Flut an Daten - Mangel an Information

01.06.1990

Rolf Bastian, Software AG*

*Der Beitrag ist bereits erschienen im "Software Report" 1/90.

Wer heute entscheiden soll, muß wesentlich mehr wissen als früher. Doch zugleich wird die Flut an Informationen immer weniger überschaubar. Eine Perspektive liefern nur Informationssysteme, die Fakten nicht länger als unstrukturiertes Chaos präsentieren, sondern auch die Zusammenhänge transparent machen.

"Rettet die Information in der Informationsverarbeitung".

Was sich anhört wie ein Verzweiflungsschrei, ist ein Credo, mit dem Carlos MartÝn Cinto, Chef für IV-Innovationen bei dem spanischen Telefonriesen Telefónica" das Problem ungezähler Unternehmen auf den Punkt bringt: Wie kann man aus den riesigen Mengen an Daten, die über Jahre hinweg gesammelt und gespeichert werden, schnell jede gewünschte Information in beliebiger Form gewinnen?

Das zitierte Statement klingt zunächst paradox. Und in der Tat drückt es einen Widerspruch aus: zwischen den Bedürfnissen des Managements und der Realität - nämlich dem Bedarf an adäquater Information, die hilft, richtig zu entscheiden, und dem vorgefundenen Informations- Chaos. Dieser nun schon seit Jahren allseits beklagte Zustand der häufig als "Flut an Daten - Mangel an Information" paraphrasiert wird, ist keineswegs ein rein quantitatives Problem --- daß nämlich der Umfang an Informationen rapide zunimmt. Die Crux liegt vielmehr in der Qualität: Die wachsende lnformationsfülle wird so repräsentiert, daß sie mit ihrer Zweckbestimmung in einen immer größeren Konflikt gerät.

Die große Herausforderung an das Management ist die gleichzeitige Explosion von Komplexität und Dynamik. Globale Märkte verlangen Entscheidungen in immer größerem Kontext, ihre Dynamik zwingt zu immer schnellerem, flexiblen Handeln. Dieser Widerspruch kann gemildert werden, indem Organisationen dezentralisiert und Entscheidungskompetenzen vor Ort verlagert werden. Doch wird so eine neue Art von Komplexität geschaffen. Gilt es doch jetzt, Unternehmen zu steuern, die sich ihrerseits aus teilautonomen Systemen mit eigener Dynamik zusammensetzen. Systeme, die nicht hierarchisch kontrolliert werden können, sondern untereinander gleichberechtigt kommunizieren und agieren und so das Gesamtsystem prägen, das dennoch einem einheitlichen Konzept folgen muß.

Nicht zufällig rücken deshalb Management-Ansätze ins Blickfeld die versuchen, grundlegende Erkenntnisse der klassischen "Systemforschung", der Kybernetik, zu beachten. "Ganzheitliches" oder "integrales" Management lauten die Schlagworte.

Sie berücksichtigen insbesondere, daß komplexe Systeme durch die dynamische Wechselwirkung ihrer Teile geprägt werden. Lineare Ursache-Resultat-Schemata werden durch Modelle ersetzt, die auf einer zirkularen Kausalität aufbauen. Die primäre Aufgabe des Managements ist jetzt nicht mehr das Eingreifen auf Objektebene, sondern "das Gestalten

von Kontexten", wie es etwa Markus Schwaninger, Dozent an der Hochschule St. Gallen, formuliert.

Damit einher geht ein völlig neues Selbstverständnis des Managers. Die Tragweite seiner Entscheidungen ist häufig so groß, daß das klassische Modell des "umfassend informierten Entscheidungsträgers", der im Vorfeld alle Aspekte und Wahlmöglichkeiten prüft, unhaltbar geworden ist.

Es ist nicht nur die Fülle (und damit Unüberschaubarkeit der Fakten), die das Konstrukt vom "rationalistischen Wirtschaftssubjekt" hinfällig werden läßt. In einem komplexen, vom eigenverantwortlichen agieren anderer Subjekte und Systeme geprägten Umfeld, entstehen ständig neue Gegebenheiten, die zu Beginn der Entscheidungsfindung noch nicht bekannt waren. Außerdem verläuft heute die allgemeine ökonomische, politische und technische Entwicklung so dynamisch, daß sie sich auch mittelfristig kaum noch vorhersagen läßt. So können auch vermeintlich sicher abgeprüfte Entscheidungen auf tönernen Füßen stehen.

Der klassische, rationalistische Ansatz erforderte hier "das Zusammentragen enormer Datenmengen und den Einsatz analytischer Fähigkeiten, über die wir nicht verfügen, sowie das Voraussehen von Entscheidungskonsequenzen, die sich erst in einer ferneren Zukunft ergeben", so Amatai Etzioni, Professor an der Washington State University, der sich intensiv mit Strategien der Entscheidungsfindung auseinandergesetzt hat. Stattdessen plädiert er für ein Modell, das sich an der Art orientiert, in der ein Arzt seine Diagnose stellt: mit der Entscheidung wird nicht gewartet, bis ausnahmslos alle Fakten zusammengetragen sind, sondern es wird Zug um Zug auf der Basis allgemeinen Wissens vorgegangen, das durch aktuelle Informationen in angepaßter Detaillierung ergänzt wird.

Hier schließt sich der Keis zu unserem eingangs skizzierten Problem. Wer heute rational entscheiden möchte, muß wesentlich mehr wissen als früher, aber die moderne DV-Technologie liefert ihm vorwiegend mehr Informationen. Informationen jedoch sind nicht gleich Wissen. Letzteres entsteht, indem Fakten in vielfältige Beziehungen gesetzt und mit Hilfe von erklärenden Modellen bewertet werden. Die Theoriebildung bleibt Domäne des Menschen. Von der Informationsverarbeitung kann er jedoch verlangen, daß sie ihm den entscheidenden Schritt entgegenkommt und Fakten nicht länger als unstrukturiertes Chaos, sondern im Zusammenhang präsentiert - eben als Spiegel der Realität.

"Management der Komplexität" verlangt also ein Informationssystem, das gewissermaßen für die Produktion von Wissen "veranlagt" ist:

- Zusammenhänge müssen sichtbar werden. Wer "ganzheitlich" managen will, braucht einen Überblick. Deshalb müssen Strukturen abgebildet werden, die als Orientierungsrahmen dienen. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Objekten führen durch den globalen Kontext und bewahren so den Entscheider davor, auf rein zufällige Informationen zu bauen Gleichzeitig muß er an beliebigen Punkten einhaken und Details in beliebiger Tiefe recherchieren können. Dies wiederum impliziert, daß die Abbildung vollständig ist, das heißt, daß alle existierenden Beziehungen erkennbar und über diese Pfade auch wirklich alle zugehörigen Informationen - unabhängig von ihrer Form - zugänglich sind.

- Die Interaktion in dezentraIen Systemen - jeder kommuniziert mit jedem - muß ebenso unterstützt werden wie die Integration der einzelnen Komponenten in den Unternehmensprozeß. Wechselwirkungen sowie die Konsequenzen einzelner Aktivitäten für das Gesamtsystem müssen dokumentiert werden.

- Die Informationsverarbeitung muß rasch an geänderte Strukturen angepaßt werden können. Es gibt bereits Untersuchungen, die davon ausgehen, daß künftig - da sich die äußeren Bedingungen immer schnelIer wandeln - der größte Teil des betrieblichen Tagesgeschäfts projektorientiert abgewickelt wird, wobei die Zusammensetzung der Teams von Aufgabe zu Aufgabe wechseln kann. Solch permanenter organisatorischer Umbruch kann nur funktionieren, wenn die Informationsverarbeitung jede Konstellation optimal unterstützt. Damit wird ihr eine geradezu gigantische Flexibilität abverlangt: Sie soll alle Beziehungen in und zwischen Objekten transparent machen, die sowohl ihre interne Struktur als auch ihr; Verhältnis zueinander andauernd ändern.

- Die größte Herausforderung ist die Informationsgewinnung selbst. Entscheidungsfindung, das impliziert bereits der Begriff, besteht zunächst aus Vortasten. Also ist am Anfang noch gar nicht genau bekannt, welche Informationen nun benötigt werden - dies stellt sich meist erst bei der Recherche heraus. Mit anderen Worten: erst Information konkretisiert den Bedarf an Information. Damit sind formalisierte Abfragen, die vorab eine genaue Spezifizierung verlangen, weitgehend unbrauchbar. Freier, unkomplizierter Zugang zur Information, richtige Antworten auch bei ungenauen Fragestellungen, beliebiges "Hangeln" durch den Kontext - dies sind denn auch die wichtigsten Anforderungen, die Benutzer in einer Untersuchung des "Software-Report" an moderne Informationssysteme stellen.

Wenn man an beliebigen Stellen einhaken und beliebige "Beziehungspfade" verfolgen kann, wird zugleich eine wichtige Form kreativer Ideenfindung unterstützt, das assoziative Denken. Dies entspricht der Art, in der wir Enzyklopädien oder Bibliotheken nutzen: Man steigt irgendwo in ein Thema ein, stößt dabei auf neue Stichworte, die man weiterverfolgt, und erschließt sich so sukzessive ein Wissensgebiet. - Sich einem Thema mit ganz vagen Vorstellungen nähern zu können, verlangt außerdem, daß das Informationssystem für den Benutzer "aktiv" wird, das heißt, es erarbeitet anhand von Regeln qualifizierende Antworten auf allgemeine Fragestellungen.

Zu Beginn haben wir konstatiert, daß die Realität den Bedürfnissen widerspricht. So nimmt es nicht wunder, wenn wir jetzt feststellen müssen, daß die meisten real exisitierenden Informationssysteme die beschriebenen Anforderungen kaum erfüllen. Die Defizite sind mittlerweile hinreichend erörtert worden. Je länger die Ara der EDV in den Unternehmen andauert, desto unüberschaubarer wird deren Informationsbasis. Das liegt vor allem daran, daß dieses "ideelle Kapital" atomisiert ist. Zwar wurde vor rund 20 Jahren mit der Etablierung zentraler Datenbanken ein erhebliches Potential geschaffen. Aber ausgerechnet die wesentlichen Strukturinformationen, die Beziehungen zwischen den Daten, sind nicht dort abgelegt. sondern in den Anwendungen definiert, womit sie sich der Recherche entziehen. Die Gründe liegen in den bekannten Defiziten herkömmlicher DB-Technologien, insbesondere des rein relationalen Ansatzes.

Diese strukturellen technologischen Mängel sind auch schuld daran, daß unterschiedliche Informationstypen wie operative Daten, Texte, Büroinformationen, CAD-Daten etc. meist getrennt gespeichert werden und deshalb auch nicht im Zusammenhang abgerufen werden können.

Wie sollen richtige Entscheidungen getroffen werden, wenn zum Beispiel wichtige Dokumente nicht gemeinsam mit den Daten über die betrieblichen Prozesse, auf die sie sich beziehen, verwaltet werden? Nehmen wir nur mal die Fertigungsdokumentation, die den korrekten Produktionsablauf zu jedem Zeitpunkt nachweisen muß. Das Problem wird schlaglichtartig erhellt, wenn eine Untersuchung zu diesem Thema von einem - durchaus modern ausgestatteten - Unternehmen berichtet, das "darauf vertraut, daß im Fall des Falles, zum Beispiel für einen Haftungsprozeß, die Unterlagen bei ausreichendem Einsatz von Arbeitskräften innerhalb einer Wochenfrist gefunden werden können..."

Ein Defizit zieht das andere nach sich. Wenn komplexe Beziehungen nicht eigenständig von der Datenbank verwaltet, sondern in den Programmen von Menschen beschrieben werden, können leicht Widersprüche auftreten. Deshalb werden Anwendungen, wenn sie denn endlich fehlerfrei laufen, häufig "eingefroren" - und blockieren so wiederum die notwendige Anpassung der Strukturen an geänderte fachliche Anforderungen.

Das turbulente Umfeld fordert raschen organisatorischen Wandel und möglichst vorausschauende Entscheidungen - die Systeme, die den Input dafür liefern sollen, verharren in der Vergangenheit: ein Zustand, den Carlos Martin Cinto als "die eigentliche Anarchie" charaktierisiert.

Schließlich delegieren solche Systeme eine Verantwortung an den Benutzer, die er eigentlich von Informationsverarbeitung zuallererst wahrgenommen sehen möchte: Er muß wissen, was er eigentlich wissen will - nämlich welche Informationen er braucht, wo sie gespeichert sind, wie er an sie herankommt, wie er seine Anfragen formalisieren muß -, Bedingungen, die, wie wir gesehen haben, dem Prozeß der Entscheidungsfindung im komplexen Umfeld zuwiderlaufen. So werden entweder relevante Zusammenhänge nicht erkannt, oder die Art der Fragestellung induziert bereits die Antwort: eine elektronische self-fulfilling prophecy.

So ist es kaum verwunderlich, daß die Informationsverarbeitung bei der Entscheidungsfindung bisher nur eine untergeordnete Rolle spielt. Spezifische Management-Informationssysteme, so stellen Untersuchungen fest, werden allenfalls von Sachbearbeitern und Assistenzkräften, kaum aber für strategische Tätigkeiten benutzt. Doch wäre es nur halb so schlimm, wenn Informationssysteme nur ignoriert würden. Viel bedenklicher jedoch ist es, wenn ihre Defizite sozusagen erkenntnistheoretisch ausstrahlen. Amitai Etzioni registriert, daß Ansätze der Entscheidungsfindung um sich greifen, die nicht anders zu bewerten seien als "Plädoyers der Verzweiflung", die signalisierten "daß man die Hoffnung aufgegeben hat, die Welt zu erkennen und vernünftig zu interpretieren": Erstens das übervorsichtige "Sichdurchwursteln" in kleinen, überschaubaren Schrittchen, das kaum Risiken eingeht, aber von der einmal eingeschlagenen Richtung kaum mehr abkommt, auch wenn dies dringend geboten wäre. Zweitens die " Flucht nach vorn", die offen auf jedwede Reflexion und Analyse verzichtet und mit Volldampf vorausfährt - häufig gegen die Wand.

Haben solche Ansätze vor der Beherrschbarkeit der Information und damit der IV-Technologie insgesamt resigniert, so gibt es auf der Gegenseite wiederum eine Überreaktion, nämlich unrealistische Hoffnung auf vermeintliche Steine der Weisen. Vor allem zwei Schlagworte sind es, die heute die Phantasie vieler Manager neu beflügeln: Expertensysteme und Hypertext. Nicht daß die damit verbundenen Erwartungen etwa illegitim wären - im Gegenteil: Das Verlangen nach der Darstellung von Zusammenhängen, einer freien, unkomplizierten Abfrage, beliebiger "assoziativer" Suche, qualifizierenden "intelligenten" Antworten auf einfache Fragen und so weiter drückt nur um so deutlicher vorhandene Defizite aus. Doch bekommen vorpreschende Einzellösungen, die zudem bisher fast ausschließlich PC-basiert existieren, das Grundproblem nicht in den Griff: daß ein entscheidender Teil der Informationen, die gebraucht werden, in der Flut der operativen Betriebsdaten steckt und nur dort herausgeholt werden kann.

Deshalb führt kein Weg daran vorbei, die "klassische" DV so auszustatten, daß sie lnformationen in der beschriebenen Qualität liefern kann. Dabei ist es nicht damit getan, auf ein schwaches, weil nicht integriertes und wenig repräsentationsfähiges Informationsmanagement nachträglich einen Anwendungsüberbau aus Ausgleichsfunktionen, Überbrückungshilfen und so weiter auf- zupfropfen. Abgesehen von technischen Schwierigkeiten wird so ein ungeheurer Overhead erzeugt, der wiederum mit der Vergeudung von Ressourcen bezahlt werden muß. Und wichtiger noch: Damit wird das zentrale Problem nicht gelöst, daß der Mensch angesichts der Komplexität der Informationswelt die Verantwortung für deren Konsistenzsicherung nicht länger übernehmen kann. Genau dies muß das System leisten. Nur eine Datenbank, die selbst "aktiv" wird - weil sie die Semantik kennt -, kann diese Aufgabe wahrnehmen. Nicht nachträgliche Kontrollen, sondern Investitionen in die grundlegende Repräsentation des Wissens schaffen die Basis für eine Informationsverarbeitung, die an der Oberfläche die beschriebenen Anforderungen erfüllen kann. Je "tiefer" die Verantwortung beginnt, desto effizienter ist das Gesamtsystem.

Heute wird deutlich, welche Synergieeffekte sich ergeben, wenn Anwendungen auf einer integrierten Verwaltung unterschiedlichster Informationstypen aufsetzen können. Die Recherche auf verschiedenen Abfragen in beliebiger Detaillierung, die Suche im Kontext sowohl über explizit definierte als auch implizit angelegte Beziehungen (also dem "Hypertext-Prinzip" folgend), qualitative, weil auf der Verarbeitung von Regeln basierende Informationen - dies alles steht mit einem solchen Ansatz auf der Tagesordnung: nicht als exotische Insellösung, sondern aufbauend auf der "normalen", operativen DV. Dabei ist man nicht auf zentralistische Ansätze beschränkt, sondern kann durch Verteilung von Daten und Funktionen (von Client-Server-Konzepten bis zu aktiven Informationsobjekten) die jeweiligen Stärken der verschiedenen Rechnerumgebungen ausnutzen. Die Vorstellung, daß der Benutzer nur noch grafische Symbole "anklicken" muß und über solche Objekte jede Information erhalten kann, die damit irgendwie im Zusammenhang steht, rückt in greifbare Nähe.

Mit der Kombination von Überblick und Detail, von Kontext und Tiefe erhalten Entscheidungsträger ein Informationsgerüst, das auch im komplexen und dynamischen Umfeld trägt. Die Zeit der Verzweiflung nähert sich ihrem Ende. Rationale Strategien erhalten wieder ihre Chance.