Internet-Call-Center: Durchbruch für den E-Commerce?

Hilferufe der Surfer verhallen nicht mehr ungehört im Web

17.03.2000
MÜNCHEN - Kaufgelüste im Internet müssen nicht an offenen Fragen scheitern. Bei Unklarheiten gibt es eine Lösung - den Internet-Button. Ein Klick genügt, und schon rufen Agenten eines Internet-Call-Centers zurück, chatten mit dem Kunden oder assistieren beim Ausfüllen von Formularen. Experten erhoffen sich davon eine Verringerung der Abbruchzahlen beim E-Commerce.CW-Bericht, Sabine Ranft

Ein Rohrbruch setzt die Wohnung unter Wasser, aber nächste Woche hat sich wichtiger Besuch angesagt. Was tun auf die Schnelle? Im Internet findet sich ein Parkettanbieter. Der hat aber mehrere hundert Parkettsorten im Angebot und überfordert damit den Interessenten. Vielleicht würde er an dieser Stelle schon wieder aufgeben, wenn es nicht die Möglichkeit gäbe, sich mit dem Call-Center des Anbieters verbinden zu lassen. Der stellt Fragen nach gewünschter Farbe (die Farbmuster sehen Sie am Bildschirm) und Belastbarkeit ("Haben Sie Kinder?"), um das Angebot einzugrenzen. Schließlich bleiben noch zehn Sorten übrig, von denen der Interessent die billigste auswählt. Zum Schluss fragt der Agent noch, ob schon alle Utensilien vorhanden sind, die man zum Verlegen eines Parketts braucht. Und wenn die Lieferfristen passen, ist die Einladung vielleicht gerettet.

Mit Beispielen wie dem genannten präsentieren Dienstleister ihr Web-fähiges Call-Center. Der Clou solcher Einrichtungen: Sie handhaben Anrufe und Internet-Anfragen am selben Desktop und integrieren in der Regel auch andere Kanäle wie Fax und E-Mail. Deshalb lehnen Marktforscher und Anbieter das Wort "Call-Center" eigentlich ab und haben stattdessen Begriffe wie Contact-Center, Communication-Center oder Customer-Interaction-Center geprägt. Da es sich aber häufig um dasselbe Center im gleichen Gebäude mit denselben Mitarbeitern handelt, erzeugt diese Begriffsvielfalt oft nur Verwirrung. Die Definition spezifiziert Steve Morrell, Consultant bei Datamonitor, weiter: "In einem Web-fähigen Call-Center werden alle Kontakte auf dieselbe Weise an die Agenten verteilt." Nicht Web-fähig wäre demnach ein Call-Center, das lediglich E-Mails akzeptiert und diese an einem gesonderten Arbeitsplatz von einem Agenten bearbeiten lässt.

Genau diese Methode ist jedoch heute am weitesten verbreitet: "Die meisten Firmen haben einen Web-Auftritt, von dem aus man E-Mails verschicken kann", skizziert Dieter Horn, Leiter Vertrieb und Marketing Enterprise Customer Management bei Debis Systemhaus CSS in Aachen. Zahlen von Datamonitor bestätigen das indirekt: Ende 1999 gab es deren Angaben zufolge erst 130 Contact-Center in Deutschland. Die Marktforscher erwarten für die kommenden Jahre eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 84 Prozent. Bis Ende 2003 soll sich die Zahl der Servicezentren auf etwa 1000 vervielfacht haben. Diese optimistische Prognose basiert auf der Annahme, dass sich die Vorteile der Technologie in bares Geld ummünzen lassen.

Doch worin liegen die Vorteile eines Internet-Call-Centers? Erstens lassen sich in einer integrierten Lösung Daten über das Verhalten der Kunden sammeln, die beispielsweise in ein Data Warehouse eingespeist werden können. Zweitens verkürzen sich durch die Gelegenheit zur Selbstbedienung im Web die Gesprächszeiten der Agenten. Das schlägt sich in geringeren Kosten nieder. Ein Beispiel für ein Selbstbedienungsangebot wäre, wenn eine Bank ihren Kunden die Möglichkeit einräumt, Adressänderungen oder Kontostandsabfragen selbständig vorzunehmen. Der Kunde spart natürlich Telefongebühren, wenn das Gespräch weniger lang dauert. Findet er Hilfestellung bei Problemen, die während des Surfens auftreten, wird er andererseits auch zufriedener sein.

Das größte Interesse für Internet-Call-Center gibt es sicher bei Banken und anderen E-Commerce-Anbietern, denn 80 Prozent der zusammengestellten elektronischen Einkaufskörbchen werden nie bestellt. "Hier lohnt sich ein aktiver Eingriff", glaubt Achim Böken, Geschäftsführer bei Quartess aus Düsseldorf. Der Prozentsatz der Käufer lässt sich in die Höhe treiben, wenn der Besucher einer Website nicht im Stich gelassen wird.

Dafür sind verschiedene Möglichkeiten denkbar. Zum einen bietet sich ein Call-Back-Button an. Ein Klick genügt - und der Kunde erhält umgehend einen Rückruf. Bei einem richtigen Call-Back-Button wird die Telefonnummer des Interessenten via IP an das Outbound-Dialing-System übertragen, das dann den Rückruf initiiert. Rudimentäre ältere Lösungen verschicken hingegen einfach eine E-Mail an das Call-Center. In diesem Fall wartet der Kunde unter Umständen etwas länger auf den Anruf. Wer gleichzeitig surfen und telefonieren will, braucht allerdings eine zweite Telefonleitung für das Gespräch oder muss es auf dem Handy entgegennehmen.

Sollte das jemandem zu teuer sein oder er gerade kein Telefon benutzen können, weil er etwa in einem Internet-Café sitzt, kann er auch mit dem Agenten chatten. Hierbei sind auch Verbindungen mit zwei oder drei Gesprächspartnern möglich. Die ausgefeilteste Variante stellt jedoch das gemeinsame Browsen ("Shared Browsing") dar. In diesem Fall sehen Agent und Kunde dieselbe Website und können darauf gemeinsam Aktionen ausführen, beispielsweise zusammen ein Formular ausfüllen. Natürlich kann der Agent nicht die Kreditkartennummer des Kunden eingeben oder einen Auftrag abschicken. Auch manchen Ämtern mit komplizierten Formularen und vollen Wartesälen würde eine solche Lösung gut zu Gesicht stehen.

Angesichts der genannten Vorteile verwundert allerdings die(noch) geringe Verbreitung von Internet-Call-Centern. Im Wesentlichen kristallisieren sich zwei Probleme heraus: Zum einen kam nach Angaben von Steve Morrell erst in den letzten zwölf bis 18 Monaten ein ausreichendes Volumen von E-Mail- und Web-Anfragen zustande. Wenn bloß ein oder zwei Gesuche am Tag eintrudeln, lohnt sich eine Erweiterung der Infrastruktur nicht. Außerdem ist laut Horn die Technik noch sehr neu: "Der integrative Ansatz kommt erst jetzt."

Bisher gibt es in den meisten Call-Centern zwei getrennte Netze für Telefonie und Internet-Nutzung. Für die Verteilung der Anrufe sorgt eine herkömmliche Automatic-Call-Distribution(ACD-)Anlage, die Internet-Anfragen werden geroutet. Zwischen diesen beiden Verteilsystemen ist eine Abstimmung nötig, damit nicht ein Agent während der Bearbeitung einer E-Mail vom Telefon gestört wird. "Die Abstimmung zwischen Router und ACD erfolgt im Computer-Telephony-Integration-(CTI-)Server", erläutert Böken.

Der Trend geht heute dahin, im Sinne von mehr Integration die Verteilung aller Kanäle in die ACD zu verlagern. "Normalerweise kann eine ACD keine E-Mails routen, dazu ist eine spezielle Middleware erforderlich", verrät Horn. Deshalb integrieren die meisten Hersteller eine solche Software in ihre ACD-Anlage. Diese reiht dann alle Kontakte - Anruf, Fax, Mail oder Web-Anfrage - in eine virtuelle Warteschlange ein und arbeitet sie nacheinander ab.

Noch mehr Integration verspricht ein LAN-basierendes Call-Center, in dem Sprache und Daten über eine gemeinsame Infrastruktur geführt werden. "Heute funktioniert Voice over IP dafür noch nicht gut genug", erklärt John Amein, Director of Marketing bei Dialogic. Zudem mangelt es in vielen Haushalten noch an der Ausstattung mit Multimedia-PCs, die für die Nutzung von VoIP unabdingbar wären.

Außer einer Web-fähigen ACD braucht man einen Web-Server, daneben weitere Server für Applikationen, E-Mail-Verkehr und Computer Telephony Integration (CTI). Colleen Amuso von der Gartner Group zählt Browser, Kundendienstanwendungen, E-Mail-Response-Management und Interactive Chat als weitere Einzelkomponenten auf. Darüber hinaus muss eine Möglichkeit bestehen, Web-Seiten zu erstellen. Für mehr Bandbreite ist in der Regel ebenfalls zu sorgen. "Vor allem im Backbone benötigt man Riesenleitungen", so Böken. "Kommt es im Netz zu einem Engpass, kann sich niemand mehr einloggen, das darf nicht passieren."

Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Angebote der Hersteller wenig. Alle bieten die gesamte Palette vom Call-Back-Button über Chat bis hin zu Shared Browsing. Die Handhabung mutet ähnlich an. Nach Angaben von Quartess liegen gewisse Unterschiede bei der Integration von Back-Office-Daten wie Kundendaten oder dem Zugriff auf Lagerbestände. Die Lösung von Aspect unterstützt die Möglichkeit, auf dem Bildschirm zu zeichnen. "Das haben wir nicht", gibt Roland Pister von Lucent zu. "Dazu braucht man ein zusätzliches Java-Applet. Wir wollten die Lösung so einfach wie möglich halten."

Wie so oft steckt der Teufel aber im Detail. Ein Anwender, der lieber anonym bleiben will, warnt davor, den vollmundigen Versprechungen der Hersteller leichtfertig Glauben zu schenken. "Kaum ein Anbieter kann heute schon die gewünschte Integration bieten", gibt er zu bedenken. Sonderwünsche oder spezielle Anforderungen ließen sich nur durch Eigenentwicklungen realisieren.

Wer ein herkömmliches Telefon-Service-Zentrum in ein Contact-Center umfunktionieren möchte, sollte schrittweise vorgehen und einen Kanal nach dem anderen integrieren, also beispielsweise zuerst E-Mail und dann erst das Web. Ob Änderungen an der ACD nötig sind, hängt vom Produkt ab. Nach und nach werden die technischen Komponenten eingefügt, angefangen beim Web-Server bis hin zu Erweiterungen des Frontends. Den Sicherheitsaspekt darf man gerade bei einem Internet-Call-Center nicht vernachlässigen: Es muss genau geprüft werden, welche Services es nach außen zur Verfügung stellen soll und wie diese zu sichern sind.

Neben der Technik baut ein Contact-Center auch auf den Säulen Organisation und Menschen auf. Ganz wichtig: Am Anfang sollte ein Reengineering der Prozesse stehen, beispielsweise lässt sich auch ein Feedback via Web einbeziehen. Zudem müssen die Agenten umfassender trainiert werden als vorher. Kenntnisse der Inhalte und der Form der Website sind unverzichtbar. Die Qualität jedes Kontakts sollte gleich sein, egal ob er über Telefon oder Web erfolgt. Wenn Kunden am Telefon Schritte wiederholen müssen, die sie online schon gemacht haben, steigt die Unzufriedenheit. Grundsätzlich ist darauf zu achten, dass alle Dienste verfügbar sind.

Anwender AscenaDie Ascena Communication Services GmbH betreibt ein Web-fähiges Call-Center, das seine Dienste Dritten anbietet. Ascena hat sich auf besonders erklärungsbedürftige Produkte aus den Bereichen Telekommunikation und Informationstechnik spezialisiert. Zu ihren Kunden zählen etwa SAP, Cognos und T-Mobil. Für diese betreibt Ascena Beratung oder Response-Marketing-Aktionen, unterstützt sie beim Vertrieb oder erledigt die Teilnehmerverwaltung für eine Anwenderkonferenz. Bis vor kurzem war das Call-Center nur bedingt Internet-fähig: "Wir hatten nur ein rudimentäres Tool für Call Back, das auf Knopfdruck eine E-Mail an das Call-Center schickt", berichtet Jochen Gross, Organisationsleiter bei Ascena.

Nun setzt das Unternehmen das "Call-Center System" von Aspect ein, dazu gehört der "Web Agent". Er führt Besucher einer Website verbal oder via Textchat. Shared Browsing ist auch möglich.

Primär werden Telefonanrufe bearbeitet. Sobald Kapazitäten frei sind, kommen die anderen Kanäle zum Zug. Währenddessen ist der Agent, der gerade eine E-Mail oder einen Brief bearbeitet, für das Telefon blockiert.

Alle Arbeitsplätze verfügen über einen "E-Mail-Robot", der für die Einhaltung bestimmter Antwortzeiten sorgt. Bleibt eine Nachricht mehr als 20 Minuten unbearbeitet liegen, wird sie an die Teamleitung weitergeleitet, nach weiteren 20 Minuten an die Geschäftsleitung.

"Wir haben einen Host-gestützten Router programmiert, der zu allen eingehenden Telefonaten und Mails in der Datenbank recherchiert. So haben die Agenten gleich die Kundenhistorie auf dem Bildschirm", ergänzt Gross. Auf die Frage, warum das Call-Center jetzt für die Bearbeitung aller Medien, insbesondere das Internet, fit gemacht wurde, verweist er auf die zunehmende Bedeutung des E-Commerce. "Das macht die Unterstützung des Internet als Kanal unverzichtbar", versichert er. Auch eine Nachfrage nach dieser Dienstleistung sei durchaus vorhanden.

Ein Upgrade der Netzinfrastruktur war nicht nötig, da Ascena bereits vorher über ein Netz mit entsprechenden Bandbreiten verfügte. Voice over IP wird derzeit noch nicht eingesetzt. "Der Markt ist noch nicht reif dafür", glaubt Gross. Dennoch ließe sich das Contact-Center leicht dahin erweitern.

Abb.1: Infrastruktur eines Contact-Centers

Heutzutage sind zwei getrennte Netze für Sprache und Daten noch gang und gäbe. Die Verknüpfung übernimmt die Computer Telephony Integration (CTI). Quelle: Giga Information Group

Abb.2: Anfragenvermittlung

Moderne ACDs verfügen über eine Middleware, die auch Web- oder E-Mail-Anfragen an die Agenten verteilen kann. Quelle: Aspect