Ein zweiter Alphabetismus

16.06.1983

Wir dürfen nicht nur die kleine Zielgruppe einer Computerelite vor Augen haben - auch wenn Eliten neuerdings in der Bildungspolitik wieder eine Hochkonjunktur erleben. Unsere Bemühungen müssen auf eine möglichst breite Jugendförderung zielen. Jedem soll zumindest die Chance geboten werden, sich eigene Kompetenz im Umgang mit informationstechnischen Einrichtungen anzueignen. Ziel dieser Allgemeinbildung muß es sein, allen Schülern gleiche Ausgangschancen zu vermitteln auf die der berufliche Bildungsbereich dann aufbauen kann. Denn hier gilt auch die generelle Einsicht: Wer früh übt, hat weniger Angst und kann späteren Anforderungen gelassen und kompetent begegnen.

Solche Vermittlung von allgemeinen Kenntnissen im Umgang mit der Informationstechnik wird im angelsächsischen Sprachraum mit dem Begriff der "Computer Literacy" belegt. Die Handhabung eines Computers wird dabei als zweiter Alphabetismus verstanden, als weitere Kulturtechnik neben Lesen, Schreiben, Rechnen und Sprechen.

Informationstechnik domestizieren

Ich möchte im folgenden nicht die sogenannten kognitiven Ziele in den Mittelpunkt stellen, die auf die Vermittlung von Kenntnissen ausgerichtet sind. Sicherlich ist die Beantwortung von Fragen, wie zum Beispiel:

Wie ist ein Mikrocomputersystem aufgebaut?

Wie werden Algorithmen in Programme umgesetzt?

Welche Anwendungen und Auswirkungen der Mikroelektronik gibt es?

als Wissensbasis unumgänglich.

Aber erreichen wir damit schon die gewünschte Alphabetisierung? Wäre eine kritische Würdigung gesellschaftlicher Auswirkungen das alleinige Ziel, so könnte man sich vielleicht mit einer distanzierten, rein verstandesmäßigen Betrachtung begnügen. Hier geht es aber um das individuelle, subjektive Erleben informationstechnischer Phänomene. Im Gegensatz etwa zur passiven Bedienung eines PKWs fordert die Beherrschung der Informationstechnologie die aktive, konstruktive Auseinandersetzung. Wir müssen die Informationstechnik domestizieren lernen, hat der Nobelpreisträger Herbert Simon gefordert. Nur mit einer breitgestreuten Gestaltungskompetenz wird es möglich sein, menschenwürdige und aufgabengerechte Anwendungssysteme unter Mitwirkung aller Beteiligten zu schaffen. Informationstechnische Anwendungssysteme dürfen eben keine "black box" sein, deren Leistungsfähigkeit und Ausgestaltung als gegeben hingenommen werden. Wer aber solche Systeme für sich selbst nutzbringend und den eigenen Bedürfnissen entsprechend gestalten will oder in die Systementwicklung eingreifen will, muß über eigene Erfahrungen verfügen und seine Bedürfnisse artikulieren können. Selbst wenn in Zukunft komfortable Softwarewerkzeuge dem Endbenutzer die Programmierung erleichtern werden, so müssen wir doch fürchten, daß ohne die individuelle Erfahrung des einzelnen auch diese Option ungenutzt bleibt.

Was deshalb gefordert worden muß, ist die Gelegenheit, eigene Erfahrungen zu sammeln, sich für Probleme der Handhabung zu sensibilisieren und Lernfähigkeit zu trainieren. Wer heute auf einem marktgängigen Mikrocomputersystem erste Einsichten gewinnt, wird sich auch morgen an einem multifunktionalen und multimedialen Büroarbeitsplatz mit einer fortschrittlichen Benutzeroberfläche zurechtfinden können. Zum Einüben anderer Fähigkeiten bedient man sich spezialisierter Räumlichkeiten, wie zum Beispiel eines Tonstudios, eines Sprachlabors oder einer Turnhalle. Erfahrungen im Umgang mit der Informationstechnik bedürfen gleicher Voraussetzungen, also eines gut ausgestatteten Computerlabors oder Computerstudios in der Schule.

Die zu vermittelnde Grundkonfiguration darf sich aber nicht auf das Programmieren im engeren Sinne beschränken, sondern sollte auch folgende Aspekte umfassen:

Fast alle Wissenschaftsdisziplinen kämpfen mit enormen Wissensmengen. Dies wirkt sich gleichermaßen im Bildungswesen von der Schul- bis zur Universitätsausbildung, in der Forschung, aber auch im Berufsleben aus. Oft ist es nur noch mit informationstechnischer Unterstützung möglich, Wissen zu selektieren und Wissenseinheiten wiederzufinden. Auch Grundkenntnisse des Aufbaus von Datenbanken, das Wissen um die weltweite Verfügbarkeit von Datenmengen und das Retrieval zum Beispiel von Literaturnachweisen würden wertvolle Hilfen für die spätere berufliche Qualifikation und für die Erhaltung des Humankapitals leisten.

Losgelöst von fachlichen Begrenzungen ist auch die Funktion der Informationstechnologie als Intelligerizverstärker zu sehen. In vielen Unternehmungen und auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wächst das Bewußtsein dafür, daß trotz zunehmender Komplexität unserer Umwelt nicht nur primäre Effekte unseres Handelns bedacht, sondern auch Folge- und Sekundärwirkungen antizipiert werden müssen. Warum sollen wir nicht die erzielten Fortschritte bei den Modellierungstechniken dazu nutzen, daß die Jugendlichen lernen, die Möglichkeit zur Abbildung und Simulation der Realität auszulosen?

Des weiteren muß bei der Planung künftiger Bildungsinhalte berücksichtigt werden, daß sich in Zukunft die informationstechnische Unterstützung nicht auf den einzelnen, isolierten Arbeitsplatz beschränken wird, sondern sich auf die Unterstützung der kooperativen Aufgabenerfüllung ausdehnen wird. Systeme zur Bürokommunikation erlauben schon heute auf recht komfortable Weise die zeitliche und räumliche Entkoppelung von Gruppenarbeit. Man braucht noch nicht einmal die beliebte, aber ferne Vision eines Netzes von Heimarbeitsplätzen heranzuziehen, um die Bedeutung von "neuen" kommunikativen Fähigkeiten zu illustrieren. Computer Conferencing, Electronic Mail, Sprachspeichersysteme und Videokonferenzen sind reale Medien, die Chancen eröffnen, aber auch zum Mißbrauch verleiten können.

Praktischer Umgang mit solchen Medien auch auf die private Nutzung nur positiv auswirken können.

Nicht hinterherhinken

Für alle künftigen Bildungsinhalte aber muß gelten, daß sie nicht wie bisher mit jahrelangem Abstand der informationstechnischen Entwicklung und auch der informationstechnischen Anwendung hinterherhinken, sondern durch Vermittlung grundlegender Qualifikationen die Basis für die informationstechnikbezogene Lernfähigkeit und für die kritische Aufgeschlossenheit als Grundhaltung des Bürgers einer kommenden Informationsgesellschaft legen.

Abschnitt eines Referats, das anläßlich der Siegerehrung im 2. Jugendwettbewerb in Computerprogammierung am 1. Juni 1983 auf Schloß Birlinghoven bei Bonn von Norbert Szyperski gehalten Wurde.

GMD = Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung mbH, Bonn.