Anwender sehen die hohen Kosten mit Skepsis

Fehlende Standards verzoegern die schnelle Einfuehrung von ATM

14.05.1993

Das Thema ATM eroberte sich im letzten Jahr seinen festen Platz in der Diskussion um die High-speed-Netze der Zukunft. Experten erklaerten, dass mit Hilfe der neuen Technologie Transferraten bis zu 2 Gbit/s realisierbar und bei entsprechender Hardware sogar noch zu steigern sind.

Die Grundidee des High-speed-Netzes ist gar nicht so neu: Ein breitbandiges ISDN-Netz mit hohen Uebertragungsraten ist bereits seit Mitte der achtziger Jahre im Gespraech. Bereits 1988 richtete die DP-Telekom eines der weltweit schnellsten Glasfasernetze mit Geschwindigkeiten von bis zu 140 Mbit/s ein. Dieses virtuelle Breitbandnetz (VBN) wurde zur Uebertragung von Videokonferenzen und zur schnellen Datenkommunikation konzipiert.

Laut Paul Mueller, stellvertretender Leiter des Rechenzentrums der Universitaet Ulm und Teilnehmer des VBN, hat dieses Netz jedoch den Nachteil, "dass es eine rein deutsche Inselloesung darstellt und zum anderen die Kanaele nur gemeinsam End-to-end vermittelt werden koennen".

Auch bei Nutzung eines 64-Kbit/s-Kanals muss die volle Bandbreite von 140 Mbit/s bereitgestellt werden.

An diesem Punkt setzt ATM an, da diese Technik die erforderlichen Bandbreiten bei Bedarf verfuegbar macht (Bandwidth on demand).

Ausserdem spricht gegen VBN, dass es nicht kompatibel zu den zukuenftigen Breitbandnetzen ist und die Telekom laut Mueller die Absicht hegt, den Dienst um das Siebenfache zu verteuern, womit das Medium zu ATM nicht mehr konkurrenzfaehig ist.

Zudem vereint die ATM-Technik die Vorteile paketvermittelnder Datennetze mit denen der leitungsvermittelnden oeffentlichen Technik. Einen weiteren Pluspunkt verbucht ATM dadurch, dass mit ihm eine einheitliche Technologie sowohl fuer den LAN- wie auch fuer den WAN-Bereich verfuegbar wird.

Waehrend die ATM-Diskussion sich lange Zeit um die moegliche Verwendung in oeffentlichen Netzen drehte und das CCITT und ETSI die treibenden Faktoren der Entwicklung waren, kommt seit 1991 mit der Etablierung des ATM-Forums, einer Vereinigung von weltweit ueber 170 Herstellern und Institutionen, der Innovations- und Spezifizierungsdruck auch von der LAN-Seite.

Erste Vorstoesse in Richtung einer gemeinsamen Norm fuer ein kuenftiges Breitband-ISDN beschrieb das CCITT 1988 in der Empfehlung I.121 "Broadband Aspects of ISDN". Nach dieser Stellungnahme soll die neue Breitbandtechnik auf einem asynchronen Transfermodus beruhen, dem ein paketvermittelndes Verfahren zugrunde liegt, das selbst wiederum auf dem "Asynchronous Time Divison Multiplexing" beruht.

Innerhalb des asynchronen Transfermodus werden laut Berthold Butscher, stellvertretender Leiter des Forschungszentrums fuer offene Kommunikationssysteme (Fokus) in Berlin, keine Zeitschlitze bestimmten Kanaelen zugeordnet, sondern der Sender belegt nur bei Bedarf (on demand) das Uebertragungsmedium. Die Uebertragungseinheiten bilden bei ATM sogenannte Zellen (cells), die aus einem Zellkopf, dem 5 Byte grossen Header, bestehen, sowie aus dem eigentlichen Informationsfeld mit 48 Nutzdaten-Bytes. Die Zellenlaenge ist dabei fest.

Verschiedene Layer-Spezifikationen

Der Kopf enthaelt ein Kennzeichen (VCI: Virtual Channel Identifier), mit dessen Hilfe erkannt wird, zu welchem Kanal das Nutzdatenfeld gehoert beziehungsweise ob die Zelle fuer Netz- Management-Zwecke benutzt wird. Anhand der Kanalnummer wird jede einzelne Zelle identifiziert. Die eigentliche Uebertragungsrate wird dabei entsprechend den unterschiedlichen Teilnehmeranforderungen auf verschiedene Nutzkanaele aufgeteilt. Niedrige Uebertragungsraten belegen so nur einen virtuellen Kanal (VC), waehrend bei hohem Bedarf mehrere Kanaele gleichzeitig genutzt werden. Allerdings ist die Ueberschreitung der angeforderten Uebertragungsrate innerhalb eines bestimmten Zeitraums nicht vorgesehen.

Aehnlich wie die Uebertragungsbandbreite adressiert ATM mit Hilfe des Headers den sogenannten virtuellen Pfad (VPI) zum Empfaenger. Im Gegensatz zu anderen Methoden wie TCP/IP, das theoretisch mehrere Milliarden Adressen hat, verfuegt ATM ueber einen Vorrat im Trillionenbereich.

Darueber hinaus hat das CCITT, angelehnt an das OSI-Referenz- Modell, verschiedene Layer-Spezifikationen verabschiedet. Ueber dem Physical Layer sieht die CCITT-Empfehlung den sogenannten ATM- Layer vor, der Funktionen wie das Multiplexen eines VPs oder VCs beinhaltet und fuer das Routing sowie die Erzeugung des ATM-Headers verantwortlich ist. Zwischen den hoeheren Anwendungsschichten und dem ATM-Layer ist der ATM-Adaption-Layer (AAL) plaziert. Um die Transportcharakteristik an die zu uebermittelnden Anwendungen anzupassen, gibt es vier AAL-Typen: AAL 1 emuliert leitungsvermittelnde Dienste mit konstanter Bitrate, beispielsweise die herkoemmlichen ISDN-Funktionen. Typ 2 ist fuer Bild- und Tonuebertragungen vorgesehen. Ebenfalls auf Dienste mit variabler Bitrate ist AAL 3/4 ausgelegt, bietet aber im Gegensatz zu Typ 2 keine exakte Zeitsynchronitaet. Es ermoeglicht sowohl verbindungsorientierte wie auch verbindungslose Dienste und ist auf Uebertragungsmethoden wie X.25, Frame Relay oder TCP/IP abgestimmt.

Zwar kommt AAL 3/4 noch in den Empfehlungen der CCITT vor, in den Spezifikationen des ATM-Forums findet der Layer jedoch keine Beruecksichtigung mehr. Die Hersteller favorisieren laut Nikolaus von der Lancken, Netzwerk-Consultant und Projekt-Manager bei Conware, den AAL-5-Dienst als Ersatz fuer AAL 3/4. AAL 5 ist dem Consultant zufolge einfacher aufgebaut und wird vorausichtlich als erster Adaption Layer in der Praxis zur Verfuegung stehen. Durch seinen einfachen Aufbau ist AAL 5 auch unter dem Synonym "Simple and Efficent Adaption Layer" (SEAL) bekannt. Lancken geht davon aus, dass dieser von Herstellerseite vorangetriebene Layer sich als Standard etablieren wird.

Neben der Frage nach den Adaption Layern herrscht in bezug auf eine kuenftige ATM-Spezifikation noch in weiteren Punkten Unklarheit: Wie sieht die kuenftige Signalisierung des D-Kanals zum Verbindungsaufbau aus? Darueber hinaus ist laut Butscher auch die Frage des Traffic Controls noch nicht endgueltig geklaert. Was passiert, wenn ein Anwender ploetzlich sehr viel mehr uebertragen will? Fallen die Daten wirklich, wie momentan vorgesehen, aufgrund fehlender Fehlererkennungs- und Behebungsverfahren einfach unter den Tisch? Oder entscheiden sich die Gremien letztlich doch noch fuer einen Flusssteuerungs-Mechanismus, der bisher nicht vorgesehen ist?

Ein anderes Problem stellt die kleine Zellengroesse von ATM dar. Denn diese Zellen sind zugleich der groesste Vorteil wie auch der groesste Nachteil der Uebertragungstechnik. Einerseits ermoeglichen sie erst die Sprach-und Videouebermittlung, andererseits produzieren sie einen grossen Overhead, da jede Zelle die Adressierungskoepfe mituebertraegt. Bei einer Transferrate von 140 Mbit/s betraegt der eigentliche Durchsatz an Nutzdaten nur noch 100 Mbit/s. So ist fuer Butscher ATM bei kleinen Datenmengen, wie sie beim File-Transfer auftreten, eine wenig effiziente Loesung.

Doch welche Vorteile bringt ATM nun in der Praxis, ausser "dass man mit der neuen Technik Geld verdienen kann", wie Klaus Rebensburg, Leiter der Prozessrechnerverbundzentrale der TU Berlin, die derzeitige ATM-Euphorie kommentierte? Zum einen bietet die neue Technologie durch Bandwidth on demand die Moeglichkeit der Integration von Daten, Sprache und Video in einem einzigen Netz. Hier eignet sich das Medium in den Augen von Butscher in erster Linie fuer multimediale Anwendungen wie Telemedizin, Videokonferenzen, digitale Bildkommunikation, Telepublishing sowie den Versand multimedialer Nachrichten. Darueber hinaus ermoegliche ATM die neue Arbeitsform der "Multimedia Collaboration": Ueber PCs arbeiten Personen an verschieden Orten gemeinsam am gleichen Projekt und tauschen, waehrend sie diskutieren, Bilder, Daten, Texte etc. am Bildschirm aus.

Einen anderen Aspekt hebt Mueller hervor, der davon ausgeht, dass ATM mit seiner Zellorientierung auf Hardware-Ebene einfacher zu realisieren ist als FDDI mit seinen verschiedenen Pakettypen. Dadurch, so ist der Kommunikationsexperte ueberzeugt, werde ATM letztendlich billiger als ein FDDI-Netz sein. Ausserdem spreche fuer ATM, das unabhaengig von der benutzten physikalischen Schicht und deren Uebertragungsverfahren ist, dass bestehende Techniken wie FDDI, FR, SMDS, Ethernet und andere leicht in ein ATM-Netz integrierbar sind.

So sieht Georg Goebel von der Telemation GmbH in Kronberg FR als Feeder fuer ATM-WANs. Klaus Lohse, Cellware GmbH Berlin, betrachtet ATM dagegen als transparente WAN-Verbindung fuer Ethernet oder Token Ring oder fuer Campus-Netze wie FDDI, die mittels Router an ein ATM-Netz angeschlossen werden. Als Schnittstelle zu ATM existiert hierfuer die von Herstellern entworfene Spezifikation "HSSI/DXI", die Transferraten von rund 35 Mbit/s erlaubt. Andere Experten wie Theo Vollmer, Support Manager der Synoptics GmbH, glauben an die Verwendung von ATM als schnelles Backbone im LAN- und Corporate-Network-Bereich. Zudem biete sich hier der Vorteil, dass ueber das Glasfaser-Backbone gleichzeitig auch noch die Uebertragung von Sprache und Video realisierbar sei und so die kostenintensive Mehrfachverkabelung entfalle. Auf Etagenebene sieht Vollmer den Trend zu Level-5-Kabeln gehen.

Mueller, der momentan selbst ein Gebaeude so zu verkabeln hat, dass es auch fuer Zukunftstechniken wie ATM geeignet ist, raet anderen Anwendern eingehend, nicht nur auf die moegliche Uebertragungskapazitaet des Mediums zu achten, sondern auch auf seine Bandbreite. Denn diese sei bei neuen Techniken wie ATM entscheidend, da hier schnell Frequenzen im Bereich von 600 Megahertz erreicht wuerden und dann Kabel und Steckdosen oft nicht mehr den erforderlichen Abstrahlungsschutz boeten. Anwendern, die keine Lust haben, bereits nach fuenf Jahren ihr Gebaeude wieder aufzureissen, weil die Kabeltechnik nicht den neuen Uebertragungsverfahren entspricht, empfiehlt der DV-Experte, "dem Hersteller auf die Fuesse zu treten" und Garantien ueber die Verkabelungsstrategie zu verlangen.

Sowohl Referenten als auch Anwender waren sich einig, dass ATM wohl zuerst lokal und dann erst im WAN-Bereich eingesetzt werde. Diese Einschaetzung wurde oft mit dem starken Engagement des ATM- Forums auf der LAN-Seite begruendet, ferner mit der Vernebelungstaktik der Carrier, die bisher nicht dazu bereit sind, die zu erwartenden ATM-Kosten auch nur in einem Groessenrahmen zu beziffern.

Abb: Switching-Prinzip der ATM-Technologie

Bandwidth on demand: Je nach Uebertragungsbedarf schaltet ATM mehrere virtuelle Kanaele zu einem Uebertragungspfad zusammen. Quelle: Gesellschaft fuer Europaeische Wirtschaftsinformation/Referat: Paul Mueller