Europas DV-Industrie vor der Zerreißprobe

10.05.1991

Die Franzosen verbreiten Endzeitstimmung, was die Situation der europäischen Hochtechnologie-Industrien betrifft; Japaner und Amerikaner drohten die Europäer bei Computern sowie Halbleitern hoffnungslos ins Abseits zu drängen. So fordert der französische Industrieminister Roger Fauroux einem Bericht des "SPIEGEL" zufolge eine "wirksame Handelspolitik zugunsten der europäischen Elektronikfirmen". Die Krise ist für die Franzosen bereits schmerzhaft spürbar: Im Geschäftsjahr 1990 fabrizierte die staatlich geförderte Groupe Bull einen Verlust von rund 1,9 Milliarden Mark. In Bull-Chef Francis Lorentz hat eine protektionistische Industriepolitik der einzelnen europäischen Regierungen denn auch ihren stärksten Fürsprecher.

Man kann Lorentz vorwerfen, er betreibe eine im Kern nationalistische Politik, die nur vorgibt, europäisch orientiert zu sein. Doch Lorentz zieht die richtigen Schlußfolgerungen: Aus eigener Kraft kann Bull dem Druck der IBM und der Japaner nicht standhalten. Mit Fauroux weiß er sich in dieser realistischen Einschätzung einig. Das unterscheidet die französische und die deutsche Situation. Selbst Intimkennern der hiesigen DV-Szene erscheint die Haltung der Bonner Regierung sowie der einschlägigen Elektronik-Industrie (Siemens-Kommunikation, Siemens-Automation, Siemens-DV, Siemens-Halbleiter, Siemens-überall-dabei) in dieser eminent wichtigen Frage dubios.

Man hat uns verlacht, als wir den Zusammenhang zwischen der IBM-Größe und der Schwäche der europäischen Computerfirmen aufgezeigt haben. Als Siemens Mitte der 80er Jahre mit der Losung Datenverarbeitung und Nachrichtentechnik wachsen zusammen Weltmarktansprüche anmeldete, sprachen bereits sämtliche Fakten gegen den Münchner Elektrokonzern. Dies ist die Siemens-Position heute: Verluste bei Halbleitern und Computern (SNI), harte Konkurrenz im Telekommunikationsgeschäft, etwa auf dem US-Markt.

Es geht hier nicht darum, Siemens madig zu machen, dies nebenbei. Seriöse Aufklärung, zu der die Münchner selbst beitragen könnten, bestünde freilich darin, die Probleme beim Namen zu nennen, sie nicht zu verniedlichen und zu verharmlosen, wie Siemens-Chef Karlheinz Kaske das tut ("Wir haben mit den Japanern technologisch gleichgezogen."). Stimmt vielleicht sogar. Aber das ist noch nicht der Markt.

Zugegeben: Es geht um Arbeitsplätze, in München-Neuperlach, in Regensburg, in Paderborn und anderswo. Daß Siemens im DV- und Elektronik-Bereich - wie Bull, wie SGS Thomson, wie Philips, wie Olivetti - vor einer Zerreißprobe steht, hören gewisse Leute in Bonn und München nicht gern. Die Siemens-Mitarbeiter haben indes ein Anrecht darauf, die Wahrheit zu erfahren.