Es entwickelt sich eine Kultur der Bedenkenträger

17.04.1992

Mit Hermann Schaufler, Minister für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie in Baden- Württemberg, sprach Wolf-Dietrich Lorenz* über DV-Karriere und Technikeinsatz.

CW: Sind die deutschen DV-Anwender wie auch DV-Anbieter für die kommenden Jahre mit qualifiziertem fachlichen Nachwuchs gut versorgt?

Schaufler: Ich meine ja. Für die Ausbildung und Forschung speziell in Baden-Württemberg kann ich sagen, daß Informationstechnik und Informatik einen wichtigen Schwerpunkt an Hochschulen und Fachhochschulen darstellen. An den Universitäten Karlsruhe und Stuttgart gibt es eigene Informatik-Fakultäten. Noch im April dieses Jahres wird eine solche an der Universität Tübingen gegründet. In Ulm ist der Aufbau im Gange, ebenso an den Universitäten Mannheim, Freiburg und Heidelberg.

CW: Was Unternehmen vor allem suchen, ist der Bindestrich-Informatiker.

Schaufler: Informatik wird daher zunehmend in Kombination mit anderen Disziplinen angeboten, beispielsweise als Wirtschaftsinformatik oder Ingenieurinformatik. Alles in allem glaube ich, daß wir mit unserer Ausbildungs-Infrastruktur die Wirtschaft in ausreichendem Maß mit gut qualifiziertem Nachwuchs versorgen können.

CW: Industrie und Wirtschaft rügen die anhaltende Praxisferne in der Informatikdisziplin, die eine kostspielige unternehmensinterne Nachhilfe nötig mache. Als Gründe wird aufgeführt, daß nicht nur modernes DV-Equipment fehle, sondern auch modernes Denken in den Lehrstühlen. Welche Impulse geben Sie?

Schaufler: Der Vorwurf der Praxisferne darf mit Sicherheit nicht verallgemeinert werden. Als Wirtschaftsminister des Bundeslandes Baden-Württemberg kann ich sagen, daß Richtschnur meiner Politik in Wissenschaft und Forschung stets die Anwendungsorientierung und praktische Nutzung von Fachwissen ist. In dieser Hinsicht gibt mein Haus wichtige Impulse.

CW: Wo liegen dabei die Schwerpunkte?

Schaufler: Ich denke insbesondere an das Netz unserer außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Diese sind meist in enger räumlicher und fachlicher Nähe zu Hochschulinstituten angesiedelt und übernehmen durch ihre anwendungsnahe Forschung eine Brückenfunktion zwischen Hochschulen und Industrieforschung.

Die Bedeutung dieser Einrichtungen geht über deren materiellen Beitrag zu Forschung und Technologietransfer weit hinaus. Wichtig ist nämlich auch ihre Ausbildungsfunktion bieten sie doch Nachwuchswissenschaftlern die Möglichkeit, vor einer Tätigkeit in der Industrie eigene praktische Erfahrungen in der anwendungsorientierten Forschung zu sammeln und die Denkweisen der Industrie kennenzulernen. Darüber hinaus führt diese Arbeit auch zu einer überaus erwünschten Rückwirkung auf das Denken und die Lerninhalte an den Hochschulen...

CW: ... die auch durch moderne Rechnersysteme entsprechend gestützt werden?

Schaufler: Selbstverständlich. Da sie einen erheblichen Beitrag zur Deckung ihrer Kosten durch Aufträge aus der Wirtschaft finanzieren müssen, können sie sich ein Hinterherhinken in technischer Hinsicht gar nicht leisten. Hier gibt es also sowohl modernes Gerät als auch modernes Denken.

CW: Mittlerweile bekommen Abiturienten zu der Universität als Institution für die Berufsausbildung einige attraktive Alternativen geboten. Lohnt es sich noch zu studieren, beispielsweise Informatik?

Schaufler: Natürlich ist für viele Abiturienten aufgrund ihrer ganz persönlichen Fähigkeiten und Neigungen ein Studium die richtige Ausbildungsentscheidung. Das gilt auch in der Informatik. Ich habe mich aber immer dagegen ausgesprochen, in einer Hochschulausbildung das allein Seligmachende zu sehen. Eine solche Einseitigkeit würde auch am Bedarf der Wirtschaft vorbeigehen.

Vielmehr liegt die Stärke unseres Ausbildungssystems in seiner gegliederten Struktur. Die Fachhochschulen - und in Baden-Württemberg zusätzlich die Berufsakademien - leisten nämlich ebenso wichtige Beiträge zur Ausbildung des von der Wirtschaft benötigten Nachwuchses. Nicht zu vergessen ist die Ausbildung im dualen System in Betrieben und Berufsschulen.

Für mich gibt es gar keinen Zweifel, daß die Alternativen attraktiv sind. So hat heute jeder junge Mensch die Chance, das für ihn richtige zu finden. Wenn dies gleichzeitig zu einem Wettbewerb unter den Ausbildungseinrichtungen führt, so kann das deren Qualität nur zuträglich sein. Dagegen habe ich nichts einzuwenden.

CW: Entwicklung und Einsatz der Informatik schreiten rasant voran Kritiker stellen daher die Forderung nach Vorsorge gegen unbeabsichtigte, unüberschaubare, unkontrollierbare Nebenwirkungen und nicht wieder umkehrbare Entwicklungen. Sollten wir diesem Anliegen strikt nachkommen?

Schaufler: Sie sprechen hier ein Phänomen an, das ich als Ausdruck einer bei uns weitverbreiteten Denkweise sehe. Anstatt aufgeschlossen und entschlossen an Neues heranzugehen, um das beste daraus zu machen, hat sich bei uns eine Kultur der Bedenkenträger entwickelt, die letztlich nach Absicherung gegen die Zukunft rufen.

CW: Befürchtungen dieser Art sollten wir nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Schaufler: Keineswegs. Nicht von ungefähr haben wir in Baden-Württemberg die erste Akademie für Technikfolgenabschätzung in Deutschland eingerichtet. Wenn wir aber in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft allen Bedenken Rechnung tragen wollten, die in die öffentliche Meinung gelangen, dann würden wir in kurzer Zeit technologisch handlungsunfähig,...

CW: ... ohne die Entwicklung in der Informatik tatsächlich beeinflussen zu können...

Schaufler: ... vielmehr würde sie nur ohne unsere Mitwirkung und ohne unsere Einflußnahme ablaufen. Auf Dauer würde ein solche Haltung die Grundlagen unserer Wirtschaft und Gesellschaft beeinträchtigen. Technologieverzicht und Technologieverzögerung sind für mich daher untauglichen Mittel der Politik. Was wir brauchen ist vielmehr Gestaltungswille und die Überzeugung, daß wir unsere Zukunft positiv gestalten können, auch und gerade mit Mitteln der Technik.

*Wolf-Dietrich Lorenz ist Chefredakteur der Fachzeitschrift IM Information Management, IDG Communications Verlag AG, München.