Eine Werbung für Ingenieurwissenschaften wäre verfehlt, Teil 2

03.09.1982

Prof. Dr. Wolfgang Wild, Präsident der TU München

Die Absolventenzahlen spiegeln das Verhalten bei der Studienwahl zu einem fünf bis sechs Jahre zurückliegenden Zeitpunkt wieder. Der Anstieg der Absolventenzahlen bei den Universitätsingenieuren (im Gegensatz zu den Fachochschulingenieuren!) im Zeitraum von 1975 bis 1979 ist die Konsequenz eines beträchtlichen Anstiegs der Studienanfängerzahlen in der ersten Hälfte der 70er Jahre. Wenn wir etwas über die Absolventenzahlen des nächsten Jahrfünfts erfahren wollen, so müssen wir uns den Anfängerzahlen seit 1976 zuwenden, was wir nunmehr im letzten Teil unserer quantitativen Analyse tun wollen. Im Wintersemester 1976/77 gab es an den deutschen Universitäten 150 334 Studenten im 1. und 2. Fachsemester, davon 17 663 (12 Prozent) Ingenieure. Im Wintersemester 1980/81 waren von 174 510 Studienanfängern 15 900 (9 Prozent) Ingenieure. Die Zahl der Studienanfänger in den Ingenieurwissenschaften hat also in der zweiten Hälfte der 70er Jahre sowohl absolut als auch vor allem relativ abgenommen und läßt für das nächste Jahrfünft eine leicht abnehmende Absolventenzahl erwarten, im Gegensatz zur steigenden Zahl der meisten anderen akademischen Abschlüsse.

Im Wintersemester 1981/82 hat sich der bis dahin herrschende Trend völlig verändert. Die Studienanfängerzahl stieg in den Ingenieurwissenschaften auf 19 670 und damit um 24 Prozent gegenüber dem Vorjahr, während die Gesamtzahl der Studienanfänger nur um 15 Prozent auf 200 860 angestiegen ist. Der relative Anteil der Ingenieurstudenten ist dadurch von 9,1 Prozent auf 9,8 Prozent angewachsen. Bei den Fachhochschulen ergibt sich ein ähnliches Bild, nur daß die Trendwende ein Jahr früher eingesetzt hat, Vom Wintersemester 1976/77 zum Wintersemester 1979/80 ging die Zahl der Studienanfänger in den Ingenieur- und Naturwissenschaften von 26535 auf 23 125 und der relative Anteil an der Gesamtstudentenzahl von 59,4 Prozent auf 52,8 zurück. 1980/81 stieg darin diese Anfängerzahl gegenüber dem Vorjahr um 17,7 Prozent und 1981/82 nochmals um 19,4 Prozent. Mit 32 487 Studienanfängern in den Ingenieurwissenschaften beträgt deren Anteil im WS 1981/82 an der Gesamtzahl der Fachhochschulstudenten wieder 60,4 Prozent.

Wenn wir versuchen, das komplexe Bild zusammenzufassen, so müssen wir sagen, daß in der zweiten Hälfte der 70er Jahre ein stetiger Trend zur Abwendung von den Ingenieurwissenschaften festzustellen war, der zwar keine dramatischen Ausmaße angenommen, aber doch in gewissen Bereichen zu einem Ingenieurmangel geführt hatte und berechtigte Besorgnisse für die Zukunft wecken mußte. Dieser Trend ist in der jüngsten Zeit entschieden korrigiert worden, der relative Anteil der Ingenieurstudenten nähert sich wieder dem langjährigen Durchschnitt und die Absolventenzahl entspricht dem - um konjunkturelle Schwankungen bereinigten - vermutlichen Bedarf. Die im letzten Jahr eingetretene Entwicklung sollte deshalb verstetigt werden. Es wäre verfehlt, durch eine weitere Werbung einen noch größeren Prozentsatz der Studienanfänger in die Ingenieurwissenschaften zu locken, es wäre aber ebenso verfehlt, durch alarmierende Nachrichten über die gegenwärtige rezessionsbedingte - und relativ sehr milde - Arbeitslosigkeit in einigen Ingenieurberufen, alle berechtigten Warnungen als Fehlalarm zu diskreditieren und dadurch eine Rückkehr zu dem besorgniserregenden Trend der späten 70er Jahre herbeizureden.

Schaffung höher qualifizierter Arbeitsplätze

Prognosen sind ein mißliche Sache, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. An diesen Ausspruch eines klugen Mannes sollte man sich erinnern, wenn man versucht, aus den geschilderten Fakten der jüngeren Vergangenheit Aussagen über die künftigen Berufschancen der Jugend im technischen Bereich herzuleiten. Dieser technische Bereich ist durch das Vordringen der Mikroelektronik derzeit von einem tiefgreifenden Strukturwandel betroffen. Es ist anzunehmen, daß sich durch die Mikroelektronik die Tendenz zur Vernichtung von niedrig qualifizierten und zur Schaffung von höher qualifizierten Arbeitsplätzen fortsetzen und verstärken wird. Der rapide Anstieg der Nachfrage nach Maschinenbau- und Elektroingenieuren, noch mehr aber nach den Software produzierenden Informatikern in der zweiten Hälfte der 70er Jahre bei einem insgesamt kaum expandierenden Arbeitsmarkt unterstützt diese These. Andererseits hat die gegenwärtige Rezession erstmals auch von auf die Zukunftsindustrien, die Elektronik und die Softwareentwicklung, durchgeschlagen. Außerdem eröffnet die Mikroelektronik nicht nur eine weitgehend automatisierte Produktion, sondern auch eine computergestützte Entwicklungsarbeit. Von manchen Experten wird die These vertreten, daß in CAD = "computer aided design" sogar größere Möglichkeiten lägen als in CAM = "computer aided manufacturing". Die plausible These von einem tendenziell wachsenden, Ingenieurbedarf ist deshalb mit einigen Fragezeichen zu versehen, und es kann niemand dem angehenden Ingenieurstudenten eine Arbeitsplatzgarantie geben. Während man aber in fast allen anderen akademischen Berufen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine ungünstige Entwicklung prognostizieren muß, da die Expansion der Beschäftigungsmöglichkeiten mit der explosiven Vermehrung der Akademikerzahlen auch bei optimaler konjunktureller Entwicklung nicht Schritt halten kann, sieht die Berufssituation bei den technischen Berufen hoffnungsvoller aus. Wenn es gelingt, die gegenwärtige Weltrezession zu überwinden und wieder zu einer normalen Wirtschaftsentwicklung mit zwar bescheidenen, aber doch wenigstens positiven Wachstumsraten zurückzufinden, dann sollten leistungsfähige und leistungsbereite Techniker und Ingenieure ihr befriedigendes Auskommen finden können.

Entnommen einem Vortrag über "Ausbildungs- und Berufschancen der Jugend in technischen Bereichen". Das Referat wurde in München in dem Bayerischen Wirtschaftstag 1982 gehalten.