Homo sapiens informaticus: Das Menschenbild des Computerzeitalters

Die Zauberlehrlinge ziehen Bilanz

18.12.1987

Herausforderung durch neue Technik war das Thema: "Menschen zwischen Computer und Konsum" - dazu standen der deutsch-amerikanische Computerwissenschaftler Joseph Weizenbaum und der Bremer Bildungsexperte Klaus Haefner auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag '87 in Frankfurt Rede und Antwort. Während Haefner die Meinung propagiert, daß der Homo sapiens informaticus durchaus in der Lage sein wird, im kommenden Jahrtausend mit der Informations-Technik adäquat umzugehen, zeigt Weizenbaum Skepsis. Der vom Computer-Macher zum Technik-Mahner gewandelte US-Wissenschaftler ist überzeugt, daß sich dazu der Einzelne mit dem Gedanken einer autonomen Technik und Wissenschaft zunächst kritisch auseinandersetzen muß.

Frage: Steht im Jahr 2001 in jedem Wohnzimmer und an jedem Arbeitsplatz ein Computer?

Haefner: Lassen Sie mich zunächst sagen, wie ich mir die Welt im Jahre 2000 im Hinblick auf die Technik-Gestaltung an Arbeitsplatz und im privaten Bereich vorstelle.

Es ist ja bereits aus meinen Publikationen deutlich geworden, daß ich ein sehr vorsichtiger Denker bin, was die Zukunft betrifft. Eine human computerisierte Gesellschaft kann nur durch eine vernünftige Kooperation von handelnden Menschen entstehen, nicht von Computern. Ich habe allerdings den Eindruck, daß wir in der Bundesrepublik das aktive Umgehen mit Computern verdrängen und zunehmend zu einem Entwicklungsland werden, das im wesentlichen amerikanische und japanische Konzepte kauft und umsetzt.

Trotzdem - oder gerade deswegen - liegen die jährlichen Umsatzsteigerungen dieser Branche in der Bundesrepublik bei 25 Prozent. Zu der Frage, wie wir uns die Situation im Jahre 2001 vorstellen, lohnt es sich, die gleiche Zeitspanne zurückzudenken, nämlich ins Jahr 1973. Damals waren Worte wie Mikrocomputer, Bildschirmtext, Compact-Disc, eben so Bankautomat und Industrieroboter unbekannt.

In 14 Jahren haben wir also Milliarden Dollar Umsätze aus dem Nichts geschaffen, aus dem begrifflich nicht einmal Vorbestimmten. Die Branche, so glaube ich, wird weiterarbeiten, und im Jahre 2001 werden die Umsätze weiter steigen, weil gerade in der Bundesrepublik offensichtlich eine breite Akzeptanz für diese Technik vorhanden ist. Ich gehe davon aus, daß in den nächsten 14 Jahren in 30, 40 Prozent der Haushalte "intelligente", also informationsverarbeitende Systeme Einzug halten. Sie werden nicht die Struktur heutiger persönlicher Computer haben, sondern sehr viel komplexer sein. Die Hälfte der Arbeitsplätze wird künftig durch Informationstechnik unterstützt, durch Büro-Automaten, Roboter oder Infrastruktursysteme.

Lassen Sie mich einige Gründe dafür nennen. Zum einen wird die Leistungsfähigkeit im Wettbewerb der

Menschen untereinander diese Technik uns immer näher bringen. Zweitens glaube ich, daß die junge Generation versuchen wird, die Welt zu gestalten. Dabei ist die Informationstechnik eine phantastische Herausforderung. Hier bietet sich nämlich etwas, was sie ohne Veränderung von Energie und Materie gestalten kann: Informationstechnik geht mit dem Geist, mit dem Wort um.

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"Die Machtlosigkeit des Einzelnen nimmt zu, glaubt man an die

autonome Technik, Technologie und Wissenschaft."

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Und schließlich - last but not least: Diese Technik wird immer leichter zu benutzen sein, und deswegen wird sie sich ausbreiten.

Weizenbaum: Ganz bestimmt wird sich die Mikroelektronik weiter stark verbreiten, so wie es derzeit bereits zu beobachten ist. Ob in jedem Wohnzimmer im Jahre 2001 ein Computer zu finden sein wird? Die Antwort lautet: Ja. Aber der Computer oder besser die vielen Computer, die uns umgeben, sind unsichtbar.

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"Allerdings gibt es eine junge Generation, eine große Generation, die im Aufbruch ist und die diese 2000er Jahre gestalten wird."

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Es ist heute schon der Fall, daß es in der Bundesrepublik, und ganz bestimmt in Amerika, mehr Computer gibt als Menschen, aber die Computer sind unsichtbar. Genauso wie es in der modernen Welt beispielsweise ein Gerät gibt, das täglich eine große Zahl von Menschen benutzen, und nicht nur einmal, von dem sie aber nichts sehen, von dem sie wenig wissen. Ich denke an den Elektromotor. So wird es auch mit dem Computer sein. Diese Tatsache hat nun wieder viel damit zu tun, was wir zum Beispiel in der Schule über den Computer lehren sollten und nicht unbedingt, was "jeder" vom Computer wissen soll und wie wir mit dem Computer umgehen können.

Noch ein Wort zu dem, was Professor Haefner eben gesagt hat: Wir benutzen neue Begriffe wie "Bildschirm", "Mikroelektronik" etc. Wo kommen sie aber her? Sie kommen nämlich nicht von "nichts". Denn sie sind Folge einer Entwicklung. Und die Antwort, jedenfalls aus Amerika, wo die meisten Rechner herkommen, lautet schlicht: Das Militär prägte sie. Wie kommt es etwa, daß der Computer so klein geworden ist, um ihn bequem herumtragen zu können, etwa in einer Uhr oder in einem Fotoapparat?

Man sollte nicht glauben, daß der Computer oder irgendein anderes Instrument eine autonome Entwicklung nimmt. Es gibt jene Kräfte in der Gesellschaft, die etwas fordern und jene, die etwas nicht fordern. Für das Militär war es notwendig, zum Beispiel um die Cruise Missile zu steuern oder Raketen abzuschießen, Computer immer kleiner, immer leichter, immer leistungsfähiger zu gestalten. Dazu sollte man sich daran erinnern, daß der Computer im Krieg geboren wurde. Der Computer und die ganze damit zusammenhängende Industrie - das wissen viele Menschen nicht - ist zwischen dem Ende des 2. Weltkrieges und dem Anfang des Krieges in Korea fast gestorben. Mutter des Computers ist das Militär, und daran sollten wir uns oft erinnern.

Frage: Wie verändert sich die Gesellschaft durch die Computertechnik? Wird die Demokratie demokratischer oder autoritärer?

Weizenbaum: Die Veränderung der Gesellschaft hat sehr viel weniger mit dem Computer oder mit irgendeinem technischen Gerät zu tun, als die meisten Zeitgenossen das

vermuten. Wenn wir glauben, daß wir jetzt in eine Informationsgesellschaft einsteigen, also in etwas ganz Neues, ist das eine irrige Annahme. Wir hätten ebenso vor hundert Jahren sagen können, als es gelungen war, ein Telegramm von New York nach San Francisco zu schicken, daß Amerika verdrahtet würde.

In einer Informationsgesellschaft, wird gesagt, ist es für jedes Kind notwendig, etwas von dieser Materie zu wissen. Die Entscheidungen, die wir treffen müssen, um überhaupt das Jahr 2001 zu erreichen, haben indes nur sehr wenig mit Maschinen zu tun, aber in jeder Weise mit politischem Willen und Moral. Wir sind heute in der Lage, rein technisch gesehen, jedem Menschen auf dieser Erde Essen, ein Dach und Kleidung zu geben sowie ihn in Würde leben zu lassen. Es fehlt uns also nicht an der Technik, es fehlt an dem politischen Willen. Es fehlt uns zum Beispiel - und hier spreche ich ganz besonders zu den Menschen in der Bundesrepublik - der Wille, zu erkennen, daß es ohne wirtschaftliche Gerechtigkeit keine soziale Gerechtigkeit geben kann und daß sich ohne diese beiden Faktoren Kriege nicht beseitigen lassen. Und um diese Gerechtigkeit zu schaffen, müssen wir bereit sein, unseren "Standard of Living" zu verringern. Ich erwähne das, obwohl es mir wenig mit Computern direkt zu tun hat. Ich möchte zeigen, daß es nicht die Maschine, nicht die Technik ist, die sich ändern muß. Wir selbst müssen uns ändern.

Haefner: Sicher ist es richtig, daß die moderne Computerentwicklung viele Wurzeln im Militär hat. Allerdings kann man für Deutschland festhalten, daß die frühe Entwicklung des Computers von Konrad Zuse nicht militärisch beeinflußt war. Man kann also auch Computer erfinden, ohne militärisch gefördert zu sein, ohne rüstungstechnische Interessen zu haben. Konrad Zuse hatte im wesentlichen ein Rationalisierungsinteresse für das Bauwesen.

In der politischen Einschätzung des Jahres 2000 kann ich Professor Weizenbaum im wesentlichen zustimmen: Wenn es gelänge, auf der Welt politische Maßstäbe neu zu ordnen, wenn es gelänge, neue Einsichten wirklich zu verbreiten und umzusetzen, dann könnte die Welt anders aussehen.

Als Realist gehe ich allerdings davon aus, daß von diesen Träumen nur ganz wenige wahr werden können. Wir sind in einer Welt, auf der im Jahre 2000 zirka acht Milliarden Menschen leben werden, weit davon entfernt, diesen Konsumverzicht, diese Gleichverteilung, diese politische Harmonie zu entwickeln, die uns vorschwebt.

Ich gehe bei meinen Betrachtungen zur Wirkung der Informationstechnik davon aus, daß es in der Tat gelingt, an der einen oder anderen Stelle etwas mehr Humanität, etwas mehr politische Einsicht durchzusetzen. Im wesentlichen aber wird auch im Jahr 2000 unsere Welt politisch so wie derzeit organisiert sein. Es wird Industrienationen und sich entwickelnde Nationen geben, und es werden Entwicklungsländer existieren. Es wird die politische Macht und den Wohlstand der Reichen geben - und die Armut in der Dritten und Vierten Welt. Wenn wir uns vor diesem Hintergrund fragen, was der Computer bewegen könnte, kann man für die Bundesrepublik, und nur für die möchte ich eine Prognose wagen, sagen: Wir werden uns in verschiedenen Bereichen intensiv mit der Computerisierung auseinandersetzen. Das beginnt im Bildungswesen. Dort sind durch die Beschlüsse der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung die entsprechenden Weichen gestellt: Informationstechnische Grundbildung als ein Vertrautsein, eine Fähigkeit, die Technik zu beherrschen, wird beispielsweise in den Schulen in der Sekundarstufe I, in den Hochschulen und in der Erwachsenenbildung vermittelt werden. Ich habe also Hoffnung, daß im Jahre 2001 sehr viel mehr Menschen kompetent diese Technik nutzen, kontrollieren und organisieren können, als das heute der Fall ist, wo in der Tat einige wenige dieses Werkzeug an sich reißen; und als Machtinstrument nutzen können - und viele nur staunend davorstehen.

Im Bereich der Ökonomie, glaube ich, stehen wir vor sehr kritischen Entwicklungen. Die herrschende Arbeitslosigkeit und die durch weitere Automatisierung noch entstehende Arbeitslosigkeit werden uns in ökonomische Widersprüche verwickeln; die Frage wird lauten: Gelingt es in der Bundesrepublik, zu einem neuen Konzept der Volkswirtschaft

zu kommen? Ich habe einige Vorschläge dazu geäußert, und ich bin nicht ganz pessimistisch. Es ist denkbar, daß wir aus den derzeitigen Widersprüchen des tradierten volkswirtschaftlichen Systems heraus in ein System überwechseln, in dem wir die hohe Arbeitsproduktivitätssteigerung, die mit dieser Technik möglich ist, sozial gerecht verteilen.

In einem Bereich bin ich allerdings sehr skeptisch - und da teile ich meine Skepsis mit Professor Weizenbaum: in der Frage der militärischen Nutzung der Computer. Ich sehe bisher nicht, wie das Militär mit Blick auf diese Technik kontrolliert werden kann. Ist es doch jener Bereich in dem diese Technik am weitesten fortgeschritten ist, von dem letztlich unser Sein oder Nichtsein abhängt - man denke an die Funktion der Frühwarnsysteme, man denke an den Wahnsinn einer SDI-Entwicklung.

Mit der modernen Informationstechnik haben wir zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit, breite Schichten der Gesellschaft qualifiziert zu informieren weil sie Zugang zur Information haben können, zum politischen Wissen, zum "Wissen der Macht" auf dieser Welt. Dies bietet uns die Möglichkeit, uns in die politische Entscheidung einzumischen. Telekommunikationsnetze etwa können genutzt werden, um eine direktere, eine partizipativere Demokratie zu organisieren. Ich hoffe, es wird uns gelingen, in der Bundesrepublik aus dem derzeitigen System der repräsentativen Demokratie ein Stück weiter in die direktere Demokratie zu kommen.

Frage: Wie verändert sich der Mensch als einzelner sowie als soziales Wesen?

Haefner: Der Mensch wird sich bis zum Jahre 2001 in Deutschland wenig verändert haben. Schließlich haben wir ja eine völlig überalterte Population. Wir werden im Jahre 2001 einen Anteil von mehr als 30 Prozent jenseits der 60-Jahr-Grenze besitzen. Es ist kaum zu erwarten, daß die Grundeinschätzung diese älteren Menschen sich wesentlich von dem heutigen Zustand unterscheiden wird. Wertvorstellungen und Verhaltensmuster sind recht stabil.

Allerdings gibt es eine junge Generation, eine große Generation, die im Aufbruch ist und die diese 2000er Jahre gestalten wird. Ich sehe etwa die Möglichkeit, das Konzept der "psychischen Mobilität mit Informationstechnik" zu realisieren, sich die Technik anzueignen und untertan zu machen, mit dieser Technik voranzukommen. Daher entwickle ich die Vision einer human computerisierten Gesellschaft, also einer Gesellschaft, in der es gelingt, die menschlichen Ziele und Interessen, unsere politischen Grundströmungen mit dem Computer weiterzuverfolgen und umzusetzen. Dieses kann natürlich kein Selbstläufer sein, obwohl - und das ist nicht uninteressant - die Hersteller dieser Technik an deren Verbreitung und damit der Verfügbarkeit sehr interessiert sind. Sie liefern durch die entsprechende Kostendegression einen Beitrag dazu, daß diese Verfügbarkeit, diese individuelle Nutzbarkeit möglich wird. Der Mensch kann sich also psychisch entfalten; wir stehen vor einer "zweiten kopernikanischen Wende", wie die amerikanische Soziologin Sherry Turkle sagte. Wir stehen vor der Möglichkeit, sozusagen hineinzugleiten in eine neue Organisation von Wissen, in eine neue Struktur von menschlichen Verstehens- und Verhaltensmustern. Ob das ein homogenes System wird oder ob weiterhin eine heterogene Struktur bleibt, steht dahin.

Für mich scheint ziemlich deutlich - und ich habe dafür mehrfach aus dem Blickwinkel der Evolution heraus argumentiert: Wir stehen vor einer sozio-technischen Integration. Das herkömmliche Bild des autonomen Homo sapiens wird zunehmend verblassen vor einer neuen Situation, in der wir einen Homo sapiens informaticus haben, einen Menschen der in der Lage ist, mit dieser Technik komplementär umzugehen, sich mit dieser Technik auseinanderzusetzen und die Welt zu regieren und zu beherrschen.

Weizenbaum: Wie verändert sich der Mensch in den nächsten 14 Jahren? Ich bin pessimistisch. Leider ist die Chance, daß das "Morgen" sich vom "Heute" unterscheiden wird, nicht recht groß - falls wir überhaupt bis dahin überleben. Wenn es so wie heute weitergeht, wird sich der Mensch, jedenfalls der "moderne Mensch", entwickeln: Er wird sich selbst zunehmend als eine Maschine ansehen. Das hat bereits schon angefangen. Er wird den Glauben an eine autonome Technik vertiefen - und damit auch die größte Geisteskrankheit unserer Zeit, jene Illusion, die bereits so weit verbreitet ist. Die Machtlosigkeit des Einzelnen nimmt zu, glaubt man an die autonome Technik, Technologie und Wissenschaft. Wenn wir bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht über den Abgrund gestürzt sind, wird uns diese sehr wahrscheinliche Entwicklung bestimmt diesem Abgrund viel näher bringen.

Es ist nicht nur möglich, es ist absolut notwendig, daß sich der Mensch verändert. Aber wiederum möchte ich betonen, daß die Realisierung dieser Möglichkeit sehr wenig mit Technik zu tun hat. Wir brauchen keine Forschung, um zu wissen, was wir tun müssen. Ich erinnere dabei an die Bergpredigt. Dort besitzen wir ein Muster, wie man leben könnte. Der Glaube, daß die Technik uns helfen kann, ist indes schon, so denke ich, ein Weggeben, ein Verlassen der eigenen Verantwortung.