EDI vor dem Durchbruch in der Moebelindustrie Kleine Schritte helfen auf der langen Durststrecke zum Erfolg

03.06.1994

Lange Zeit lief - wie in vielen anderen Branchen auch - in der Moebelindustrie nichts oder nicht viel in Sachen EDI; Beruehrungsaengste und theoretische Bedenken standen mancherorts im Wege. Seit man sich jedoch auf das Machbare verstaendigen konnte, ist aus dem elektronischen Datenaustausch eine Alternative mit Zukunft geworden. Rainer Seidel* beschreibt die Politik der kleinen Schritte anhand eines Pilotprojekts der Schieder-Gruppe, wo EDI nicht nur aus Kostengruenden hohe Prioritaet geniesst, sondern auch aufgrund seiner marktstrategischen Bedeutung in bezug auf die Dienstleistung gegenueber dem Kunden sowie den Kontakt zu den Zulieferern.

Die Moebelindustrie bemuehte sich bereits seit Jahren, den Einstieg in den einheitlichen Datenaustausch zwischen den unterschiedlichen Geschaeftspartnern auf Basis von Edifact zu realisieren. Schwerfaellige Lenkungsgremien, denen der direkte Bezug zur praktischen Anwendung fehlte, aber auch Beruehrungsaengste unter den Mitbewerbern fuehrten dazu, die oft aufwendigen und gutgemeinten Initiativen scheitern zu lassen. Entscheidender Hemmschuh einer moeglichen Vereinheitlichung war jedoch das Bestreben, alle denkbaren Geschaeftsvorgaenge im voraus zu definieren und als Gesamtkonzeption quasi vorzudenken. Im Laufe der Zeit zogen sich daher mehr und mehr Teilnehmer enttaeuscht aus den entsprechenden branchenuebergreifenden Gremien zurueck und installierten eigene, meist bilaterale Loesungen.

Durchbruch mit einem Ansatz des Machbaren

Der Durchbruch gelang im September 1993, als sich die bedeutenden Unternehmen der Moebelindustrie und des Moebelhandels zusammen mit dem in Andernach ansaessigen Softwarehaus SHD und dem Konverteranbieter Tangra in Gaertringen auf eine "Politik der kleinen Schritte" verstaendigen konnten. Dabei stand nicht mehr die theoretische Ausdehnung des Themas im Vordergrund der gemeinsamen Strategien, sondern der pragmatische Ansatz des Machbaren. Diese Selbstbeschraenkung fuehrte sehr schnell zu einer entsprechenden Ueberschaubarkeit der Massnahmen und - noch viel wichtiger - zu einer einheitlichen Definition der gemeinsam benoetigten Datenstrukturen.

Diese beziehen sich lediglich in einer ersten Stufe auf die Abwicklung von Bestellungen und deren Bestaetigungen. Auch hier werden zuerst wiederum nur solche Vorgaenge abgewickelt, die sich als gesamtes Moebelstueck in einer eindeutigen Artikelnummer definieren lassen. Es wird also bewusst in Kauf genommen, dass die Ergaenzung der Datenstrukturen fuer komplexere Moebel (Kuechen, Anbauwaende, Polstergruppen etc.) einer folgenden Ausbaustufe vorbehalten bleiben muessen. Mit dem ersten Ansatz lassen sich jedoch bereits rund 40 Prozent des derzeitigen Handelsvolumens bearbeiten.

Ein weiterer Grund fuer den sich jetzt doch sehr rasch vollziehenden Realisierungsprozess liegt in der Entscheidung der grossen Hersteller und Haendler begruendet, der Firma Tangram als dem Konverteranbieter die Rolle der Partnerkoordination zu uebertragen. Diese so schwierige, aber unerlaessliche Abstimmung zwischen Handel, Industrie, Verbaenden und Zulieferindustrie - aber auch zwischen den verschiedenen Softwareherstellern sowie der Telekom stellte bisher ohne eine solche Schaltstelle ebenfalls ein entscheidendes Hindernis fuer den Einstieg in EDI dar. Allen Beteiligten ist also die Notwendigkeit einer abgestimmten Vorgehensweise schnell deutlich geworden.

Die Beschraenkung auf kleine Schritte fuehrte auch sinnvollerweise zur Beschraenkung der Geschaeftspartner - zumindest fuer die erste Stufe. Die Schieder-Gruppe hat im April 1994 das Pilotprojekt mit der Firma Porta-Moebel gestartet; andere Moebelhersteller wagten ebenfalls erste Pilotprojekte mit jeweils ausgesuchten Handelspartnern. Parallel dazu definierte die Moebelindustrie mit den Zulieferern und Tangram den Informationsbedarf dieser Geschaeftsbeziehungen. Dabei ist es zusammen mit dem Handel gelungen, die vorhandenen Datenstrukturen auf den Bereich der Zulieferindustrie so zu erweitern, dass nun sowohl dem Handel, der Industrie als auch der Zulieferindustrie eine gemeinsame EDI- Plattform im Bereich Bestellungen und Bestaetigungen zur Verfuegung steht.

Porta-Moebel und die Firmengruppe Schieder haben sich beispielsweise auf folgendes Stufenkonzept zur Realisierung der ersten Schritte geeinigt:

Erstens: Die bisher definierten EDI-Datenstrukturen der Moebelbranche werden ohne Veraenderungen eingesetzt. Verbesserungen und Ergaenzungen, die sich aus dem Pilotprojekt ergeben, werden den Arbeitskreisen vorgeschlagen. Als oberstes Gebot gilt dabei das synchronisierte Vorgehen mit allen Partnern.

Zweitens: Man beschraenkt sich in Stufe 1 auf wenige Geschaeftsprozesse (Bestellungen und Bestaetigungen).

Drittens: Die Umsetzung erfolgt ohne Eingriffe in die bisherigen Organisationsablaeufe (Parallelabwicklung).

Viertens: Nach einer abgesicherten Datenuebermittlung wird die automatische Einbindung der uebertragenen Daten in die hauseigenen DV-Prozesse realisiert.

Fuenftens: Alle Projektschritte werden staendig abgestimmt und gemeinsam kontrolliert. Die Sicherheit der Datenuebermittlung ist die zentrale Forderung.

Sechstens: Waehrend Stufe 1 ist eine regelmaessige Abstimmung mit den uebrigen Pilotpartnerschaften unabdingbar.

Die Einsparungspotentiale, die sich durch den flaechendeckenden Einsatz gemeinsamer EDI-Anwendungen ergeben, wurden in den Bereichen der Automobilindustrie (Odette/VDA) und des Lebensmittelhandels (Sedas) laengst ueberzeugend nachgewiesen. Die elektronische Uebermittlung von Dokumenten (Bestellungen, Bestaetigungen, Lieferavisen, Rechnungen, Zahlungen etc.) wird nicht nur die Abwicklung der Geschaeftsvorgaenge beschleunigen, sondern auch redundante Arbeiten bei den Geschaeftspartnern erheblich reduzieren. Darueber hinaus ist es moeglich, die Papierflut wesentlich einzuschraenken, das heisst, "dumme" Arbeiten der Sachbearbeiter entfallen und lassen sich durch anspruchsvolle Taetigkeiten (zum Beispiel intensivere Kundenbetreuung) ersetzen.

Die Schieder-Gruppe, die aus derzeit 53 selbstaendig operierenden Geschaeftseinheiten besteht, wird sich natuerlich auch im innerbetrieblichen Datenverkehr dieser Technik bedienen und damit den Standard der Branche - zumindest fuer Teilbereiche - in vollem Umfang uebernehmen. So wird zum Beispiel eine Schieder- Vertriebsgesellschaft eine Bestellung von Porta-Moebel entgegennehmen und diese nach Italien zur Produktion weiterleiten. Der dortige Produzent ist wiederum in der Lage, Rechnungen ebenfalls per EDI an das Handelshaus und die Verbaende zu versenden, die diese Nachricht dann auch DV-technisch "verstehen" koennen.

Die Schieder-Gruppe hat als groesster Moebelanbieter Europas aber auch das hohe Mengenvolumen an Geschaeftsvorfaellen zu beachten. Entsprechende Studien der Elektroindustrie beziffern beispielsweise die Differenz zwischen den Kosten einer traditionellen Bestellung und einer EDI-Bestellung auf rund 11 Mark. Selbst bei einer korrigierten Einschaetzung dieser Differenz auf lediglich drei Mark (denn auch heute verfuegen die traditionellen Abwicklungen ueber technische Verfahren, die die "Stueckkosten" einer Bestellung mit steigendem Volumen senken) ergeben sich immer noch Opportunitaetskosten (Kosten durch entgangenen Gewinn), die dokumentieren, dass der Einsatz von EDI- Verfahren atemberaubende Amortisationszeiten von wenigen Wochen beschert.

Marktdurchdringung mit EDI muss beruecksichtigt werden

Die Aussage basiert allerdings weitgehend auf einem theoretischen Ansatz, da die hier aufgefuehrten Einsparungen auf die maximal moegliche Menge der uebertragenen Geschaeftsvorgaenge reflektiert. Fuer eine realistische Berechnung der Amortisationszeiten muss also der Aspekt der Marktdurchdringung mit Hilfe der EDI-Kommunikation beruecksichtigt werden, da erst im Laufe von Monaten genuegend Partner zur Verfuegung stehen werden, die ein solches Volumen aufbringen.

Das folgende Beispiel (vgl. die Tabelle) traegt dieser Betrachtungsweise Rechnung und stellt den Nutzen bei einem sehr maessig steigenden EDI-Volumen dar. So wird im ersten Monat lediglich eine Menge von 1000 Abwicklungen angenommen. Dies bedeutet also ein bescheidenes Startvolumen von 50 Bestellungen und 50 Bestaetigungen pro Arbeitstag. In unserem Beispiel ist fuer einen Anwender eine direkte Projekt-Investition von zirka 96000 Markt zugrundegelegt worden.

Die Tabelle verdeutlicht, dass bei der obengenannten Projektinvestition und einer bewusst pessimistisch angenommenen Kostenreduktion von nur drei Mark pro Geschaeftsvorgang selbst bei einem aeusserst geringen Anfangsvolumen immer noch eine sehr kurze Amortisationszeit von rund sieben Monaten angenommen werden kann. Dies stellt lediglich die Betrachtung des quantfizierbaren Nutzens dar, der Aspekt des qualitativen Nutzens (schnellere Abwicklung, Kundenservice, Datensicherheit, organisatorische Vorteile, Verbindung unterschiedlicher Geschaeftsplattformen etc.) ist dabei aber noch wesentlich hoeher einzuschaetzen. So wird zum Beispiel die konsequente Einfuehrung von BBN- und EAN-Nummern (Bundeseinheitliche Betriebsnummern beziehungsweise Europaeische Artikelnummern) mit einem anderen EDI-Partner, der Koelner CCG, zu weiteren Fortschritten in puncto einheitlicher Normierung und damit zur Reduktion von vermeidbaren Daten und Ablaeufen fuehren.

Der Einsatz von EDI bringt also gravierende Einschnitte in der Ablauforganisation und im DV-Bereich eines Unternehmens mit sich - will man die Moeglichkeiten und Vorteile einer solchen Technologie nennenswert ausschoepfen. Dabei muss jedoch immer deutlich darauf hingewiesen werden, dass trotz des Einsatzes eines fertigen Konverters und gesicherter Netze der Telekom (Telebox 400) die wesentlichen und aufwendigen Arbeiten intern anfallen. So muss die vorhandene Software Schnittstellen zum Konverter bedienen und in der Lage sein, Nachrichten aus dem Konverter der weiteren (moeglichst automatisierten) Verarbeitung zur Verfuegung zu stellen. Die jeweiligen Sachbearbeiter werden wiederum eine andere "Qualitaet" ihrer Taetigkeit definieren muessen, indem Archive, Ablagen, Informationswege und eingespielte Arbeitsablaeufe voellig neu zu organisieren sind.

Die meisten Erfahrungen aus anderen Branchen, aber auch der Moebel- Pilotpartner schaetzen den Aufwand fuer die technische Implementierung von EDI nicht umsonst auf maximal 20 Prozent, waehrend die organisatorische Umsetzung aller aus EDI resultierenden Moeglichkeiten und Veraenderungen mit rund 80 Prozent taxiert wird. Die Haltung einiger Partner der Moebelwirtschaft, sich erst dann mit dem Thema EDI auseinanderzusetzen, wenn die heute aktiven Vorreiter gesicherte Ablaeufe installiert haben und alle Kinderkrankheiten ausgemerzt sein werden, ist deshalb als aeusserst kurzsichtig zu bezeichnen, weil man dann ja erst viel spaeter mit der eigenen internen organisatorischen Umsetzung - sprich: den zur Debatte stehenden 80 Prozent - beginnen kann und somit immer der Wertschoepfung durch EDI hinterherhinken wird.

Alle bisherigen Massnahmen sind deshalb zustandegekommen, weil der pragmatische Ansatz gefunden wurde und sich die Teilnehmer - trotz unterschiedlichster Interessenslagen - den gemeinsam gefundenen Definitionen, aber auch Kompromissen verpflichtet haben. Die Chance, diesen Ansatz nun konsequent weiterzuentwickeln, war bisher nie gegeben und muss von allen wahrgenommen werden. Die Moebelbranche wird sich sonst den Vorwurf gefallen lassen muessen, die Moeglichkeiten der Geschaeftsoptimierung durch EDI aus kleinlichen und egoistischen Motiven verschlafen zu haben.

* Rainer Seidel ist Leiter ORG/Projekt-Management/Software bei der UH GmbH & Co. KG Schieder-Gruppe in Schieder.