Thema der Woche

Großanwendern gehen bald die Informatiker aus

31.07.1998

Claudia Keller

hat ihren Arbeitgeber verlassen. Sie war bei einem großen Anwenderunternehmen in München beschäftigt, kannte sich in der DV gut aus und war zum Schluß für den Internet-Auftritt verantwortlich. Nun wechselt sie zu einem Service-Provider, der 25000 Mark pro Jahr draufgelegt hat. Keller fiel die Entscheidung leicht, zu einem Herstel- ler zu gehen. Nicht nur des Geldes wegen, wie sie beteuert. Beim Anwender habe die DV nie so einen hohen Stellenwert wie bei einem Hersteller. Man sei zwar mit ihrer Arbeit zufrieden gewesen, aber "so richtig anerkannt wird man als Computerspezialist doch nicht", beschreibt sie ihre Erfahrungen.

Auch Michael Merk

arbeitet nicht mehr bei seiner Firma. Er war ebenfalls bei einem Großanwender beschäftigt, und zwar in Frankfurt am Main. 15 Jahre hielt er es in der Systemtechnik aus. Im Gegensatz zu Keller wählte er allerdings den direkten Weg in die Selbständigkeit. Zwar überlegte auch er, zunächst zu einem Hersteller zu wechseln. Kurz vor Vertragsabschluß machte er allerdings einen Rückzieher und entschloß sich, auf eigene Faust weiterzuarbeiten. Wozu den Umweg über einen IT-Anbieter wählen, wenn es sich als Freiberufler noch besser verdienen läßt, dachte er sich.

Zu verlockend sind im Augenblick die Chancen für IT-Profis, als daß sie ruhig an ihrem Arbeitsplatz ausharren würden. Die offiziellen Zahlen sprechen für sich. Die Zahl der IT-Stellenangebote stieg im ersten Halbjahr 1998 gegenüber dem vergleichbaren Zeitraum um über 60 Prozent, fand der EMC Medienservice in Hamburg heraus. Es lohne sich praktisch nicht mehr, Stellenanzeigen zu schalten, so die Meinung eines frustrierten Personalers, da sich kaum noch ein IT-Profi auf Angebote aus den Zeitungen melde. "Die werden direkt abgeworben", erzählt der Manager.

Bevor die Nachfrage nach IT-Profis vor anderthalb Jahren explodierte, konnten sich die großen Anwendungskonzerne im großen und ganzen darauf verlassen, daß die Mitarbeiter ihnen die Treue hielten. Die großzügigen Sozialleistungen, eine geregelte Arbeitszeit und der sichere Arbeitsplatz hielten die meisten DV-Profis davon ab, ins Herstellerlager zu wechseln, auch wenn die Bezahlung in der Regel nicht mit der beim Anbieter mithalten konnte. Man hatte sich eben damit abgefunden, daß eine DV-Abteilung im Anwenderunternehmen nicht zum Kerngeschäft gehörte und damit weniger gut angesehen war wie die Abteilungen, die das Geld verdienten. Und wenn mal ein Berater im Haus war, so diente der eher als abschreckendes Beispiel, denn soviel schuften wie der, das wollte man auf keinen Fall.

Die Zeiten haben sich jedoch geändert. Die Anwenderbetriebe sind keine sicheren Arbeitgeber mehr. Lebenslange Beschäftigung für die Mitarbeiter zu garantieren ist im Management schon lange kein Ziel mehr. Auch Sozialleistungen wurden zusammengestrichen. Und was die Aufgaben betrifft, so ziehen die externen Berater in der Regel die interessanteren Projekte an Land als die hausintern Beschäftigten. Wozu also noch bleiben? fragen sich immer mehr IT-Fachleute.

Am Beispiel des externen Beraters lasse sich der Wandel exemplarisch darstellen, meint etwa Petra Hilbert, Personalberaterin bei HR Consult in Limeshain. Die früher wegen ihrer zahlreichen Überstunden eher abschreckend wirkenden Selbständigen seien heute Vorbild. Das hat natürlich seine Gründe. Denn die Stundensätze der Freiberufler steigen, ja sie erreichen zum Teil schwindelerregende Höhen. Hilbert: "Krebste früher ein Cobol-Programmierer jahrelang mit einem Stundensatz von 70 Mark herum, kann er heute bis zu 160 Mark pro Stunde nehmen." Sie kennt genügend Fachleute, die mit Cobol begonnen haben, dann, weil es der Trend der Zeit war, auf Visual Basic oder auf objektorientierte Technologien umgestiegen sind und nun wieder zu Cobol zurückkehren.

Auch Bernhard Busley, Personalchef beim IT-Dienstleister Brainforce in München, ist mit der Problematik bestens vertraut. Sein Unternehmen stellt feste Mitarbeiter ein, vermittelt aber auch Freiberufler in Projekte bei Großanwendern. Busley glaubt, daß die IT-Spezialisten beim Anwender gar nicht so schlecht verdienen: "Jeder Mediziner oder Chemiker würde sich die Finger schlecken angesichts der Gehälter von DV-Profis." IT-Leute wechseln oft mit Jahresgehältern von 120000 bis 140000 Mark und mehr zum Anbieter. "Dann legen wir nochmals mindestens 20 Prozent drauf. Darunter geht nichts", versichert Busley.

Die IT-Abteilung droht zum Problemfall der großen Unternehmen zu werden, weil ihnen das Personal wegläuft. Keller und Merk sind keine Einzelfälle. Besonders "gefährdet" seien Mitarbeiter, die mit Freiberuflern zusammenarbeiten. "Wenn ein RZ-Mitarbeiter erfährt, daß sein externer Kollege locker das Doppelte nach Hause bringt, ist der Betriebsfrieden dahin", weiß HR-Beraterin Hilbert.

"Der IT-Arbeitsmarkt hat sich ganz abgekoppelt vom normalen Jobmarkt", analysiert Busley. Während in anderen Branchen zwei bis drei Prozent Gehaltserhöhung an der Tagesordnung seien, "müssen Unternehmen IT-Spezialisten mindestens fünf Prozent zahlen".

Da tun sich Konzerne schwer. Personaler sehen nicht ein, warum sie nur wegen einer Randgruppe des Unternehmens das ganze Gehaltsgefüge sprengen sollen. Busley glaubt, daß die Firmen eher hinnehmen, auf gute Leute zu verzichten, als beim Gehalt mit den Herstellern zu konkurierren. Oder sie lagern ihre DV-Abteilung aus beziehungsweise gründen gar eine Tochtergesellschaft, die nur Freiberufler beschäftigt, wie dies die Deutsche Bank getan hat.

Für den Münchner Personaler ist die weitere Beschäftigung der eigenen Computerfachleute der einzige plausible Grund für ein Outsourcing der IT-Abteilung. Seien diese Spezialisten formal erst einmal draußen in einer eigenen Gesellschaft, könne man ihnen auch marktgerechte Gehälter zahlen und sei deshalb nicht im permanenten Clinch mit der Personalabteilung. Nichts Ungewönliches ist es mittlerweile, wenn DV-Mitarbeiter das Unternehmen verlassen und dann als Selbständige wieder an den gewohnten Arbeitsplatz zurückkehren. Personaler würden so eine Situation eher tolerieren, als hohe Gehälter zu zahlen. So berichtet ein Insider, daß bei einer Frankfurter Bank eine ganze Abteilung gegangen ist und dann als Freiberuflergruppe geschlossen wieder zurückkam, um das bereits zuvor begonnene Projekt fertigzustellen. In einem anderen Fall wurde ein angeblich zu teurer und zu alter Spezialist mit Abfindung nach Hause geschickt, um dann als Freiberufler mit einem Stundensatz von 280 Mark wieder im Unternehmen aufzutauchen.

Offiziell wollen Personalverantwortliche von so einer Entwicklung nichts wissen. Sie sprechen von Einzelfällen, sind überzeugt, daß ein solider Ruf im Markt nach wie vor zählt und daß man mit dem Pfund Sozialleistungen wuchern könne.

Aber: Sowohl Hilbert und Busley wie auch Karl Trageiser von Gulp, der größten deutschen Freiberufler-Datenbank, bestätigen, daß in den letzten Monaten die Zahl der Freiberufler, die von Anwenderunternehmen kommen, stark zugenommen hat und daß eindeutig von einem Trend die Rede sein könne. Als Konsequenz dieser Entwicklung, so glaubt Trageiser, werden sich die Anwenderunternehmen noch stärker um die Ausbildung von jungen Mitarbeitern kümmern müssen, Traineeprogramme anbieten, junge Menschen mit Realschulabschluß in den neuen Informations- und Kommunikationsberufen wie dem Informatikkaufmann ausbilden oder auf Umschüler zurückgreifen, wie dies schon in den 80er Jahren der Fall war. "Die wenigen Informatiker werden für die Anwender nicht mehr zu haben sein", ist der Gulp-Manager überzeugt.

Name von der Redaktion geändert.