"OSI als Esperanto der DV ist eine Illusion "

Festlegung auf bestimmte Hersteller setzt andere Akzente

27.10.1989

Wenn es um DV-Planungen und -Installationen geht, hängt das Wohl und Wehe in den Unternehmen bisher nur selten von ISO/OSI ab. Die Frage nach offenen Kommunikations- Standards spielt eine eher untergeordnete Rolle. Ein wesentlicher Grund für die

OSI-Nebensächlichkeit liegt wohl darin, daß die gegebene Hardware-Landschaft und die Festlegung auf einen oder auch mehrere Hersteller dem Anwender wenig Spielraum läßt. Zudem gibt es außer OSI auch andere durchaus passable Lösungen wie Gateways, die den Übergang in eine andere Rechnerwelt gewährleisten. Auf die Dauer soll zwar offenen Systemen ein höherer Stellenwert zukommen, aber diesbezügliche Zukunftsaussichten sind oft vage. Zurückhaltung wird nicht zuletzt auch deswegen geübt, weil viele ISO/OSI-Produkte noch die Hürde der FZZ-Zulassung nehmen müssen und ihnen damit derzeit ein neutrales Gütezeichen fehlt.

Wir sind ein sehr stark Mainline-ausgerichteter Anwender, das heißt, wir haben große IBM-Umgebungen und wir versuchen, alles von einem Hersteller zu kaufen, so daß wir von ISO/OSI nur indirekt tangiert werden", meint Wolfgang Haas, Leiter der Anwendungsprogrammierung bei Neckermann aus Frankfurt.

Um einerseits ungestört in der IBM-Welt bleiben zu können, sich aber andererseits doch für eine Kommunikation mit offenen Kommunikationsprotokollen zu rüsten, denkt das Versandhaus an die Errichtung und Inanspruchnahme einer Clearing-Stelle bei einem Unternehmen, das dem Einsatz entsprechender Produkte auch wirklich gewachsen ist. Als ISO-Vermittler kommt unter anderem General Electric in Betracht. Haas: "Bei uns sind Edifact-Protokolle in der Planung. Allerdings nicht in der Weise, daß wir auf eine Schnittstelle fixiert sind, die auch eine Protokollkonvertierung vornehmen kann. Eine Clearing-Stelle sei besser in der Lage, die Aufgabe der Anpassung und Umsetzung zu bewältigen.

Neben dem "Electronic Data Interchange for Administration, Commerce and Transport" (Edifact), den Haas aufgrund einer möglichen Beschleunigung von Beschaffungswegen gerade für den Handel als wichtige Sache ansieht, will Neckermann auch den E-Mail-Standard über die Clearing-Stelle laufen lassen. Darüber hinaus spielen für das Unternehmen SNA/ISO-Übergänge eine wichtige Rolle. Haas tendiert beispielsweise sehr zu LU 6.2, um auf einem Standardprotokoll mit Standardunterstützung verteilte Anwendungen realisieren zu können. Auch hier handelt es sich also um eine strategische Entscheidung für Big Blue, um sich das Leben leichter zu machen. Die DV-Verantwortlichen von Neckermann müssen dafür allerdings in Kauf nehmen, daß sich der Marktführer verhältnismäßig viel Zeit mit Migrationen und Kommunikationsübergängen läßt.

Bei dem Automobilhersteller Audi aus Ingolstadt sind ISO/OSI-Implementierungen durch einmal getätigte Investitionen Grenzen gesetzt. Gerhard Wächter, zuständig für Grundlagen, Entwicklung, Datenverarbeitung und Kommunikation: "Es gibt schon eine Reihe von Herstellern, die Produkte anbieten. Aber nachdem die Landschaft in erster Linie durch Installationen von IBM und DEC geprägt ist, hat man in der Vergangenheit natürlich stark die eigenen Produkte der Hersteller eingesetzt". Zur Zeit könne es die Firma den betriebswirtschaftlichen Nutzen einer Umstellung nicht genau ermessen, zudem realisierte man die Dienstleistungen zum Teil heute auf der Basis von VDA-Normen.

Alles in allem müsse der Einsatz von OSI-Produkten im Moment noch als verfrüht angesehen werden, weil Normungen wie Odette und Edifact noch nicht als ausgereift bezeichnet werden könnten. Auf die Dauer sollen aber auch bei Audi offene Standards Fuß fassen. Wächter: " Ich glaube, daß die einzige Möglichkeit, wirklich Electronic-Mail zu realisieren, darin besteht, den Kommunikations-Austausch auf der Basis von X.400 und X.500 durchzuführen." Kleinere Pilotinstallationen mit diesen Protokollen sind bereits vorhanden. Er bemängelte aber, daß den auf diese Normen ausgerichteten Produkten oft noch ein neutrales Gütesiegel fehlt.

Als einfache pragmatische Lösung solle darüber hinaus Telefax zum Zuge kommen. Derzeit realisiert ist eine DEC-Bürokommunikationsumgebung mit Teletex. Zur Debatte stand auch die Verwendung von Disoss. Diese Architektur habe sich jedoch als ungeeignet erwiesen, da sie hohe Ressourcen erfordere, zu kompliziert und zudem unrentabel sei. Als brauchbarere Lösung könne sich vielleicht das von IBM in Aussicht gestellte Repository erweisen. Wächter geht davon aus, daß die Zahl der verfügbaren Produkte in der nächsten Zeit immer mehr steigen wird, wobei sich insbesondere Softwarehäuser dieses Bereichs annehmen würden. Er habe den Eindruck gewonnen, daß gerade große Hersteller wie eben beispielsweise IBM und DEC im Endeffekt kein gesteigertes Interesse daran hätten, sich für eine offene Kommunikation zu engagieren. Das Hauptgewicht liege hier auf dem Angebot der eigenen leistungsfähigen Netze. Bei den kleineren Firmen glaubt er, mehr OSI-Engagement anzutreffen.

Als weiteres Problemfeld sieht der Ingolstädter Automobilbauer den MAP-Standard an. Schwierigkeiten ergäben sich beispielsweise deswegen, weil MAP in seiner bisherigen Ausprägung die Ethernet-Spezifikationen 8023 auf der zweiten Ebene des Schichten-Modells nicht akzeptiere. Erst die Minderzahl der Hersteller würde den diesbezüglichen MAP-Anforderungen gerecht.

Die im Rahmen dieser CW-Umfrage eingeholten Antworten haben etliches gemein: Die Anwender befürworten auf lange Sicht zwar den Einsatz offener Standards, gehen jedoch mehr in ihrer eigenen Rechnerwelt auf. Da es aber auch hier oft nicht ganz ohne Probleme abgeht, erscheint eine Migration um so fragwürdiger und schwieriger. Hinzu kommt, daß Firmen-Niederlassungen noch keine ausgereiften BK-Installationen vorweisen können und der "Schuh oft wo ganz anders drückt". Außerdem stehen die DV- und BK-Verantwortlichen mit entsprechenden Implementationen und fertigen Produkten - wenn überhaupt vorhanden auf Kriegsfuß. So war beispielsweise zu hören, X.400-Software sei zu teuer und ihre Inbetriebnahme mit einem hohen organisatorischen Aufwand verbunden. Um den E-Mail-Standard einzusetzen, benötige man häufig zusätzliche Hardware. Schlechte Note erhielt auch FTAM (File Transfer Access and Management): Für diesen Standard fehle die Software noch gänzlich. Zu bedenken geben wurde außerdem, daß de Einsatz von offenen Standard wie Edifact Reibungsverlust durch programmtechnische Anpassungen nach sich ziehen könne.

Ulrich Koppelmeyer, Senior Management Consultant bei Unilever in Hamburg, gibt gegenwärtig dem Transmission Control Protocol/Internet Protocol die besseren Chancen als OSI: "Meistens muß man heute noch auf TCP/IP zurückgreifen. Ich habe dann eigentlich keine Schwierigkeiten, meine heterogene Landschaft zu verbinden." Die Hersteller steuerten auf dieses Gebiet bisher die besseren und hinreichend erprobten Lösungen bei. Bei einigen Tochtergesellschaften von Unilever wird zu Zeit ein TCP/IP-Verbund mit

Arpa-Diensten auf der Basis von Ethernet in Erwägung gezogen.

Koppelmeyer sieht es auch als Manko an, daß man bei ISO-Produkten auf die Angaben der Hersteller angewiesen ist und darum von einer Entscheidung leichter wieder abrückt. Abhilfe schaffe hier eigentlich ein neutrales Gütezeichen für die Komponenten. Zum Teil kommen bei Unilever Produkte aber auch deswegen nicht in Betracht durch die Bevorzugung von DEC, IBM und HP als Hardware-Lieferanten eine Weichenstellung

schon erfolgte.

Im Zusammenhang mit der OSI-Thematik nicht übersehen werden sollte noch ein ganz anderer Punkt, den OSI-Verfechter oft mehr oder weniger außer acht lassen. Zunächst einmal bedingen Infrastruktur und Ausrichtung eines Unternehmens, einer Organisation oder einer Verwaltung, ob OSI überhaupt in Frage kommt oder nicht. Unternehmen aus der Chemie- oder Automobilindustrie - um nur zwei Branchen zu nennen - und generell Firmen mit dem Bedarf, eine weitverzweigte und vielschichtige Kommunikation zu betreiben, haben

hier ganz andere Ausgangsbedingungen als beispielsweise Versorgungsbetriebe. So erklärt Manfred Zilk, Leiter Datenverarbeitung bei den Stadtwerken Bremen: "OSI ist für uns kein Thema. Wir haben also keine Probleme und auch keine Anwendungen. Es müsse ja erst mal die Wendigkeit gegeben sein, Nachrichten mit unterschiedlichen Rechnern auszutauschen. Unabhängig von dem nicht gegebenen Bedarf, vertritt Zilk aber die Auffassung, daß es um den OSl-Markt derzeit schlecht bestellt ist und speziell für den Standard Edifact noch eine definierte Schnittstelle fehlt.

Aus der Sicht von Michael Bogen, Leiter Bereich Information und Kommunikation bei der Electronic System GmbH/Gesellschaft für Logistik in München -kurz ESG/FEG, verleiht die Deregulierung und die Privatisierung Mehrwertdiensten der Industrie weiteren Aufschwung. "Wenn die Infrastruktur einmal vorhanden ist, dann wird auch die Normung schneller vorangehen, und wenn es darum geht, die Sache wirtschaftlich anzupacken, ist

die Industrie sehr schnell." Je qualifizierter die Normung sei, desto weniger täten sich Abgründe auf dem Produktsektor auf. Der Anwender treffe auch heute schon eine ganze Reihe ernstzunehmender Produkte an. Bogen erklärt, daß der Standard X.400 bereits als gesichert angesehen werden könnte, während Edifact erst einen schmalen gemeinsamen Nenner aufweise und die Verwendung dieser Norm noch vieler Adaptionen bedürfe.

Insgesamt weniger optimistisch gibt sich Otto F. Schröter, Kommunikationsberater beim Ingenieurbüro für Kommunikationstechnik in Lossburg: "Die Hersteller beschäftigen sich zwar alle mit OSI, aber die Umsetzung in entsprechende Produkte zieht doch wesentlich größere Entwicklungsarbeiten nach sich als das ursprünglich gesehen wurde. Dabei ist die Software besonders kritisch." Die Verzögerungen ließen sich in erster Linie auf Zeitmangel, Kosten und Personalmangel zurückführen. Erstaunlicherweise sei IBM hinsichtlich der Umsetzung von OSI-Verfahren am weitesten.

Ob dieses Angebot von IBM-Kunden im ausreichenden Maße genutzt würde, sei allerdings eine andere Frage.

X.400 steckt für ihn noch in den Kinderschuhen, aufgrund eines Mangels, an Teilnehmern. Bekannt sei ja auch, daß sich das Telebox-System nicht den Posterwartungen gemäß durchsetzt. Schröter legt den Hauptakzent seiner Aussage aber nicht auf verfügbare ISO/OSI-Komponenten; aus seiner Warte sollte man diesen Bereich nicht überbewerten: "Die Leute, die für die Verständigungsfähigkeit zwischen unterschiedlichen Systemen ausschließlich auf OSI setzen, kommen mir manchmal vor wie Menschen, die vor hundert Jahren Esperanto als die Sprache der ganzen Welt angesehen haben. Ich glaube nicht, daß es ein Esperanto der Datenverarbeitung geben wird, weil das einfach nicht machbar ist. "Neben OSI gebe es andere Möglichkeiten, die Verständigung zwischen verschiedenen Systemen zu realisieren, so durch Protokollkonverter oder Gateways. Zu denken sei hier beispielsweise an Kommunikationsübergänge zwischen Decnet und SNA.

Schröter versucht auch geltend zu machen, daß die Anwender teilweise eingefahrene Gleise nicht verlassen können und auch gar nicht wollen. Unterschiedliche Entwicklungen machten es nahezu unmöglich, alles über einen Kamm zu scheren. Außerdem fehle es in den Unternehmen oft an qualifiziertem Know-how, um auf OSI umzuschwenken und die Migration ohne eine Störung der täglichen Routine zu bewerkstelligen. Minuspunkt auch auf der Anbieterseite: Es hapere am Support von seiten der Hersteller.

Neben der Frage nach dem Angebot von Produkten und der Notwendigkeit von OSI-Kommunikation spielt die FTZ-Zulassung der Komponenten eine wesentliche Rolle. An diesem Punkt hakt Klaus Höring, Geschäftsführer beim Betriebswirtschaftlichen Institut für Organisation und Automation an der Universität zu Köln (BIFOA) ein. Bis jetzt handelt es sich bei E-Mail vornehmlich um geschlossene Benutzergruppen in Unternehmungen und Konzernen. Das offene Modell wird aber erst wirklich gebraucht, wenn die Deutsche Telecom die Mittlerrolle zwischen unabhängigen Kommunikations-Partnern einnehmen kann." Die gegenwärtige Situation lasse den Einsatz der genannten Bürokommunikations-Normen auch noch nicht so dringlich erscheinen. Im Zusammenhang mit geschlossenen Benutzergruppen stünde nicht so sehr der offene Standard im Vordergrund, weil sich die Anwender für eine einheitliche Hard- und Software entscheiden können.

Von einer offenen X.400-Nutzung könne man erst dann reden, wenn es eine Administration Domain als E-Mail-Zentrale gebe. Damit sei es aber auch dringend notwendig, daß die Produkte der X.400-Anbieter in Wiesbaden getestet würden. Der BIFOA-Geschäftsführer beklagt, daß die Hersteller zwar alle behaupteten, OSI-Produkte anbieten zu können, die Zulassung aber meistens noch ausstehe. Er merkt auch an, daß auf der letzten Hannover-Messe CeBIT der X.400-Betrieb eigentlich nur vorgetäuscht wurde. Höring: "Wenn man von Terminal 1 zu Terminal 2 etwas senden wollte, dann ging das über ein Mail-Vermittlungs-System in Paris. Damit wurde aber erst ein X.400-Dienst simuliert."

Ein weiterer Aspekt, den der BK-Experte vom BIFOA anschneidet: X.400 bedeutet im Grunde genommen die Standardisierung des Briefumschlages und des Kopffeldes eines Briefbogens mit Adresse, Betreff, Datum, Bezug, Absender etc.

Wesentlich sei aber auch die Standardisierung des Schriftgutinhalts mit Kriterien wie Unterstreichung, Fettschrift, Kursivsatz, Absätzen und Fußnoten. Insofern müßte die Bedeutung der Normen ODA (Office Dokument Architecture), ODIF (Office Document Interchange Format) und SGML (Standard Generalized Mark-up Language) stärker in den Vordergrund treten.

Die beiden erstgenannten Standards sind von der ISO verabschiedet, die Veröffentlichung von ODA erfolgt allerdings erst jetzt. Daß auf diesen Gebieten die Produkte fehlen, liegt laut Höring nun nicht ausschließlich am Hersteller. Es käme auch darauf an, daß die Benutzer ihre Interessen daran besser artikulieren.

Gegenwärtig marschierten hier viele Benutzer in die mit ODA vergleichbare DCA/DIA-Richtung (DCA: Document Content Architecture, DIA: Document Interchange Architecture) von IBM. Höring: "Wichtig ist, daß die Benutzer sich nicht einfach zufrieden geben mit dem, was es auf dem Markt gibt, sondern, daß es auch genügend Leute gibt, die eine offene Kommunikation bevorzugen. Es sei doch klar, daß ein Hersteller mit dem größten Marktanteil von seinen Kunden erst dazu gebracht werden müsse, einen offenen Standard zu forcieren."