Gl-Jahrestagung in Berlin:

Diplominformatiker müssen Programmieren erst noch lernen

17.11.1978

BERLIN - "Die Informatik hat als wissenschaftliche Disziplin in den letzten Jahren eine Phase fortschreitender Konsolidierung durchlaufen", stellte Senatsdirektor Professor Dr. Hartmut Jäckel in seiner Eröffnungsrede bei der achten Jahrestagung der Gesellschaft für Informatik (GI) fest. Vorbei - so Jäckel - sind die Informatik-Gründerjahre mit "ihren aufreibenden Diskussionen um das Selbstverständnis dieser Wissenschaft, mit der Neuorganisation und der Umstrukturierung bestehender Institutionen, mit ihren bisweilen überzogenen Auseinandersetzungen um Studienpläne und Prüfungsordnungen" (CW-Nr. 43: "Informatiker-Ausbildung wenig praxisbezogen"). Der Diplom-lnformatiker habe heute weder

Legitimationsschwierigkeiten noch nennenswerte Arbeitsplatzprobleme. Ein Umstand, der in einer Zeit doppelt bedeutsam sei, da die "noch immer nicht bezwungene Arbeitslosigkeit verstärkt auch den akademischen Arbeitsmarkt erfaßt hat oder noch zu erfassen droht."

Das stetige Vordringen der neuen Informatik-Technologie ermöglicht - so der Senatsdirektor - zwar betriebswirtschaftliche, volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritte, die Informatik vermag aber gleichwohl in allen Bereichen eine nicht geringe Brisanz zu entfalten. Jäckel: "Das besonders Fatale an der Informatik scheint dabei zu sein, daß uns diese Brisanz erst in einer relativ späten Phase unmittelbar erkennbar und bewußt wird."

Berufssituation der Diplominformatiker

Auf der Jahrestagung in Berlin stand auch die von der GI durchgeführte Umfrage "Zur Berufssituation des Diplominformatikers 1977" zur Diskussion. Dabei sollte - nach Worten des Diskussionsleiters Dr. Bernd Reuse vom Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) - die Frage geklärt werden, wie der Markt die Diplominformatiker sieht und welche quantitativen und qualitativen Rückflüsse auf die Ausbildung sich aus den ersten Erfahrungen mit Diplominformatikern im Beruf und aus Trends in der Entwicklung und im Einsatz der Datenverarbeitung ableiten.

Die Gesellschaft für Informatik hatte die ersten 1200 ins Berufsleben eingetretenen Diplominformatiker befragt, wie sie vom Markt aufgenommen werden und wie sie ihre eigenen Zukunftschancen sehen.

Die Umfrage ergab, daß die Ausgangssituation für Informatiker weiterhin günstig ist. Das Ausbildungsangebot der Hochschulen - so Reuse - liegt wegen der noch andauernden Aufbauphase nur etwa bei der Hälfte des Mindestbedarfs. Der Abschluß dieser Aufbauphase wird bis 1983/85 erwartet. Dann werden jeweils etwa 8000 bis 9000 Studenten mit Informatik als Hauptfach und Informatik als Nebenfach an den Hochschulen studieren. Reuse: "Der jährliche Personenausstoß der Hochschulen dürfte zwischen 1200 und 1400 für Hauptfach-Informatiker und zwischen 1900 bis 2200 für Nebenfach-Informatiker liegen. Zu bedenken sei dabei jedoch, daß die Informatiker rein zahlenmäßig mit einer erdrückenden Konkurrenz von Ingenieuren und Wirtschaftswissenschaftlern rechnen müssen, wenn es "um Arbeiten geht, die stark anwendungsbezogen sind". Im elektrotechnischen Bereich sei noch mit einer starken Konkurrenz aus den Fachhochschulen zu rechnen, da die meisten ingenieurwissenschaftlich orientierten Fachhochschulen inzwischen Informatik-Lehrgänge in das Ausbildungsangebot integriert haben der Datenverarbeitung oder Datenfernverarbeitung.

Die meisten Diplominformatiker erstellen Programme

Des weiteren ergab die Umfrage, daß zwei Drittel der Hochschul-Informatiker im Bereich "Programmerstellung und Systemanalyse" beschäftigt sind.

Die Diplominformatiker - so der BMFT-Experte - müssen sich darauf einstellen, daß Neuentwicklungen gegenüber Evolutionsarbeiten an vorhandenen Systemen zu vernachlässigen sind. Besonders wichtig für die zukünftige Ausbildung der Informatiker sei das derzeitige Zusammenlaufen von Hard- und Software-Entwicklungen im Bereich der

Prozeßsteuerung unter Einsatz von Mikrorechnern. Gleiche Tendenzen seien vorhanden in den Bereichen Distributed Processing, Textbe- und -verarbeitung und bei der Zusammenführung der verschiedensten Kommunikationsarten mit.

Ausbildung soll anwendungsbezogener sein

"Konstruktive Kritik" übten die Podiumsteilnehmer am Anwendungsbezug der Informatikausbildung. Laut Umfrage hatten die bisher ausgebildeten Diplominformatiker Anwendungsfächer belegt. Nach Meinung der Wirtschaftsvertreter ist es "ein unerträglicher Zustand", daß die ausgebildeten Hochschul-lnformatiker bei der Einstellung im Beruf "oft einen erheblichen Nachholbedarf im Wissen um den Einsatz neuer softwaretechnologischer Werkzeuge haben, daß sie oft sogar noch in Programmiersprachen ausgebildet werden müssen."

Um den Anwendungsbezug der Informatikausbildung an Hochschulen zu vertiefen, wurden die folgenden Vorschläge gemacht:

- Interdisziplinäre Projektstudienarbeiten in den Hochschulen

- Industrieseminare der Studenten

- Kooperationsvorhaben zwischen Hochschulen und der Industrie

- Lehraufträge der Hochschulen für Praktiker aus der Wirtschaft.

Auch im methodischen Bereich blieben einige Wünsche an die Hochschulausbildung: Kenntnisse in Projektmanagement- und Netzplantechniken, Präsentations- und Kommunikationstechniken sowie eine verkäuferische Grundschulung würden nach Meinung der Diskussionsteilnehmer vielen jungen Hochschulabgängern das Einarbeiten im Beruf erheblich erleichtern.

Reuse betonte, daß es für die Informatik am wichtigsten ist, daß der Kontakt zu den Anwendern in Industrie und Wirtschaft und daß der ständige Anschluß an die rapiden Entwicklungen im Markt erhalten bleiben.