Thema der Woche

Firmen kümmern sich kaum um Bildschirmrichtlinie

01.08.1997

"Wir stehen morgens auf, um uns für den Rest des Tages hinzusetzen." Dies ist einer der Lieblingssätze des Ergonomieberaters Michael Schurr aus Freiburg im Breisgau. "Wir sitzen beim Frühstück, auf dem Weg zur Arbeit, am Arbeitsplatz und abends vor der Glotze." An und für sich sind diese Aussagen nicht besonders aufregend. Und Schurr wird sie in den letzten Monaten in Seminaren und vor Unternehmensvertretern so oft vorgetragen haben, daß er sie bald selbst nicht mehr hören kann.

Daß der Referent gefragt ist, hat indessen Gründe: Erstens gibt es mit der Umsetzung der "Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit an Bildschirmgeräten (Bildschirmarbeitsverordnung)" einen aktuellen Anlaß, und zweitens wirken die Zahlen und Statistiken, die von Krankenkassen und Verbänden herausgegeben werden, nicht unbedingt beruhigend (siehe Kasten).

Dokumentation muß in Kürze beginnen

Zunächst zum Anlaß: Bis zum 21. August müssen die Unternehmen eine Arbeitsplatzanalyse vorlegen. Zwar betrifft die Regelung alle Arbeitsplätze, hier soll es aber nur um die gehen, die sich auf Tätigkeiten am Bildschirm beziehen. In Artikel 1, Paragraph 6, Absatz 1 des Arbeitsschutzgesetzes heißt es im schönsten Juristendeutsch: "Der Arbeitgeber muß über die je nach Art der Tätigkeiten und der Größe seines Betriebes erforderlichen Unterlagen verfügen, aus denen das Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung, die von ihm festgelegten Maßnahmen des Arbeitsschutzes und das Ergebnis ihrer Überprüfung für die in seinem Betrieb vorhandenen Arbeitsplätze ersichtlich sind."

In Ergänzung dazu steht in der Bildschirmarbeitsverordnung, daß die Arbeitsbedingungen an den Bildschirmarbeitsplätzen bis zum 201.08.1997 zu dokumentieren sind. Laut Paragraph 4, Absatz 2 dieser Verordnung hat der Arbeitgeber bei Bildschirmarbeitsplätzen, die bis zum 20. Dezember 1996 in Betrieb waren, "geeignete Verbesserungsmaßnahmen" zu treffen, wenn:

-sich die Arbeitsplätze wesentlich ändern werden (zum Beispiel neue technische Ausstattung, Änderung der Aufgabenstellung) oder

-wenn die Beurteilung der Arbeitsbedingungen ergeben hat, daß durch die Arbeit an diesen Arbeitsplätzen die Gesundheit der Beschäftigten gefährdet ist.

Die Verbesserungen müssen endgültig bis zum 31. Dezember 1999 umgesetzt sein, das heißt also, die Unternehmen können sich mit dem ganzen Thema noch ein wenig Zeit lassen, am 21. August dieses Jahres muß "nur" angefangen werden.

Soweit scheint in der Theorie alles klar zu sein. In den Unternehmen sorgen die Paragraphen dagegen eher für Konfusion.

Zunächst zur Frage der Dokumentation der Arbeitsplätze. Dietlof Rohde, Sicherheitsbeauftragter bei der TUI in Hannover, ist nicht klar, wie umfangreich die Arbeitsplatzanalysen sein sollen. Und ehe er sich doppelte Arbeit macht, wartet er auf die Anweisungen der Berufsgenossenschaft. Die habe schon seit geraumer Zeit eine Diskette beziehungsweise eine CD-ROM zu diesem Thema mit Checklisten und konkreten Hilfen angekündigt: "Nun habe ich erfahren, daß sie im August noch nicht fertig sein wird."

Klaus-Ulrich Kuhnla vom Münchner Gewerbeaufsichtsamt sieht genau diese Freiheit in der Erstellung der Dokumentation als großen Vorteil für die Firmen. Seiner Ansicht nach würde es ausreichen, wenn die Betriebe zunächst Protokolle von Arbeitsplatzbegehungen vorweisen könnten.

Dafür sei die Verordnung aber nicht gedacht, ärgert sich Berater Schurr. "Die Unternehmen sollen diese Analysen doch nicht deshalb machen, um wieder einen Tagesordnungspunkt abgehakt zu haben." Es gehe im Endeffekt darum, die Arbeitsumgebung so zu gestalten, daß die Motivation der Mitarbeiter steige.

Christine Meier, Ergonomie-Expertin von der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) in Düsseldorf, ist skeptisch: "Ich kenne kein Un- ternehmen, das bis zum 21. August eine Dokumentation vorlegen kann."

Allerdings scheint das auch nicht nötig zu sein, da die Sicherheitsexperten der Berufsgenossenschaften und der Gewerbeaufsichtsämter nicht am Stichtag bei den Unternehmen vor der Türe stehen werden, um die Nachweise zu verlangen. Ergonomie-Experten behaupten nämlich, daß diese Ämter unterbesetzt und das Personal für die Aufgabe nicht ausgebildet sei. Darüber hinaus gelten Bildschirmarbeitsplätze im Bewußtsein der Beamten nicht als gefährlich, Arbeitsplätze in der Industrie genießen Priorität.

Das bestreitet Kuhnla: "Seit Jahrzehnten untersuchen wir Bildschirmarbeitsplätze". Selbstverständlich sei das Personal gut ausgebildet und gut vorbereitet. Im übrigen verstehe er die ganze Aufregung um die Norm nicht. Aus seiner Sicht habe sich in den vergangenen Jahren nichts nennenswertes Neues ergeben.

Diese Ansicht können Ergonomie-Experten nicht teilen. Sie weisen vor allem auf folgende wichtige neue Vorgaben der Verordnung hin:

-Beachtung sowohl physischer als auch psychischer Aspekte, basierend auf einem ganzheitlichen Gesundheitsverständnis;

-Arbeitsplatzanalysen und Verbesserungsmaßnahmen;

-neben der allgemeinen Unterrichtung gezielte Unterweisung am Arbeitsplatz;

-Beteiligung der Beschäftigten sowie

-Informationspflicht über arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse.

Insbesondere ein Punkt macht den Praktikern zu schaffen: der Nachweis der psychischen Belastungen an Bildschirmarbeitsplätzen. Die Lufthansa ist seit Monaten auf der Suche nach einem Verfahren, mit dem sich diese Belastungen objektiv ermitteln lassen. "Im Rahmen eines Benchmarkings mit euro- päischen Fluggesellschaften ist herausgekommen, daß auch die anderen Airlines bei diesem Thema nicht viel weiter sind, obwohl in diesen Ländern die europäische Richtlinie bereits seit vielen Jahren in nationales Recht umgesetzt ist", berichtet Rainer Wittenbecher, Sicherheitsingenieur bei der Lufthansa in Hamburg. Lediglich die Engländer hätten in ihr "Employee Assistant Programme", in dem es um die Sozialbetreuung von Mitarbeitern geht, die Regelungen der Bildschirmverordnung aufgenommen.

Mangels geeigneter Vorbilder werde man nun in einem Pilotprojekt versuchen, eine Methode zu entwickeln, mit deren Hilfe aussagefähige und verläßliche Ergebnisse erzielt werden können. "Wir wollen keine Scheinaussagen, sondern objektive Ergebnisse, die als Basis für konkrete Maßnahmen dienen." Die Methode müsse einfach in der Anwendung, leicht verständlich und vertrauensbildend sein.

Noch sind aber die wenigsten Firmen bereit, großen Aufwand zu treiben. Von Microsoft war beispielsweise zu erfahren, daß ein externer Berater die Arbeitsplatzanalyse vorgenommen habe. In einem nächsten Schritt sollen Ergonomie-Empfehlungen folgen. Da der Softwarehersteller an allen 650 Arbeitsplätzen in Deutschland Hard- und Software einsetze, die dem aktuellen Stand der Technik entspreche, sei das Thema für das Unternehmen damit weitgehend erschöpft.

Selbst die große Telekom reagierte auf die Frage nach der Umsetzung der Bildschirmverordnung überrascht. Dort hieß es diplomatisch, man sei "dran an der Arbeitsplatzanalyse", die Zentrale erarbeite die Rahmenbedingungen, und die Arbeitsschutzbeauftragten vor Ort würden sich um die Umsetzung kümmern. Bei der Deutschen Bank wurde das Thema in der Regel an die sogenannten PC-Beauftragten delegiert.

Interne Spezialisten helfen den Kollegen

Das sind Mitarbeiter in den Fachabteilungen, die sich etwas besser mit dem DV-Equipment auskennen als normale Endanwender und bereit sind, ihren Kollegen zu helfen. Immerhin sind alle Bankbeschäftigten in den Genuß der Broschüre "Ergonomie am Arbeitsplatz" gekommen. Bei Deutschlands größtem Versicherungskonzern, der Allianz, verrät Sprecher Wolfgang Heilmann, würden die Führungskräfte mit dem Thema vertraut gemacht, damit sie ihr Wissen dann an ihre Mitarbeiter weitergeben könnten.

Klare Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung der Ergonomievorschriften ist allerdings die Beteiligung der Mitarbeiter. TUI-Sicherheitsexperte Rohde kommt sich manchmal hilflos vor, wenn er beobachtet, daß Mitarbeiter seine Empfehlungen nicht berücksichtigen. In dem Zusammenhang sei es genauso wichtig, das Bewußtsein der Manager und der Mitarbeiter für die Problematik zu schärfen. Ein Berater fand dazu folgenden treffenden Vergleich: Vor 20 Jahren trug kaum ein Mitarbeiter einen Helm auf dem Bau, heute fast jeder. Man könne nicht erwarten, daß sich durch eine zehnminütige Aufklärung das Verhalten der Beschäftigten ändern werde.

Daß es sich lohnt, in Umgebung und Bewußtsein der Büromitarbeiter zu investieren, belegt der Freiburger Schurr mit folgenden Zahlen. Aufgrund der mangelhaften Arbeitsplatzgestaltung reduziere sich das Leistungspotential der Beschäftigten um 30 bis 50 Prozent. Dabei koste die Verbesserung von Bildschirmarbeitsplätzen weniger als ein Prozent der jährlichen Personalausgaben.

Ärger mit dem kreuz

Krankenkassen machen sich Sorgen über die zunehmende Zahl von Erkrankungen infolge von Büroarbeiten. Angestellte verbringen während des Berufslebens durchschnittlich 80000 Stunden im Sitzen, mit der Konsequenz, daß Rückenleiden der häufigste Grund für Arztbesuche sind.

-Ein Drittel der Bevölkerung zwischen 35 und 50 leidet an chronischen Rückenschmerzen.

-Ein Drittel aller Fehlzeiten sind auf Muskel- und Skeletterkrankungen zurückzuführen.

-Je Bandscheibenfall ergeben sich im Durchschnitt 53 Ausfalltage.

-Der Kostenanteil für Heilmaßnahmen bei Erkrankungen des Bewegungsapparates liegt konstant bei 39 Prozent aller Ausgaben der Krankenkassen.