Boerse reagierte empfindlich auf US-Studie

Forrester stempelt R/3 von SAP als Altlast ab

19.04.1996

Die Ankuendigung einer neuen Produktfamilie treibt den Kurs einer Software-Aktie zumeist in die Hoehe. Folglich sorgen die Anbieter gern dafuer, dass ihre Entwicklungsplaene rechtzeitig an die Oeffentlichkeit gelangen.

Bei der SAP AG, Walldorf, ist das offenbar ein wenig anders. Kaum hatte Forrester Research publiziert, das Unternehmen werde spaetestens 1999 einen voellig neu konzipierten Nachfolger des integrierten Anwendungspakets R/3 vorstellen, wollten viele SAP- Aktionaere ihre Anteilsscheine loswerden. In der Folge sank deren Notierung in der ersten Aprilwoche auf etwa 190 Mark ab, nachdem sie im letzten September zum Spitzenwert von 260 Mark gehandelt worden waren.

So beeilte sich das groesste deutsche Software-Unternehmen denn auch, die Schlussfolgerungen der US-Analysten zu dementieren. "Es ist kein Nachfolgeprodukt fuer R/3 in der Entwicklung", beteuert SAP-Sprecher Michael Pfister, "Forrester liegt falsch mit dieser Annahme." Vielmehr wolle SAP seine existierenden Produkte durch zusaetzliche Funktionalitaet dem Stand der Technik anpassen. Juengstes Beispiel fuer diese Bemuehungen: Gemeinsam mit Microsoft arbeitet SAP daran, R/3 Internet-faehig zu machen.

Schliesst man sich der Forrester-Argumentation an, so lenken Entwicklungen dieser Art aber nur vom Kernproblem der SAP-Software ab. Die Autoren der gerade erschienenen Studie "The Prudent Approach To R/3" vertreten die Ansicht, dass die Anwender mit dem Einsatz der monolithischen R/3-Software ein erhebliches Risiko eingehen.

Deshalb raten die Marktforscher der SAP-Klientel, alle neuen kundenorientierten Software-Entwicklungen ausserhalb des R/3- Umfelds anzusiedeln und die SAP-Anwendungen als Software-Altlast streng isoliert zu handhaben, sprich: durch Middleware von anderen Applikationen abzuschirmen. Ausserdem sollten sich die Anwenderunternehmen schon einmal mit dem Gedanken vertraut machen, die R/3-Module - je nach Dynamik des bearbeiteten Marktsegments - in zwei bis zehn Jahren durch modernere Programmbausteine zu ersetzen. R/3 und die zugehoerige Entwicklungssprache "Abap 4" eigneten sich nicht dafuer, offene, anpassbare Systeme zu schaffen, wie sie fuer die Geschaeftsbeziehungen im Zeitalter des Internet benoetigt wuerden.

Forrester Research warnt deshalb davor, Abap 4 mehr als unbedingt notwendig zu nutzen. SAP hat die Viertgenerationssprache mittlerweile selbst zur Disposition gestellt. Jedenfalls erwarb das Software-Unternehmen Lizenzen der Internet- Entwicklungswerkzeuge Java von Sun und Visual Basic Script von Microsoft.

Die mit der R/3-Palette erzielbaren Umsaetze werden, so Forrester Research, spaetestens im kommenden Jahr ihren Zenit erreichen. Die DV-Pioniere seien bereits alle auf den Zug aufgesprungen; der Versuch, neue Kaeuferschichten fuer die Software zu erschliessen, werde fehlschlagen; zudem habe die Realitaet des R/3-Einsatzes bereits viele Anwender aus ihren Bluetentraeumen gerissen.

Nicht zuletzt deshalb mutmassen die Analysten, dass die Walldorfer eine komplett neue Ausfuehrung ihrer Cash-cow R/3 in petto haetten. Der Punkt, der Kunden wie Aktionaere aufhorchen laesst: Die kuenftige Version der SAP-Software basiert laut Forrester Research auf einem verteilten und objektbasierten Design, weshalb sie nicht kompatibel zum existierenden R/3 sei. Das Praesidium des Software- Anbieters bestreitet allerdings, im vergangenen Jahr mit den US- Marktforschern ueber seine Entwicklungsplaene gesprochen zu haben.

Um die ueberkochenden Geruechte wieder auf Normaltemperatur zu bringen, hat das SAP-Management beschlossen, der fuer den Mai geplanten Bilanzpressekonferenz eine Veranstaltung vorauszuschicken, auf der die Ergebnisse des ersten Quartals 1996 sowie die technologischen Grundlagen von R/3 diskutiert werden sollen.

Augenscheinlich hat die Frankfurter Boerse diese Goodwill-Aktion positiv aufgenommen. Zu Anfang der dritten Aprilwoche kostete die SAP-Vorzugsaktie wieder etwas mehr als 200 Mark.