Expertensysteme: Der Höhenflug ist vorläufig zu Ende

08.02.1991

Dr. Josef Krems ist Hochschullehrer an der Universität Regensburg

Viele sahen die Expertensysteme als Wegbereiter für die "Künstliche Intelligenz". Angetreten waren die Systeme als die anspruchsvollsten softwaretechnischen Unterstützungskomponenten bei der Bewältigung von komplexen Aufgaben. Ihre Leistungsfähigkeit soll insbesondere bei Problemlösungen, die Spezialwissen voraussetzen hoch ausgeprägt sein. Der Name impliziert darüber hinaus die Leistungsgüte von Experten. Die Systeme sollen Erklärungsfähigkeit besitzen, die Heuristiken des in der Praxis geschulten Experten nachbilden kennen zur Verarbeitung unscharfen und unsicheren Wissens in der Lage sein und was sonst noch ähnlich vollmundig versprochen wurde. Die Wirklichkeit sieht aber leider anders aus.

Die leichtfertige Übernahme des englischen Ausdrucks expert-system ins Deutsche war nicht nur falsch, sondern auch äußerst unglücklich. Zu viele Phantasien wurden zunächst geweckt, denen nun die ernüchternden Erfahrungen von 15 Jahren Forschung gegenüberstehen. Die Expertensysteme haben nämlich wenig mit Experten, sondern eher mit qualitativen Modellen von Weltausschnitten zu tun! Sie modellieren nicht den Experten, sondern bestenfalls Teile des bereichsspezifischen Wissens aus einer Domäne. Dies wird auch durch den Namen "wissensbasierte Systeme" dokumentiert, der sich als Alternative zu dem Wort Expertensystem glücklicherweise etabliert hat.

Betrachtet man die bislang entwickelten Systeme, dann ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle von einer Erklärungskomponente nichts zu sehen. Was hier als Erklärung angeboten wird, ist im ungünstigen Fall ein etwas aufpolierter Trace und im günstigen Fall eine einfache Hilfetaste. Von dynamisch erzeugten Begründungen oder Rechtfertigungen von Schluß. Folgerungen keine Spur!

Trotz aller Einschränkungen ist festzustellen, daß auf der Forschungsseite ein beachtlicher Fundus von Methoden entwickelt worden ist, der das Anwendungsfeld von DV-Techniken allgemein erweitert. Wird dieses Reservoire aber genutzt? Und wie sieht es mit der Kosten/Nutzen-Relation aus?

Auf dem letztjährigen KI-Anwenderforum in Regensburg wurden einige sehr erfolgreiche Expertensystem-Anwendungen unter anderem von Henkel, BMW, Krupp vorgestellt. Sie belegen, daß bei entsprechenden Randbedingungen die Produktivkraft wissensbasierter Systeme beträchtlich ist. Wie viele Systeme aber sind es, die sich im täglichen Routine-Einsatz befinden?

Angesichts der Forschungsbemühungen und der erheblichen Finanzmittel - allein in den zwischen 1985 und 1989 vom Bundesministerium für Forschung und Technik geförderten Projekten wurden mehr als 300 Millionen Mark ausgegeben; dazu kommen Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Beiträge aus den laufenden Etats der universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen - sind die Ergebnisse enttäuschend. Konservative Schätzungen gehen von zirka 150 eingesetzten Expertensystemen, optimistische von der etwa vierfachen Anzahl aus.

Es liegt der Schluß nahe, daß viele von den Projekten wegen ungeeigneter Organisation und Durchführung nicht geglückt sind. Ich will hier nicht Fehler aus gescheiterten Projekten auflisten, sondern aus den ernüchternden Erfahrungen Folgerungen für die hoffentlich erfolgreichere Zukunft ziehen. Entscheidend für den Erfolg ist die "Modellierung "des Sachverhalts. Nicht das rapid-prototyping mit einer bunten, aufgepeppten Shell, sondern die systematische Erhebung und Strukturierung von Bereichswissen im Rahmen spezifizierter, auf Machbarkeitsstudien basierter Problemlösungen ist grundlegend. Es gelten dabei alle Standards, die grundsätzlich für die Entwicklung von Softwaresystemen anzusetzen sind.

Die für die Entwicklung wissensbasierter Systeme verfügbaren Werkzeuge und Entwicklungsumgebungen werden immer noch mit der Behauptung angepriesen der Erwerb einer mächtigen Shell würde schon garantieren, daß Hinz und Kunz nebenbei Softwarelösungen für Aufgaben erstellen, an deren Bewältigung man sich mit herkömmlichen Verfahren bislang nicht wagte. So, als würde aus einem mittelmäßigen Klavierspieler schon durch den Einsatz eines Steinway ein Konzertpianist. Der Engpaß für die Entwicklung effizienter Systeme ist nicht die Entwicklungsumgebung, sondern die Spezifikation eines Problembereichs und die Modellierung der Domäne inklusive der verfügbaren und angestrebten Problemlösungen.

Die Auswahl einer Entwicklungsumgebung ist nämlich nicht der erste, sondern ein relativ später Schritt. Er ergibt sich unmittelbar aus einer Spezifikation der Problemlösung und der jeweiligen Randbedingungen. Außerdem sind diese Programmierumgebungen inzwischen soweit entwickelt, daß sich für die meisten Anforderungen auch passende Realisierungen finden lassen. Die Integration in die bestehende DV-Landschaft ist kaum mehr ein Problem. Dies gilt für die Software zum Beispiel bei der Anbindung an die wichtigsten Datenbanktypen als auch für die Hardware. Viele Projekte scheiterten, da als Problem nicht ein Sachthema, sondern die Auswahl einer irgendwie geeigneten Shell ganz am Anfang der Projekte stand.

Expertensystemprojekte sind ressourcenintensiv. Es reicht in der Regel nicht aus, ein Pflichtenheft zu spezifizieren und die Ausführung und Umsetzung dann der DV-Abteilung zu übergeben. Die Bereichsexperten und Anwender sind fortlaufend in den Entwicklungsprozeß eingebunden. Es ist folglich entscheidend, daß entsprechende Ressourcen von seiten des Managements bereitgestellt werden. Die Zeit der "Spielsysteme" ist vorbei. Deshalb sind Projekte zum Scheitern verurteilt, wenn die Bereichsexperten nur alle paar Wochen für kurze Zeit zur Verfügung stehen oder wenn sie nicht für die aktive Teilnahme am Entwicklungsprozeß motiviert werden.

Das Projektmanagement ist aufwendig. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen können sich Expertensystemprojekte sicherlich leisten. Eine eigene, zentrale KI-Abteilung verursacht nämlich enorme Kosten und setzt zudem voraus, daß die gesuchten Spezialisten auf dem Personalmarkt tatsächlich zu finden sind. Oder aber es werden Mitarbeiter mit Bereichsexpertise soweit in KI-Techniken fortgebildet, daß sie selbst in der Lage sind - entsprechende Hackermentalität vorausgesetzt - mit Hilfe einer Shell ein System zu bauen. Dies ist ebenfalls teuer und in der Regel unmöglich, da kaum ein Experte die hierfür notwendige Zeit tatsächlich aufbringen kann.

Bleibt also noch die -Möglichkeit der Kooperation von Bereichsexpertise im Unternehmen mit externen Spezialisten und Herstellern geeigneter Werkzeuge. Sie eignet sich, wenn für einzelne, ausgegrenzte Problemstellungen Softwarelösungen gesucht werden. Die entscheidende Schwierigkeit in der Systementwicklung ist nicht die Verfügbarkeit formaler Mechanismen, sondern die Erhebung, Dokumentation und Analyse des bereichsspezifischen Wissens. Hier sind Spezialisten gefragt, die auf dem Dienstleistungsmarkt inzwischen auch verfügbar sind. Fazit: Der Höhenflug der Expertensysteme ist vorläufig zu Ende. Die Gunst des Publikums hat längst andere Modethemen in Beschlag genommen: objektorientierte Programmierung, neuronale Netze, bionic manufacturing und so weiter.

Wissensbasierte Systeme sind dabei, ihren Platz im Souterrain der soliden Softwaretechniken zu finden. Dies mag ernüchternd sein. Eine klare, realistische Einschätzung aber hat neuen Technologien noch nie geschadet. Im Gegenteil: Es werden zukünftig schon deshalb weniger Projekte scheitern, da jene, die nur der Irrationalität von Modetrends folgend begonnen wurden, zurückgedrängt werden zugunsten machbarer, sachorientierter Aufgabenstellungen. Es sind nicht die komplexen, undurchschaubaren oder diffusen Bereiche, die sich für Expertensystemprojekte eignen, sondern die umgrenzten, präzise beschreibbaren, dennoch aber mit den klassischen algorithmischen Verfahren nicht oder nur mit weitaus größerem Aufwand zu bewältigenden Problemstellungen.

Auf das rechte Maß zurückgestutzt, wird zumindestens zweierlei von den Expertensystemen übrig bleiben:

- Techniken der Modellierung und Anwendung bereichsspezifischen Wissens;

- Verwendung der Verfahren in anspruchsvollen, benutzerfreundlichen und aufgabenorientierten Entwicklungsumgebungen oder CASE-Tools, die ihre Leistungsfähigkeit aus Techniken der Expertensystemtechnologie gewinnen, selbst wenn die mit ihnen entwickelte Software nichts mit der herkömmlichen Auffassung von wissensbasierten Systemen zu tun hat.