CIO des Jahres

CIO des Jahres 2015 - Kategorie Mittelstand

Freie Fahrt im Hamburger Hafen

30.12.2015
Von 
Michael Schweizer ist freier Autor in München.
Sebastian Saxe, CIO der Hamburg Port Authority (HPA), ist zum CIO des Jahres 2015 in der Kategorie Mittelstand gekürt worden. Mit innovativer IT sorgt er dafür, dass der Hamburger Hafen auf fast unveränderter Fläche viel mehr leisten kann.
  • Die Top 10 sind in diesem Jahr Top 11. Weil so viele Kandidaten überzeugten und spannende Projekte einreichten
  • Mittelstandsgewinner ist Sebastian Saxe von der Hamburg Port Authority

In zehn Jahren wird der Hamburger Hafen etwa 50 Prozent mehr Container durchschleusen müssen als jetzt, ohne sich in der Fläche wesentlich vergrößern zu können. Damit das möglich wird, setzte Hafenbehörden-CIO Sebastian Saxe unter dem Sammelnamen "smartPORT logistics" 21 Projekte in Gang, die sich in zwei Gruppen gliedern lassen. Die Infrastrukturprojekte binden Anlagen, zum Beispiel Eisenbahnweichen, in das Internet of Things (IoT) ein, so dass sie, bevor es zu Störungen kommt, selbst ihre "Predictive Maintenance" bestellen können. Die Traffic-Management-Projekte führen die Daten der Verkehrswege Straße, Wasser und Schiene (einschließlich Hub- und Klappbrücken) so zusammen, dass sie sofort ausgewertet und weitergeleitet werden. So lassen sich Engpässe vermeiden.

Sebastian Saxe, Hamburg Port Authority, war der diesjährige Gewinner beim "CIO des Jahres 2015" mit seinen 21 "smartPORT logistics" Projekten.
Sebastian Saxe, Hamburg Port Authority, war der diesjährige Gewinner beim "CIO des Jahres 2015" mit seinen 21 "smartPORT logistics" Projekten.
Foto: HPA

Als größte Herausforderung nennt Saxe das Change-Management: Alle Fachbereiche müssen von den "sehr innovativen Technologien" überzeugt werden. Technisch seien die sichere Einbindung der neuen Embedded Systems und die Entwicklung der Leitstandsoftware "Port Monitor" am schwierigsten. Die HPA forscht mit Partnern an neuen Produkten und Anwendungen und kooperiert eng mit den Hamburger Universitäten. An der Technischen Hochschule wird zum Thema smartPORT eine Professur eingerichtet.

Digitalisierung fürs Geschäft

Die Jury zog dieses Jahr elf Mittelstands-CIOs in die engste Wahl (wegen Punktgleichheit). Außer dem Gesamtsieger sind sie nicht gerankt, die folgende Reihenfolge bedeutet also keine Wertung. Einige Themen, Branchen und Konzepte kommen in den Gewinnerprojekten gehäuft vor - sicher nicht zufällig.

Zum Beispiel Digitalisierung. CIO Reinhard Breyer sah die Mercedes-AMG, die die leistungsstärksten Serienmodelle von Mercedes-Benz fertigt, vor einem Kapazitätsproblem: Wenn das Unternehmen etwa gleich groß bleibt, Fahrzeugprojekte, Modellvielfalt und Stückzahl aber kräftig steigen sollen, müssen sich Organisation und Prozesse grundlegend ändern. Sein Beitrag ist das Projekt "Route 601": Der Digitalisierungsgrad der gesamten Produktion soll zunehmen, Silosysteme sollen aufgebrochen und "gesamthaft für das Unternehmen nutzbar" werden. Als erste Autofirma weltweit betreibt die AMG ihr ERP-System auf SAP HANA. Auf HANA und Hadoop beruht auch die Auswertung von Motor-Messdaten aus Prüfständen und Erprobungsfahrten - "so sind wir in das Thema Big Data Analysis eingestiegen".

Neue Geschäftschancen erwartet auch CIO Hans Fabian von seinem Projekt "Digitale Transformation der Schufa-IT". Die IT der Auskunftei ist bisher durch wenige monolithische Systeme geprägt, so dass auch für kleinere Änderungen Eingriffe in das Hauptproduktionssystem nötig sind. Fabian arbeitet nun an einer modularen, flexiblen, Service-orientierten Plattform, die "neben dem bisherigen Kerngeschäft den Anforderungen aus Social, Mobile und Big Data gerecht wird". Da die Legacy-Systeme nicht schwächeln dürfen, setzt der CIO auf eine Two-Speed-IT. Er holte auch IT-Komponenten, die ein großer Dienstleister betrieben hatte, ins Haus zurück (Insourcing) und strukturierte den IT/Org.-Bereich von neun auf vier Abteilungen um, damit agiler gearbeitet werden kann. Ohne stringentes Change-Management wäre das nicht möglich gewesen.

Die "Digitalisierung Mobilitätsmanagement" hat IT-Leiter Kiumars Farhur beim BwFuhrparkService, dem Mobilitätsdienstleister der Bundeswehr, betrieben. Der Fuhrpark hält für die Bundeswehr 26 000 Fahrzeuge bereit und erbringt auch Dienstleistungen, zum Beispiel IT-Services überall, wo die Bundeswehr in Übung oder im Einsatz ist. Da darf, etwa in Afghanistan, nichts schiefgehen. Farhur digitalisierte die Geschäftsprozesse mit dem Kunden Bundeswehr und mit den Lieferanten. Modifiziert wurden zum Beispiel Abruf und Rücknahme von Fahrzeugen und das Carsharing innerhalb der Bundeswehr. Intern scheint das Projekt glatt gelaufen zu sein; die Herausforderungen lagen im Innovationstempo, Reifegrad und der technischen Heterogenität teils beim Kunden, teils bei den Lieferanten.

Handel durch Wandel

Ein B2B- oder B2C-System einzuführen ist anstrengend genug. CIO Lorenz Müller packte mit seinem Projekt "BLUE: Bauerfeind lives unique eCommerce" beides auf einmal an. Bauerfeind aus Zeulenroda/Triebes zählt mit seinen nur in Deutschland produzierten medizinischen Hilfsmitteln weltweit zu den Marktführern. Der Vertrieb der Bandagen, Orthesen, Einlagen und Kompressionsstrümpfe lief bisher fast nur indirekt, vor allem über Orthopäden, Reha-Experten und Kliniken. Der Online-Shop, in dem diese B2B-Kunden auch Maßanfertigungen bestellen können, beruhte auf einer veralteten SAP-Plattform. Müller und sein Team haben ihn auf Grundlage von SAP ERP und der E-Commerce-Lösung Hybris modernisiert. Neu dazu kommen Online-Läden für Endkunden. Testmarkt waren die USA, seit vergangenem September soll alle drei Monate ein weiterer länder- oder ländergruppenspezifischer B2C-Shop eröffnet werden.

Um Handelspartner und eigene Läden ging es auch Björn Wöstmann, Head of IT bei Lloyd Shoes, in seinem Projekt "Retail IT & Prozesse 2.0". Seit dem Jahr 2007 verkauft Lloyd Schuhe, Jacken und Accessoires auch über die "Lloyd Concept Stores", die nur die eigene Marke führen. Diesem neuen Einzelhandelszweig wurde das überkommene Warenwirtschaftssystem nicht gerecht, und auch dessen Zusammenwirken mit dem ERP-System musste grundsätzlich überdacht werden. Zum Beispiel hatten die Systeme die gleichen Artikel unter unterschiedlichen Nummern und Gruppen geführt, je nachdem, ob sie in den Einzelhandel (WWS) oder den Großhandel (ERP-System) gingen. Wöstmann Wöstmann vereinheitlichte die Artikel- und Stammdaten und führte ihre Pflege im ERP-System zusammen. Auch die fünf anderen Teilprojekte sieht er als "alternativlose" strategische Wachstumsentscheidung.

IT-Abteilungen stellen um

In drei Gewinnerprojekten haben sich IT-Abteilungen organisatorisch und/oder technisch umgestellt, um effizienter arbeiten zu können. Beim Flugzeugsitzehersteller Recaro betrieb Director IT Andreas Hitzig die "Einführung von Kanban in der IT". Die Recaro-IT gliedert sich in eine PLM- und eine SAP-Abteilung, beide entwickeln und ändern Software zum internen Gebrauch. Weil das oft zu lange dauerte, bekam zunächst die PLM-Abteilung eine Kanban-Schulung. Danach wurde das erste Kanban-Board mit Zetteln bestückt, auf denen unerledigte Arbeitsschritte notiert waren. Wo sich die Zettel häuften, waren die Flaschenhälse: bei den "Anforderungsanalysen" - die IT verstand nicht gleich, was die Fachbereiche wollten - und bei der "Validierung" - die Fachbereiche hielten den Betrieb auf, indem sie neue Software nicht testeten. Einmal dingfest gemacht, ließen sich die Probleme schnell beheben: Ein Entwicklungsauftrag braucht nun durchschnittlich 50 statt 200 Tage.

"Aufbau und Implementierung eines internationalen IT-Wissensmanagementsystems" heißt das Gewinnerprojekt von Christian Kunzelmann, Head of IT bei Bionorica. Das IT-Team des Arzneimittelherstellers ist auf vier Kontinente verteilt. Scheidet ein Mitarbeiter mitsamt seinem Spezialwissen aus, kann das zu Komplikationen führen. Kunzelmann ließ seine IT-Experten einzeln und in Gruppen fragen, wie sie arbeiten. Es ergaben sich 1146 IT-Tätigkeiten, deren jede in einem Schema dokumentiert wurde. Über eine interne Suchmaschine erfahren die Mitarbeiter nun nicht nur detailliert, was sie tun und lassen sollen (Best Practices, Lessons Learned, Typical Errors), sondern auch den oder die Zuständigen. Das erleichtert die Einarbeitung neuer Mitarbeiter. Der Helpdesk und andere Stellen sind messbar effektiver geworden.

Als Francine Zimmermann vor zweieinhalb Jahren bei Häfen und Güterverkehr Köln anfing, war die IT zu 95 Prozent damit beschäftigt, den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten, und es gab kein Ausweichrechenzentrum. Die neue Leiterin Informationsmanagement musste erst Bewusstsein dafür schaffen, was es für ein Logistikunternehmen bedeuten würde, wenn ihm seine Daten abhandenkämen. Mittlerweile haben die IT-Leiterin und ihre Mannschaft die virtuellen Server gespiegelt, so dass im Katastrophenfall Daten und lauffähige Hardware sofort wieder zur Verfügung stünden ("Stufenweise Umsetzung der Implementierung und des Aufbaus eines Spiegelrechenzentrums im Stufenkonzept"). Zimmermann will Strategie, Struktur und Kultur ihres IT-Teams so verändern, dass ihm wünschenswerte Modernisierungen zugetraut und anvertraut werden.

Standards für Versicherungen

Zwei CIOs aus der Versicherungsbranche waren mit umfangreichen Standardisierungen beschäftigt. Der "Anwenderorientierte Universalarbeitsplatz ('Clientmigration')" ist das Werk von Jürgen Renfer, Abteilungsleiter Informationstechnologie der Kommunalen Unfallversicherung Bayern und Bayerischen Landesunfallkasse (KUVB). Alle ungefähr 400 internen Anwender verwenden nun ein und dieselbe Benutzeroberfläche. Mit PCs, Laptops und Tablets können sie überall arbeiten, wo es einen gängigen Netzzugang gibt, also auch im Home Office, und sie haben die Wahl zwischen einem klassischen ("Windows 7-like") und einem kacheligen Startmenü ("Windows 8-like"). Mit dem knappen Geld der öffentlichen Hand hat sich die KUVB eine attraktive, moderne IT geschaffen. Das findet Renfer innovativ, und er hofft, dass der im Haus ausgebildete Nachwuchs es auch so sieht.

"Implementierung von 21c?ng als 'nächste Generation' des Kernsystems für gesetzliche Krankenversicherungen" - so heißt das Gewinnerprojekt von Andreas Strausfeld, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung der Bitmarck Holding. Strausfeld hat viel IT im beruflichen Lebenslauf. Vielleicht hat er es deshalb gewagt, 21c?ng entwickeln zu lassen, obwohl viele der 105 Krankenkassen, denen Bitmarck die Branchen-Standardsoftware liefert, erst vor Kurzem die Vorgängerversion iskv_21c eingeführt haben. Ein paar haben das sogar erst noch vor. Strausfeld argumentiert mit dem Unaufhaltsamen: 21c?ng muss sein, weil es die gesetzlichen Krankenkassen digitalisierungsfähig macht. "Das Ausmaß der Digitalisierung und die positiven Folgen für den Gesundheitsbereich sind noch gar nicht umfassend abzusehen."

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