Privatwirtschaft mit Hindernissen

Eine Bestandsaufnahme vor der CeBIT - Russlands Markt fuer IT

08.03.1996

Die Dynamik der russischen IT-Industrie wird massgeblich vom Ausgang der Praesidentschaftswahlen im Juni 1996 und den Hauptrichtungen der Reformen, der Einbindung in die internationale Arbeitsteilung, den fuer Wissenschaft und Bildung zur Verfuegung stehenden Ressourcen und den Widrigkeiten der Transformationsgesellschaft (Sicherheit und Recht) bestimmt.

Die von der Regierung unter Jegor Gajdar initiierten, spaeter in ihrer Rigorositaet abgeschwaechten Wirtschaftsreformen haben zu einer drastischen Verminderung der Ausgaben fuer F&E gefuehrt. Der Zerfall zahlreicher F&E-Teams - darunter auch fuer Software- Entwicklung - konnte nicht vermieden werden, vielfach musste der Aufbau neuer IT-Firmen bei Null beginnen. Zusaetzlich sank im Zuge der Reformen die Nachfrage nach High-Tech auf einen Tiefstand.

Einen guten Einblick in die aktuelle Situation mancher Wissenschaftseinrichtungen vermittelt der Besuch bei der Firma Wirash in Tschernogolowka unweit Moskaus. Oleg Rajewskij, wissenschaftlicher Geschaeftsfuehrer und Spezialist fuer Computer Aided Molecular Design, fuehrt durch sein Akademie-Institut, das wegen der Energiekosten in eine Art Winterschlaf gefallen war. Nur die privaten Institutsableger konnten die Heizkosten bezahlen. Ungeachtet aller Widrigkeiten bleibt der Professor Optimist: "Wegen der erbaermlichen Gehaelter der Grundlagenforscher besteht die einzige Chance darin, dass man sich selbst um alles bemueht - Stipendien, Grants, Projekte mit Forschern aus aller Welt." Gestuetzt auf wissenschaftliche Kontakte in die USA, nach Europa, besonders aber nach Deutschland, versucht Rajewskij, seine Firma auf die neue Zeit einzustellen.

Korruption auf jeder Ebene

Viele russische Neureiche haben bei der Privatisierung kraeftig zugelangt und sich in Industrie- und Verwaltungszentren gerade mit Immobilien goldene Nasen verdient. "Was wollen Sie in einem Land machen, in dem die Korruption alle Ebenen der Fuehrung durchsetzt. Da versucht jeder, in der kurzen Zeit seiner Herrschaft moeglichst viel an sich zu raffen. Staatliches Eigentum wird in derartigen Dimensionen privat angeeignet, dass einem die Haare zu Berge stehen.

Oft kritisieren IT-Geschaeftsleute die lueckenhafte und mehrdeutige Gesetzgebung. Die Unternehmen, die ihre Steuern nach den Vorschriften entrichten wollen, treffen ueberall auf Stolpersteine und Fallstricke, die den "Interpretationen" der Aufsichts- und Kontrollbehoerden Tuer und Tor oeffnen: Welcher unterbezahlte Steuerinspektor laesst schon die Gelegenheit aus, ueber zweifelhafte Faelle grosszuegig hinwegzusehen, wenn ihm der scharfe Blick durch ein paar Scheine getruebt wird? Die so entstehende Unsicherheit wird durch Tricks kompensiert: Transaktionen zwischen russischen Firmen laufen nach Moeglichkeit im Ausland.

Erfolgreiche Unternehmen sind von Polizei, Steuerinspek- tion oder der Mafia als lohnende Ziele identifiziert worden. Deshalb verzichten sie zumeist auf jede Art der Oeffentlichkeitsarbeit, was westlichen Unternehmen die Partnersuche zusaetzlich erschwert. Leicht entschaerft hat sich das Mafia-Problem lediglich fuer kleine IT-Firmen: Inzwischen interessiert sich die Mafia gluecklicherweise nicht mehr fuer Einrichtungen, die weniger als 20 000 Dollar pro Monat umsetzen.

Wo es an umfassenden Marktanalysen mangelt, muessen sich die Auguren auf Schaetzungen verlassen. Vorliegenden Informationen zufolge wurden 1991 in der russischen Foederation etwa 800000 PCs verkauft, 1995 rund eine Million. Fuer 1996 wird bereits mit einem Absatz von 1,5 Millionen Rechnern gerechnet. Der IT-Gesamtmarkt (Computer, Software, IT-Dienstleistungen) hatte 1995 ein Volumen von etwas mehr als einer Milliarde Dollar. Dabei dominieren westliche Produkte den russischen Markt, der sich ausserdem durch einen mit zehn Prozent sehr niedrigen Software-Anteil auszeichnet.

Kaum jemand erwirbt offizielle Softwarelizenzen. Warum auch? Der unzureichende Rechtsschutz von geistigem Eigentum hat in russischen Grossstaedten "Maerkte" entstehen lassen, auf denen mit raubkopierter Software schwunghafter Handel getrieben wird, ohne dass staatliche Organe einschreiten. Der Schwarzmarkt uebt einen enormen Druck auf das Preisniveau aus. Unter diesen Bedingungen ist es fuer Softwarefirmen nahezu unmoeglich, mit Blick auf den russischen Markt eigene wissenschaftlich-technische Loesungen zum kommerziellen Produkt weiterzuentwickeln. Es fehlen die finanziellen Mittel, um das hohe Tempo der Technologieentwicklung mitzugehen.

Einige Anzeichen von "Zivilisierung" lassen allerdings hoffen. So haben international taetige russische Firmen und Banken inzwischen begonnen, die eingesetzte Software zu legalisieren.

Rund 3000 russische IT-Unternehmen sind Vorreiter in der marktwirtschaftlichen Neuorientierung des Landes und "Zufluchtsstaette" fuer eine betraechtliche Zahl motivierter Wissenschaftler und Ingenieure. Starke nationale Positionen nehmen dabei vor allem solche Softwarefirmen ein, die die Spezifik des russischen Marktes ausnutzen, also die Sprache und die Besonderheiten der Transformationswirtschaft: So sind zur Zeit Buchhaltung und andere oekonomische Aufgaben sowie die Bankensoftware und darauf aufbauende IT-Services weitgehend ein russisches Geschaeft.

International fuehrende IT- Unternehmen haben laengst die mathematische Schule der russischen Software-Entwickler zu schaetzen gelernt. Im Silicon Valley arbeiten Hunderte russische Softwerker. Meist aus wissenschaftlichen Institutionen stammend, waren sie es gewohnt, komplexe Probleme von der wissenschaftlichen Fragestellung bis zur fertigen Loesung zu bearbeiten. So verwundert es nicht, dass Firmen wie Samsung, Autodesk, Pick, Ashtech - um nur einige zu nennen - Auftragsprogrammierung nach Moskau vergaben oder dort (zumindest zeitweise) bedeutende Softwareteams aufgebaut haben. Insgesamt wird die Zahl der Entwickler, die im Auftrag westlicher Unternehmen arbeiten, allein in Moskau auf einige tausend geschaetzt. Das Potential ist bei weitem nicht ausgeschoepft.

Der Bericht "IT-Markt in Russland, Weissrussland und Estland 1996 - Chancen und moegliche Partner fuer die Kooperation" kann per Fax 030/6392-1650 angefordert werden.

*Dr. Mathias Weber (webergfai.fta-berlin.de) ist Geschaeftsfuehrer im Unternehmensverband Informationssysteme e.V. (Berlin). Er war im Auftrag des Bundesverbandes Informationstechnologien e.V. (BIT) fuer ein Beratungsprojekt der Gesellschaft Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Russland, Weissrussland und Estland taetig. **Dr. Leonid Malkow (malkovparagraph. com) ist im russisch- amerikanischen Softwarehaus Paragraph International Vice-President des Moskauer Bueros.