartige Disziplinen schon zahlreicher vertreten. Einige Beispiele: Computer für Literaturdatenbanken, für den Musiknotensatz, in der Ausbildung von Kunstlehrern, in der Kunstgeschichte und weitverbreitet, in der wissenschaftlichen Textverarbeitung.

Das Kolloquium "Die Bedeutung des Computereinsatzes in den Geisteswissenschaften" bestritten allerdings fast ausschließlich Sprachwissenschaftler. Dr. Norbert Richard Wolf, Professor für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Würzburg, hielt das einleitende Referat. Er begrenzte seinen Vortrag auf die historischen Disziplinen, die Philologien, die sich mit Texten befassen.

Wolf ließ seine Skepsis dem Com-

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"Berater werden begrüßt, doch müssen sie aus den Geisteswissenschaften kommen, um ihre Problemstellungen zu kennen: Informatikern geben wir keinen Auftrag. Wir müssen selbst die Informatik lernen. "

------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ puter gegenüber deutlich erkennen, doch gestand er ihm die Funktion eines "wohlorganisierten und verläßlichen Zettelkastens zu, der überaus große Textmengen zu bearbeiten vermöge und beispielsweise in der Textedition, bei syntaktischen und morphologischen Untersuchungen sowie insbesondere auch in der Lexikographie sinnvoll genutzt werden könne. Allerdings, so Wolf, erfordere der Computer vom Philologen eine hohe Bereitschaft, sich auf das ungewohnte Werkzeug einzustellen, das ganz anders als der liebgewordene Zettelkasten zu handhaben sei. Gerade deshalb solle der EDV- Arbeitsplatz dem Philologen entgegenkommen.

Da der PC immer mehr an Bedeutung gewinne, würden die unterschiedlichen Benutzeroberflächen einzelner PCs den Philologen in Hardwareprobleme verwickeln, mit denen er sich eigentlich gar nicht befassen will. Auch die derzeitigen Programmiersprachen verlangen von den Philologen eine beträchtliche Einarbeitungszeit. Leistungsfähige Dialogsysteme, die der natürlichen Sprache möglichst angenähert und zudem "fehlertolerant" sind, seien wünschenswert.

Der Rolle des Computers als eines bloßen Zettelkastens widersprachen allerdings die anderen Podiumsteilnehmer. Professor Hans Walter Gabler vom Institut für Englische Philologie an der Universität München sieht den Computer als wichtiges

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"Der Computer hat die Funktion eines wohlorganisierten, verläßlichen Zettelkastens, der sinnvoll genutzt werden kann. Beispielsweise bei syntaktischen und morphologischen Untersuchungen. "

------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Hilfsmittel zur Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung. Er sei ein analytisches Werkzeug und vermöge es, Fragestellungen zuzulassen und zu beantworten, die früher nicht möglich waren. Gabler muß es wissen. Eine seiner herausragenden Arbeiten war der mit Computerhilfe editerte Roman "Ulysses" von James Joyce.

In der Lexikographie, die früher als "geisteswissenschaftliche Knochenarbeit" galt, ließen sich sehr viele Tätigkeiten dem Computer übertragen; große Speicherkapazitäten erlauben das Halten von umfangreichen Materialsammlungen. Gerade auf diesem Gebiet sei der Computer mehr als ein Zettelkasten, betonte Professor Dr. Winfried Lenders vom Institut für Kommunikationsforschung an der Universität Bonn, der in Berlin auch einen Vortrag zum derzeitigen Stand und den Entwicklungstendenzen in der computerunterstützten Lexikographie hielt.

Lenders brachte ein weiteres, für die Geisteswissenschaften wichtiges Problem auf den Tisch: die Akzeptanz des Computers in diesem Wissenschaftsbereich. Daß er damit einen empfindlichen Punkt berührt hatte, bewies die lebhafte Diskussion. Nicht jede Universität hat es hier so gut wie Augsburg, wo Dr. Bernd Wißner als DV-Berater für die philologischen Fakultäten fungiert. Nach seinen Aussagen hat diese Funktion ganz wesentlich zur breiten Akzeptanz des Computers beigetragen. Auch von den anderen Podiumsteilnehmern würden solche Berater begrüßt werden, doch müßten sie aus den Geisteswissenschaften kommen, um deren Problemstellungen zu kennen. Wißner dazu: "Wir können Informatikern keinen Auftrag geben. Wir müssen selbst die Informatik lernen. "

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"Der Computer sei ein analytisches Werkzeug. Er kann Fragen zulassen und beantworten, was früher nicht möglich war. Beispiel: der Computer-editierte Roman "Ulysses" von James Joyce. "

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Das Kolloquium der Wirtschaftswissenschaftler befaßte sich mit der Wirtschaftsinformatik. "Ist der Durchbruch geschafft ?" lautete die Fragestellung. Professor Dr. Peter Mertens vom Betriebswirtschaftlichen Institut der Universität Erlangen-Nürnberg hatte die Moderation übernommen. Nach seiner Meinung ist der Durchbruch geschafft, doch sei er noch labil und könne auch zurückfedern Probleme bildeten fehlende Ressourcen sowie der Nachwuchsmangel in der Lehre. Rund zwanzig Professuren im deutschsprachigen Raum könnten derzeit nicht besetzt werden, die guten Leute gingen in die Industrie. Für Österreich bestätigt Professor Dr. H. - R. Hansen, Rektor der Wirtschaftsuniversität Wien, die gleiche Entwicklung. Die Wirtschaftsinformatik sei dort seit mehr als drei Jahren etabliert.

Skeptischer äußerte sich Professor Dr. Gerhard Niemayer, Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik an der Universität Regensburg. Es gebe zwar einen Lehrstuhl, jedoch keinen Diplom-Studiengang Wirtschaftsinformatik. Hemmnisse für dessen Einführung lägen teils bei den Universitäten selbst, besonders aber bei den Kultusministerien.

Anders als die übrigen Podiumsteilnehmer sieht Niemeyer durch die Wirtschaftsinformatik auch eine Veränderung in der Betriebswirtschaft insgesamt. Für ihn bedeutet die Wirtschaftsinformatik den Aufbruch in eine völlig neue Betriebswirtschaftslehre, da Computer die Unternehmen veränderten. Den Zeitrahmen für diesen Umbruch schätzt er auf 20 bis 30 Jahre.

Professor Dr. Franz Steffens von der Universität Mannheim, die als erste in Deutschland vor drei Jahren einen eigenen Studiengang Wirschaftsinformatik mit dem Abschluß "Diplom-Wirtschaftsinformatiker" einführte, geht nicht so seit wie Niemeyer. Er will die Wirtschaftsinformatik auch weiterhin in der klassischen Betriebswirtschaftslehre verankert wissen, denn diese habe weiterhin Bestand. Außer Mannheim bietet derzeit nur noch die Technischen Hochschule Darmstadt einen vergleichbaren Studiengang an, der mit einem Diplom abschließt.

An der Universität Hamburg hat man bisher noch nicht genug Themen für einen eigenständigen Studiengang Wirtschaftsinformatik gefunden. Professor Dr. D. B. Pressmar, Arbeitsbereich für Betriebswirtschaftliche Datenverarbeitung an der Universität, halt den erreichten Durchbruch noch für äußerst labil. Dies liegt seiner Meinung nach unter anderem auch daran, daß die Wirtschaftsinformatik bisher nicht mit öffentlichen Geldern gefordert worden sei. Er hält dies für außerordentlich wichtig, da diese Disziplin eine große strategische Bedeutung für die Industrie habe. Bisher hätte Europa gegenüber den USA in dieser Bereich immer noch einen Vorsprung in der Awendugssoftware gehabt.

Pressmar sieht auch eine gewisse Verstimmung zwischen Kerninformatikern und Anwendungsinformatikern, die sich bis in die Gesellschaft für Informatik hinein fortsetzen würde. Nach seiner Meinung müßten Anwendungen aus dem Anwendungsfach heraus entwickelt werden den, das mathematische Instrumentarium läge ja vor. Doch leider verstünden die Politiker in den Parlamenten unter Informatik meist nur die Kerninformatik, die dann entsprechend gefördert werde. Die Förderung der Anwendungen würde darüber vernachlässigt.