IT im Gesundheitswesen/Die Mediziner holen auf

Digitalisierung als Nothelfer und Heilmittel

16.11.2001
Noch ist Papier als Datenträger die Regel in der Kommunikation zwischen den Ärzten. IT-Kommunikationsstandards haben sich noch nicht etabliert. Erste Ansätze zur datentechnischen Integration finden sich allerdings. Von Gerda von Radetzky*

Nachts. Es regnet. In einer kleinen Straße in München ereignet sich ein Verkehrsunfall. Ein Beteiligter ruft die Notrufzentrale an. Diese ordert einen Arzt-Pkw. Mit dem Sanitäter am Steuer blättert der Mediziner als Beifahrer hektisch im Stadtplan, um die Straße zu finden. Kostbare Zeit vergeht, ein Global Positioning System (GPS) gibt es nicht. Am Unfallort stellt der Arzt fest, dass ein Hubschrauber her muss, ein Krankenwagen ... Wieder vergeht lebensrettende Zeit.

Anders in Regensburg. Im Universitätsklinikum wurde das System "Noah" (Notfall-Organisations- und Arbeitshilfe) entwickelt, um den seriellen in einen parallelen Informationsfluss zu wandeln. Herzstück ist die Noah-Weste, die mobile IT-Komponenten enthält. Der Notarzt zieht sie über und schickt per Sprachsteuerung und einem mit Stift zu bedienenden Bildschirm die vor Ort erhobenen Befunde an die Aufnahme-Krankenhäuser. Er kann sogar Bilder vom Patienten und dessen Verletzungen mitschicken. So ist die Klinik gezielt alarmiert und kann alle Vorkehrungen treffen, noch bevor der Verletzte eintrifft.

Gerade in der Notfallmedizin, in der es oft auf jede Minute ankommt, verspricht die elektronische Übermittlung an einen Spezialisten erheblichen Zeitgewinn. Die ungenügende Ausstattung in München beruht laut Dr. Joachim Böffinger, Anästhesist an der Kreisklinik München-Pasing, unter anderem auf dem Kostendruck. Im Bereich der Notarztmedizin sollten zwei bis drei Millionen Mark eingespart werden, für die Ausstattung mit elektronischen Hilfen sei offenbar kein Geld da.

Baden-Württemberg ließ untersuchen, wie Akutkliniken die Möglichkeit nutzen, medizinische Bilder elektronisch zu übertragen. In immerhin knapp 50 der beteiligten 172 Häuser geschieht dies bereits, allerdings, so die Studie, ist die geringe Kompatibilität der eingesetzten Verfahren ein großes Problem.

Mit WAP zum ZahnarztDie Verbindung von vernetzten Anwendungen und Gesundheit eröffnet eine ganze Bandbreite neuer Dienste, von Anamnese über Vorsorge, Diagnose und Therapie bis zu Rehabilitation. Im Visier sind vor allem chronisch Kranke, die zwar nur fünf Prozent aller Krankheitsfälle ausmachen, aber 60 Prozent der Krankheitskosten verursachen.

Damit der Patient nicht lange nach der rettenden Telefonnummer suchen muss, wollen mehrere Bereiche der Siemens AG unter Führung der SBS (Siemens Business Services) mit der zur Ergo-Gruppe gehörenden Deutschen Krankenversicherung (DKV) in naher Zukunft ein Joint Venture unter dem Namen "Mobile Life" gründen. Über ein WAP-Portal (wap.dkv.de) werden diverse Dienste angeboten. Bekommt jemand in einer fremden Stadt Zahnschmerzen, wird er mit dem Call-Center des Versicherers verbunden. Das sucht den nächstgelegenen Zahnarzt und macht einen Termin aus, der dann auf dem Handy angezeigt wird, samt bildlicher Darstellung des Wegs dorthin.

Chipkarte für DiabetikerDer eigentliche Vorteil mobiler Lösungen soll indes im Monitoring liegen: Mittels Zusatzgeräten können Funktionen wie die Herzfrequenz oder Diabetes-Daten aufgezeichnet und zum Arzt oder Krankenhaus übermittelt werden. Vor allem wird mit UMTS, der mobilen Datenübertragung von Multimedia-Inhalten, spekuliert. Sie hat nicht nur den Vorteil, dass solche Zusatzgeräte ohne Kosten ständig online sein können, sondern die Menge der übertragenen Informationen pro Sekunde macht diesen Dienst so attraktiv.

Diabetes ist eine unter mehreren Volkskrankheiten, vier bis sieben Millionen Deutsche sind davon betroffen. Die Diabcard, ein EU-Projekt, wird inzwischen in sechs Ländern eingesetzt. Diese Chipkarte dient als Kommunikationsinstrument und enthält neben allgemeinen Patientendaten offene Schnittstellen, damit sie von jedem Arzt per Lesegerät gelesen werden kann. In sein System übernehmen kann er die Daten aber nur, wenn er mit der Patientensoftware MCS arbeitet. Auch hier zeigt sich wieder eines der größten Probleme: Die verschiedenen Systeme sind nicht kompatibel.

Der elektronischen Patientenakte für den niedergelassenen Arzt haben sich unter anderem Microsoft, IBM und der Pharmariese Pfizer verschrieben. Anfang Oktober gündete man gemeinsam das Unternehmen Amicore, das den Softwareentwickler Pen Chart kaufte. Dessen Software soll den Zeitaufwand für Verwaltungsarbeiten um bis zu 80 Prozent reduzieren können. Ob sie auch in deutsche Praxen passt, wird sich zeigen. Denn da sieht es so aus: Dr. Charles Sassen, der kürzlich in München eine chirurgische Praxis eröffnete, erkennt vor allem im Doctor-to-Doctor-Sektor und im Abrechnungssystem mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) noch Bedarf. Wurde derPatient von einem Kollegen überwiesen, kommt dieser mit einem Stück Papier in der Hand, mit wenigen Hieroglyphen versehen. Was der Arzt vor ihm tat, welche Medikamente verschrieben wurden, erfährt er nur auf dezidierte Nachfrage bei Patient oder Arzt. Am Ende des Quartals werden die Patientendaten auf Diskette per Gelber Post an die KV gegeben; aus Sicherheitsgründen trägt der Chirurg sie selbst dorthin. Und vom papierlosen Befundtransfer an das Krankenhaus, in dem er seine Patienten operiert, träumt er immer noch.

Ärzte und Klinik im NetzIn Frankfurt am Main können die Belegärzte der Rotkreuz-Krankenhäuser sich zumindest die Krankenakte online auf den Praxis-PC holen, auch OP oder Bett online buchen. Hat der Behandelnde eine Laboruntersuchung angeordnet, kann er verfolgen, wann diese ausgeführt wurde, und die Ergebnisse über seinen PC einsehen. Die elektronische Akte wird über ein drahtloses Netzwerk möglich gemacht. In allen Stationen stehen Web-Pads, bedienbar über einen Touchscreen. Von dort werden die Daten an den Krankenhaus-Server übertragen, wo sie verarbeitet und gespeichert werden. Noch kann der Belegarzt die Befunde nicht in seine Patientenakte online übernehmen. Siemens will ein Modul entwickeln, um wenigstens die Patientenstammdaten direkt vom Klinik- ins Praxissystem und umgekehrt transferieren zu können. Bis Ende des Jahres wollen sich 30 der 70 Belegärzte an der Entwicklung beteiligen.

Belegarzt und Klinik haben sich auch im Netzwerk Erft in Nordrhein-Westfalen zusammengeschlossen. In dem von der GMD in St. Augustin unterstützten Projekt ging die Initiative von den Ärzten aus.

Eine hausinterne digitale Patientenakte entwickelte die Uniklinik Freiburg. Der Arzt kommt mit Klinik-Laptop an das Krankenbett und kann auf sämtliche Daten einschließlich der Röntgenbilder zugreifen, ohne erst in Tüten nach Filmen zu suchen. Ein Vorteil: Die gesamte Archivierung nimmt wesentlich weniger Raum ein und wird übersichtlich. Voraussetzung für die digitalen Röntgenbilder sind schnelle Rechner und starke Leitungen. Ein Niedergelassener wird daher zweimal überlegen, ob sich der Einsatz wirtschaftlich lohnt. Inzwischen gibt es Patienten-CDs zur Speicherung digitaler Bilder.

In den Kliniken herrscht noch ein zweites Problem, das des Personal-Managements. Dessen Verbesserung ist Ziel unter anderen des Softwareentwicklers Atoss (www.atoss.com). Immerhin rund 70 Krankenhäuser in deutschsprachigen Ländern setzen dessen modular aufgebautes, Web-basierendes System bisher ein; das Klinikum Großhadern, eines der größten Krankenhäuser Deutschlands, verzichtet noch auf eine digitale Personalverwaltung, trotz (oder wegen) der stark angespannten Haushalts- und Personallage.

Der dritte Bereich betrifft den elektronischen Einkauf. Trat im vergangenen Jahr mit viel Verve Glomedix als E-Procurement-Partner an, so wurde der Online-Händler jetzt von der Vamedis AG geschluckt. Ende November soll der neue Internet-Auftritt stehen. Bereits im Mai hatte sich die Medicforma mit der Thyssen Krupp Health Care Services zusammengeschlossen. Ihren Angaben zufolge kostet ein Bestellvorgang konventionell bis zu 130 Mark, bei elektronischer Abwicklung könnten die Prozesskosten um bis zu 50 Prozent gesenkt werden. Rund 250 Krankenhäuser bestellen inzwischen über das System (www.medicforma.com).

Online-feindliche Mediziner?Die jüngste LA-Med-Umfrage zeigt, dass erst die Hälfte aller Ärzte das Internet nutzt, auch verfügen nur 24 Prozent der Kliniken über eine Homepage, wie Marktforscher Diebold festgestellt hat. Der MD-Verlag, der das Deutsche Gesundheitsnetz (www.dgn.de) und das Deutsches Zahnarztnetz (www.dzn.de) mit Content belieferte, hat gerade geschlossen. Jetzt will sich das Gesundheitsnetz nach eigenen Aussagen selbst auf das Geschäft als Provider verlegen. Die zunächst eigenständigen Gesundheitsportale Multimedica und Lifeline von Bertelsmann Springer erscheinen seit Oktober gemeinsam unter Bertelsmann Springer Medizin Online (www.bsmo.de). Unseriösen Informationen will die EU mit dem Gütesiegel Medcertain (Certification and Rating of Trustworthy Health Information on the Net) einen Riegel vorschieben; Ende des Jahres sollen die ersten Angebote zertifiziert sein (www.medcertain.org).

Die Affinität zu neuer Technik könnte sich mit Antritt der jüngeren Generation ändern. An der Universität Jena beispielsweise hält Rolf Kalff, Ordinarius für Neurochirurgie, seine Vorlesung am Bildschirm: Eine Operation wird live direkt in den Hörsaal übertragen, die entsprechenden Kommentare werden dazu geliefert. Probleme sieht er in zweierlei Hinsicht: "Die technische Vorbereitung dauert sehr lange, denn das Übertragungssystem wird von vielen genutzt. Und: Die Studenten wollen nur Prüfungsrelevantes hören." Abfragbares Wissen sollten sich die Studenten aber aus Büchern holen, meint der Professor. Seine Kollegen von der Neurochirurgie an der Uniklinik Mainz haben intern ein drahtloses Netzwerk. Der Arzt greift über ein PDA auf die in der zentralen Datenbank der Klinik gespeicherten Patienten-Daten zu.

Dass Telemedizin nicht nur an Unikliniken erprobt wird, sondern in der täglichen Praxis Erfolg hat, zeigt ein Verbund von Augenärzten, weltweit zusammengeschlossen im Projekt Eye Doctor Network (www.eyedoctornetwork.com). Unter Führung der Augenklinik der Uni Erlangen-Nürnberg sind über Medstage, eine Software von Siemens, Ärzte in Europa und im Nahen Osten über das Internet verbunden. Das Problem, aus dem der Verbund entstand: Werden bei Diabetikern bestimmte Veränderungen am Augenhintergrund zu spät entdeckt, erblinden sie. Eine frühe Diagnose indes kann das Augenlicht retten. Ist sich ein Augenarzt unsicher, sendet er den Befund per Stimme, Text und Bild online einem Experten seiner Wahl. Der trifft dann die genaue Diagnose und macht Therapievorschläge.

Wieder mehr Zeit für den PatientenInzwischen hat auch die Bundesregierung eingesehen, dass mit Telematik in der Medizin Kosten gespart werden können. Noch in dieser Legislaturperiode sollen Modellvorhaben von zu strengen gesetzlichen Auflagen befreit werden. Alle Elektronik hat jedoch nur dann einen Sinn, wenn sie den enormen Verwaltungs- und Archivaufwand reduziert, damit der Arzt wieder Zeit hat für das, was kein Bit ersetzen kann: das Gespräch mit dem Patienten. Einer D-to-D-Karte, mit der sich der Mediziner gegenüber Krankenversicherern, Kliniken oder einem Kollegen ausweisen kann, um elektronisch miteinander zu verkehren, soll die Medizinermesse Medica im November in Düsseldorf zum Durchbruch verhelfen.

Helmut Bauer, Geschäftsführer der NRW Medien GmbH in Düsseldorf und verheiratet mit einer Medizinerin, bringt das Dilemma auf den Punkt: "Wir haben hervorragende Einzellösungen. Die einen müssen bereit sein, diese Insellösungen abzugeben, um sie insgesamt zur Verfügung zu stellen, und die anderen müssen bereit sein, sie anzunehmen." (bi)

*Gerda von Radetzky ist freie Journalistin in München.