Geringer Anpassungsaufwand durch Integration von Künstlicher Intelligenz:

Expertensysteme verbessern den Nutzen von Software

15.09.1989

"Künstliche Intelligenz" und "Expertensysteme" gehören zu den Schlagworten, die in den vergangenen Jahren immer wieder heiß diskutiert wurden. Völlig neue Anwendungen sollten damit möglich werden. Bislang allerdings war davon nur wenig zu sehen. Für Klaus Fagenzer* ist der Grund dafür eine zu starke Trennung der Welten. Anhand eines PPS-Systems zeigt er, was die Integration eines Expertensystems In ein kommerzielles Anwendungssystem bringen kann.

Die derzeit verfügbaren KI-Produkte sind eigenständige Anwendungen, die eine spezielle Nische im Standardsoftwaremarkt besetzen. Einem umfangreichen Angebot an konventionellen kommerziellen Anwendungssystemen steht ein relativ kleines Angebot an Expertensystemen beziehungsweise Expertensystemshells gegenüber. Berührungspunkte gibt es kaum.

KI-Bestandteile für konventionelle Programme

Diese Trennung ist keineswegs wünschenswert, denn der Nutzen einer Kombination von konventionellen Anwendungssystemen mit Künstlicher Intelligenz könnte gewaltig sein. Daß diese möglich ist, zeigen konkrete Konzepte der Bad Nauheimer Aperia Software, die derzeit im Rahmen eines Kundenprojektes die Integration eines Expertensystems in ein PPS-System auf einem kommerziellen Rechner realisiert.

In den letzten Jahren hat die Informationstechnik erhebliche Fortschritte gemacht und einen hohen Grad an Marktdurchdringung erreicht. Sie hat vor allem verstärkt Einzug in die Planung, Vorbereitung, Überwachung und Steuerung der Produktion gehalten, Anwendungen, deren Notwendigkeit sich immer dringlicher aus veränderten Marktanforderungen mit geringen Stückzahlen, kleineren Losgrößen und flexiblerer Produktion ergibt.

Schwierige Anpassung an Unternehmensbedürfnisse

Für solche Anforderungen bietet der Markt eine Reihe fertiger Lösungen als Standardprodukte an. Diese kommerziellen Standardanwendungen treten dabei mit dem Anspruch auf, eine fix und fertige Lösung für ein bestimmtes Anwendungsproblem - wie etwa PPS oder Auftragsverwaltung - zu bieten.

Gerade im PPS-Bereich muß der Endbenutzer häufig schnell erkennen, daß die Standardsoftware ohne individuelle Anpassungen nicht brauchbar ist. Er selbst ist dazu in der Regel nicht in der Lage. Schon kleine Modifikationen müssen von EDV-Spezialisten in oft langwieriger und kostenintensiver Arbeit eingebaut werden.

Derartige Standardanwendungen richten sich an zweierlei Adressaten: einerseits an den Endbenutzer in der Fachabteilung, der über das erforderliche Anwendungswissen verfügt, gewöhnlich aber nicht die notwendigen EDV-Kenntnisse hat, um ein solches System entsprechend den innerbetrieblichen Anforderungen anzupassen. Andererseits richten sie sich an EDV-Fachleute wie Organisatoren und Programmierer, denen wiederum das Anwendungswissen aus den Fachabteilungen fehlt, die jedoch als einzige in der Lage sind, ein kommerzielles Anwendungssystem zu modifizieren.

Ist eine Modifikation nicht ohne weiteres durchzufahren, bleibt nur die Alternative, innerbetriebliche Abläufe entsprechend den Anforderungen des Anwendungssystems zu reorganisieren - ein ebenfalls zeit- und kostenaufwendiger Prozeß, der nur selten zu befriedigenden Lösungen führt. Auch andere Ansätze, wie Anwendungen, die sich über Parameter auf die spezifischen Anforderungen zuschneiden lassen, stellen nur bedingt eine Alternative dar. Denn jeder einzelne Parameter muß vom Entwickler des Systems vorgegeben sein. Jeder fehlende Parameter verhindert eine problemlose Anpassung. Darüber hinaus ist eine Anpassung immer dann sehr schwierig, wenn sich völlig neue Anforderungen stellen - etwa die Aufnahme einer zusätzlichen Produktfamilie in die Produktion.

Aufgrund der Individualität und Vielfalt der Abläufe, gerade in den Bereichen Produktion und Logistik wird diese mangelnde Flexibilität kommerzieller Anwendungssysteme zu einem echten Problem.

Fachleute bauen Expertensysteme aus

Demgegenüber stellen Expertensysteme beziehungsweise Expertensystemshells allgemeine, äußerst flexible Lösungen für eine ganze Klasse von ähnlich strukturierten Anwendungsproblemen dar.

Als Benutzer sind eigentlich die Endanwender selbst angesprochen. Sie bekommen mit dem Expertensystem die Möglichkeit, ihre spezielle Problemlösung aufgrund ihres Anwendungswissens selbst zu formalisieren und anschließend zu nutzen. Da jedoch die jeweilige Problemlösung in der Expertensystemshell in keiner Weise vorstrukturiert ist, muß der Anwender seine Aufgabenstellung selbst strukturieren und die Lösung innerhalb des Expertensystems von Anfang an abbilden.

Der Endbenutzer ist damit häufig überfordert. Letztendlich kann er die ihm verfügbar gemachte Flexibilität nicht benutzen. Ein neuer Typus des EDV-Fachmanns ist gefragt: der Wissensingenieur.

Ein Fortschritt bei dieser Problemstellung ist durch die Integration der Expertensystemarchitektur in die Anwendungssysteme vorstellbar. Diese Variante stellt Problemlösungen zur Verfügung, die konventionell so weit vorstrukturiert sind, daß der Anwender sich daran orientieren kann. Wie eine solche Integration denkbar ist, soll im folgenden gezeigt werden.

In einem klassischen kommerziellen Anwendungssystem sind alle Eingabedaten, alle Verarbeitungsregeln und alle Ausgabedaten des Systems von Anfang an vom Organisator und Programmierer vorgedacht und fest gelegt.

Demgegenüber besteht die grundsätzlich neue Dimension des Expertensystems darin, daß der Endbenutzer selbst die Ein- und Ausgabedaten sowie die Regeln für die Überführung von Eingaben in Ausgaben festlegt.

Dazu bestehen Expertensysteme aus drei Komponenten:

- der Benutzerschnittstelle zum Mensch-Maschine-Dialog,

- der Schlußfolgerungsmaschine, die Fakten nach verschiedenen Regeln verknüpft, und

- der Wissensbasis, in der alle Regeln sowie die vorhandenen Fakten aus dem jeweiligen Wissensgebiet gespeichert werden.

Erweitert man ein kommerzielles Anwendungssystem um diese Komponenten, kann der Anwender prinzipiell die vom Programmierer vorgedachten Ein- und Ausgabedaten um selbstdefinierte Ein- und Ausgabedaten und deren Verarbeitungsregeln ergänzen.

Die Stücklisten sollen einfach zu variieren sein

Die elegante Formulierung und Prozessierung von Variantenstücklisten stellt ein besonders schwieriges Problem dar, das mit einer konventionellen Programmiertechnik sehr aufwendig zu realisieren ist. Mit Hilfe der Expertensystemtechnik wird die Lösung wesentlich einfacher.

Im ersten Schritt kann der Anwender einen Stücklistenkopfsatz um beliebige Daten - die Variantenkriterien - erweitern. Im Variantenbaukasten läßt man dann den Anwender die Auswahlbedingungen einer Komponente formulieren, wobei der Anwender bei den Bedingungsabfragen auf die von ihm selbst definierten Variantenkriterien des Stücklistenkopfes zugreifen kann. Das Ergebnis einer solchen Auswahlbedingung ist 'ja' oder 'nein'. Ist das Ergebnis positiv, wird die Komponente ausgewählt. Über die Definition von Variantenkriterien und Auswahlregeln kann der Anwender also ohne Programmierereingriff Konfiguratoren für beliebige Variantenartikel realisieren.

Während die ganze übrige Problemlösung der Stücklistenauflösung im Rahmen der materialwirtschaftlichen Disposition im kommerziellen Anwendungsbereich fest vorgegeben ist, kann der Anwender über die von ihm definierten Regeln (im Beispiel die Auswahlbedingungen) für die Auswahl einer Variantenbaukastenkomponente in den Ablauf eingreifen. Der dabei anstehende Anpassungsaufwand ist gering und kann zu 80 bis 90 Prozent vom Anwender selbst geleistet werden.

Da kommerzielle Anwendungssysteme in einer kommerziellen Rechnerumgebung eingesetzt werden, ist es für eine so enge Integration erforderlich, das Expertensystem auf dem kommerziellen Rechner zu implementieren. Ist dies einmal gelungen, kann man diese Technik an vielen Stellen eines PPS-Systems und auch in anderen kommerziellen Anwendungssystemen vorteilhaft eingesetzt werden.

Findet man die entscheidenden Stellen, an denen der Anwender die Flexibilität benötigt und auch überschaubar gebrauchen kann, kommt man zu einem völlig neuen, um die Möglichkeiten eines Expertensystems bereicherten Typus von hochflexiblen Standardanwendungs-Systemen.

Da bei diesem Konzept große Teile der gewünschten Anpassungen und Änderungen ohne großen Aufwand vom Endbenutzer selbst erledigt werden können, kommt diesem neuen Typ Software auch ein völlig neuer Stellenwert zu. Beispielsweise müssen bei der Software-Auswahl funktionale Abweichungen gegenüber dem vorbereiteten Pflichtenheft nicht mehr in dem hohen Maße wie heute bewertet werden.

Weniger Nachfolgelasten durch Expertensysteme

Ein weiterer Vorteil ist, daß nicht mehr, wie bisher, alle individuellen Änderungen mit dem nächsten Release der Standardsoftware immer wieder neu nachgezogen werden müssen.

Bei diesem neuen Typ von Standardsoftware behält die individuelle Wissensbasis des Anwenders unabhängig von neuen Releases der umgebenden Funktionen ihren Wert. Anwender erhalten seine Änderungen auch bei einem Releasesechsel, die Erfahrung mit Standardsoftware haben.

Mit dem hier vorgestellten Konzept verfügt der Anwender meines Erachtens über Möglichkeiten, seine EDV-Systeme schnell und zum großen Teil ohne zeitraubende und kostenintensive Programmierung den aktuellen Erfordernissen anzupassen. Ein Vorteil, der bei dem hohen Stellenwert der Systeme im Wettbewerb dem gesamten Unternehmen zugute kommt.

*Dipl.-Math. Klaus Fagenzer ist Geschäftsführer der Aperia Software GmbH & Co. KG in Bad Nauheim