Eigene Marktposition nicht aus den Augen verlieren

06.10.1989

William D. Harrison ist freier Autor und Berater aus Gainesville, Florida. Copyright 1989, CW Publishing Inc. USA. Der Beitrag wurde der COMPUTERWORLD entnommen.

Eines späten Freitag nachmittags, gegen Ende des Jahres 1971, waren zwei leitende Angestellte der DV-Abteilung der RCA Computer Systems Corp. auf dem Weg nach Hause. Als sie den Flur entlanggingen, sahen sie dort plötzlich einen der Senior-Manager, den Kopf gegen die Wand gepreßt. Als sie ihn erreichten, begann er wild mit beiden Fäusten gegen die Wand zu schlagen. Ihr erster Gedanke war, daß er wohl krank sei und so fragten sie ihn, ob sie ihm irgendwie behilflich sein könnten. Ohne sich umzudrehen, reichte er ihnen ein Papier, das er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte. Es handelte sich um ein Telex, daß kurz besagte: "Die RCA Corp. gibt hiermit bekannt, daß sie sich mit Ende des heutigen Tages aus dem kommerziellen Computermarkt zurückzieht."

Völlig ungläubig und überrumpelt setzten die Manager ihren Weg über den Flur fort. Beide waren bereits seit vielen Jahren in ihrer Abteilung bei RCA Computer Systems beschäftigt und waren jetzt absolut sprachlos. Die meisten der RCA-Mitarbeiter erfuhren von der Schließung des Geschäftsbereichs DV noch am selben Tag aus den NBC-Nachrichten. Später am Abend telefonierte der Geschäftsführer der DV-Abteilung mit allen seinen Mitarbeitern und bat sie, sich am nächsten Morgen in seiner Wohnung einzufinden. Der Geschäftsführer EDV hatte zwar auch nicht mehr Informationen, was die Auflösung des Unternehmensbereichs betraf, er hatte sich jedoch dafür entschieden, die Moral der Truppe zu halten und seine Aufgaben pflichtgemäß zu erfüllen.

Die nächsten Wochen verbrachten die leitenden Angestellten auf Weisung des Geschäftsführers DV damit, den Mitarbeitern beim Abfassen von Abschlußberichten und dem Schreiben von Bewerbungen zu helfen. Gleichzeitig hatte er ein Programm für die systematische Freistellung derjenigen entwickelt, die freiwillig gehen wollten.

Das gesamte Unternehmen war von Unruhe erfaßt worden und alle beschäftigten sich mit der Frage, welche Firma wohl in der Lage wäre, den ganzen oder zumindest Teile dieses Geschäftsbereichs von RCA zu kaufen.

Es kostete RCA einige Monate, bis die Auflösung des Geschäftsbereichs Computer-Systems abgeschlossen war. In der Zwischenzeit hatten die Beschäftigten ausreichend Zeit, die Probleme zu diskutieren, die zur Auflösung des DV-Bereichs geführt hatten. Allgemein herrschte Einigkeit darüber, daß die Strategie der Marketing-Organisation von RCA einfach absurd war. Diese Strategie war einfach, aber tödlich: "Baut einfach IBM-kompatible Geräte, irgendjemand wird sie dann auch kaufen."

Dies war die Marketingstrategie, mit der sie Mitte der 60er Jahre gut gelebt hatten, völlig entgegengesetzt. Lange bevor RCA sich mit Computern beschäftigte, arbeitete man auf dem Gebiet der Kommunikationstechnik. Allgemein ging man im Unternehmen davon aus, daß die RCA-Computer denen des Mitbewerbs aus dem Bereich Kommunikationstechnik überlegen sein müßten.

Das letzte Computersystem, das RCA gebaut hatte, bevor man sich auf eine IBM-kompatible Produktlinie festlegte, war der RCA 3301. Der RCA 3301 war ein sehr guter Rechner für den kommerziellen Markt, darüber hinaus jedoch auch ein hervorragender Rechner für die Datenkommunikation. Deshalb wurde er auch für den Einsatz in verschiedenen militärischen Projekten ausgewählt.

De facto basierte die Strategie von RCA auf dem Kommunikationsmarkt, und die Firma war gerade dabei, als Marktführer für Datenkommunikationssysteme anerkannt zu werden.

Doch eines Tages begann sich der Himmel zu verdunkeln. IBM hatte eine große Anzahl an 1401-Rechnern verkauft, ohne dafür auch angemessene Aufrüstmöglichkeiten anzubieten. Honeywell sah diese Marktlücke und sprang ein. Die 1401-kompatible Maschine war für Honeywell auch ein sofortiger Erfolg.

Die Manager von RCA waren von Honeywells Erfolg sehr beeindruckt und überlegten sich dann, daß wenn IBM-Kompatibilität auf einem kleinen Gebiet gut war, eine starke IBM-Kompatibilität noch viel besser sein müßte. Obwohl diese Idee Jahre später für andere Unternehmen zum Erfolg führte (insbesondere auf dem PC-Markt), erwies sie sich für RCA als katastrophal. Von einem Tag auf den anderen wurde eine bis dahin lebensfähige Marktstrategie durch etwas ersetzt, das nur noch den Anschein einer Marktstrategie erweckte.

Nachdem der Bereich Computersysteme von der Bildfläche verschwunden war, verkaufte RCA die Basis des Geschäfts, die bei Kunden installierten Systeme, an die Sperry Univac Corp. und löste die Bereiche Entwicklung, Produktion und DV-Systeme auf. Es vergingen einige Monate, dann hatten alle Mitglieder des Bereichs Elektronische Datenverarbeitung wieder angemessene Positionen gefunden.

Was 1971 mit RCA geschah, sind Lektionen, die bis heute nicht gelernt wurden. Es gibt eine Reihe wichtiger Hersteller, die zum Verkauf stehen oder ernsthaft gefährdet sind, weil sie ihre eigene Marktposition aus den Augen verloren haben. Firmen wie Honeywell, Data General, Wang, Prime, Cullinet, Apollo und viele andere haben ihre goldenen Zeiten schnell in der Ferne verschwinden sehen.

Heute sind viele gut ausgebildete Profis aus dem DV-Bereich in einer ähnlichen Situation. Eine Firmenübernahme führt in der Regel zu einem Überhang an DV-Mitarbeitern. Das Ergebnis ist, daß eine Zeit der Konsolidierungen, Übernahmen und Aufkäufe ansteht. Das Prinzip, Erfolg zu haben, indem man wohldurchdachte, aggressive Marktstrategien plante und umsetzte, wurde abgelöst durch ein Prinzip des sofortigen Wachstums, das einfach in der Einverleibung anderer Unternehmen besteht. In vielen Fällen wirken die Firmenübernahmen genauso gedanken- und phantasielos wie die RCA-Stratgeie der IBM-Kompatibilität.

Das hohe Risiko, das durch die enorme Verschuldung bei der Übernahme anderer Firmen entsteht, gilt bei vielen Unternehmen mittlerweile als normal. Diese Firmen sehen sich massiven ökonomischen Problemen gegenüber, wenn der Gewinn einmal in stärkerem Umfang ausbleibt.

Der frühere Geschäftsführer des DV-Bereichs der RCA Computer Systems Corp. hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mit seinen alten RCA-Mitarbeitern in Kontakt zu bleiben. Als er letzten Monat niemanden erreichen konnte, machte er sich Sorgen. Er hatte zwölf Jahre bei RCA gearbeitet, bevor er seinen Posten verlor. Danach fand er eine Anstellung im Bereich Informationssysteme bei einem großen Halbleiterhersteller, für den er nunmehr seit 17 Jahren arbeitet. Letzten Monat wurde ihm mitgeteilt, daß er abermals entlassen werden würde. Die Firma war aufgekauft worden und nun gab es einen Überhang an DV-Profis.