Interview

"Es geht um die Koexistenz von alter und neuer Welt"

14.02.1997

CW: Der Objekttechnik wird nachgesagt, sie sei gut für technische Zwecke, aber nicht für Geschäftsanwendungen.

Selby: Allein in Deutschland zählen wir 58 Kunden aus der Versicherungs- und Bankenbranche. Insgesamt sind es hierzulande 300 Kunden. In Europa setzen die deutschen Anwender am intensivsten auf Objektorientierung. Wir erwirtschaften hier rund ein Drittel unseres weltweiten Umsatzes.

CW: SNI-Vorstand Peter Pagé hat auf der OOP ´97 die mangelhafte Unterstützung von Geschäftprozessen durch Objekttechniken kritisiert. Hat er recht?

Selby: Die meisten Werkzeuge für Design und Analyse insbesondere im objektorientierten Bereich sind ziemlich neu. Deshalb ist es nur natürlich, daß sie noch nicht sehr viel Abläufe unterstützen.

CW: Ein weiterer Einwand bezog sich darauf, daß die Verwendung von Vererbungstechniken eine Software unflexibel mache.

Selby: Das hat mit der Skalierbarkeit von Software zu tun. Vererbung hat zur Folge, daß man bei der Veränderung einer Funktion über das übergeordnete Eltern-Objekt alle betroffenen Geschwisterobjekte aktualisiert. Diese Funktion ist in einfachen Systemen, etwa für persönliche Produktivitäts-Tools am PC, nicht besonders wichtig. Je weiter man sich jedoch in Richtung von Projekten mit einer größeren Anzahl von Entwicklern, mit integrierten Werkzeugen und Repositories bewegt, desto mehr zahlt sich diese Funktion aus. Richtig ist aber auch, daß ein System mit Vererbung komplexer ist als ohne.

CW: Läßt sich Vererbung denn durch andere Verfahren ersetzen?

Selby: Entwickler brauchen die Funktion. Wenn sie auf Vererbung im klassischen Sinne verzichten müssen, dann benötigen sie statt dessen ein Verwaltungsinstrument, mit dem sie vererbungsähnliche Verhältnisse in den Griff bekommen können.

CW: Wie bei Microsofts OLE-Technik?

Selby: Ja, zum Beispiel.

CW: Wie sehen Kunden von objektorientierten Systemen aus?

Selby: Wir haben sehr viele Kunden, die mit Mainframe-Systemen arbeiten und nun den Anschluß an den Stand der Technik suchen. Dort sind bestehende Geschäftsprozesse zu kapseln. Es geht um die Koexistenz von alter und neuer Welt.

CW: Die meisten Anwender verwenden gar keine Methode. Wer kauft überhaupt ein Modellierungswerkzeug?

Selby: Bislang wurde der Markt durch drei, vier Schulen blockiert, die sich nicht vertrugen. Mit dem Zusammenwachsen der anerkannten Object Modelling Technique (OMT) von Rum- baugh mit den Ansätzen von Jacobson und Booch zur Unified Modellling Language (UML) entsteht dagegen so etwas wie ein Standardverfahren.

CW: Erhöht das tatsächlich die Akzeptanz für objektorientierte Modellierung?

Selby: Ja, ungemein. Der Markt für Objektorientierung hebt geradezu ab. Firmen, die bislang nur Pilotprojekte gewagt haben, setzen jetzt voll auf diese Technik. Wir beobachten diesen Boom etwa seit sechs Monaten, seit klar ist, daß UML kein Papiertiger bleibt und selbst von Firmen wie Microsoft akzeptiert wird.

CW: Hat die Belebung des Marktes für objektorientierte Werkzeuge nicht eher etwas mit dem Java-Boom zu tun?

Selby: Ich weiß nicht, ob Java bereits die objektorientierte Entwicklung beeinflußt. Die allgemeine Begeisterung hat sicher dazu geführt, daß Java sich als De-facto-Standard für in Browsern ablaufende Internet-Anwendungen etablieren konnte. Auf Unternehmensebene, bei eher transaktionsorientierten Anwendungen, sehen wir Java noch nicht. Die Sprache orientiert sich aber zunehmend in diese Richtung.

CW: Während der Messe haben insbesondere Smalltalk-Programmierer Befürchtungen geäußert, wonach Java ihnen bei Geschäftsanwendungen die Butter vom Brot nehmen könnte.

Selby: Ich kann das verstehen, die Unternehmen haben gerade erst gewaltige Summen in Smalltalk investiert und ihr Personal dafür geschult.

CW: Wenn sich Java durchsetzt, könnte das eine Fehlinvestition gewesen sein.

Selby: Ja. Java wird Smalltalk mit Sicherheit Marktanteile abnehmen - zumal Internet-Anwendungen dabei sind, sich von einer Kuriosität zum Mainstream zu wandeln.