Die Warnsignale einfach überhört

28.05.2001
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Gerhard Holzwart begann 1990 als Redakteur der COMPUTERWOCHE und leitete dort ab 1996 das Ressort Unternehmen & Märkte.  Ab 2005 verantwortete er den Bereich Kongresse und Fachveranstaltungen der IDG Business Media GmbH und baute „IDG Events“ mit jährlich rund 80 Konferenzen zu einem der führenden Anbieter von ITK-Fachveranstaltungen in Deutschland aus. Seit 2010 ist Gerhard Holzwart geschäftsführender Gesellschafter der h&g Editors GmbH und ist in dieser Funktion als Event Producer, Direktmarketingspezialist und ITK-Fachredakteur tätig.        

Der Internet-Gigant Cisco Systems ist ins Straucheln geraten. Erstmals seit dem Börsengang 1990 ist man in die roten Zahlen gerutscht. Doch hinter den vermeintlichen Ursachen der Misere - die weltweite Konjunkturabschwächung sowie die Abschreibung von Lagerbeständen in Milliardenhöhe - steckt mehr: Die Kalifornier haben sich zu lange in Sicherheit gewiegt, sind satt und träge geworden.

Chambers hat das, was er lange Zeit nicht hatte: ein paar Probleme. Seit gut sechs Jahren amtiert der heute 51-jährige als CEO von Cisco Systems, hat in dieser Zeit den Umsatz der früheren Router-Company von 1,2 auf 18,9 Milliarden Dollar gesteigert. Jetzt, so scheint es, bekommt der Lack des Spitzen-Managers auf einmal deutlich sichtbare Kratzer ab.

Quelle: Independent Medien-Design
Quelle: Independent Medien-Design

Aus dem Liebling einiger US-amerikanischer und europäischer Wirtschaftsgazetten, die Chambers noch vor nicht langer Zeit als "besten Unternehmenschef der Welt" feierten, ist plötzlich ein Zauderer geworden, der in den vergangenen Monaten einiges, wenn nicht gar alles falsch gemacht hat.

Doch das eigentliche Problem ist: Es steht nicht nur die Reputation von John Chambers auf dem Spiel, sondern der weitere Erfolg eines Unternehmens, das sich in den zurückliegenden Jahren aufgemacht hat, das Internet und damit die IT-Branche insgesamt zu dominieren. Die Fakten sprachen jedenfalls für sich: Noch im März 2000 herrschte bei Cisco eitel Sonnenschein; mit einer Marktkapitalisierung von gut 550 Milliarden Dollar war man die am höchsten bewertete Company der Welt - vor Old-Economy-Größen wie General Motors, General Electric oder Coca-Cola, aber auch vor IT-Giganten wie Microsoft, Intel und vor allem IBM.

Selbst die seriösesten Marktumfragen attestierten Cisco in seinem Kerngeschäft, also Routern und Switches, einen Weltmarktanteil von über 80 Prozent. Die "Enabler des Webs", als die sich die Kalifornier in Image-Anzeigen und TV-Spots sinngemäß gerne selbst darstellten, schienen mit ihrer unverwundbaren Position im Geschäft mit Internet-Infrastruktur eine Lizenz zum Gelddrucken zu besitzen. Elf Finanzquartale in Folge mit Rekordumsätzen sprachen Bände.

Gut ein Jahr später ist alles Makulatur. Das Unternehmen kämpft - wie viele andere IT-Firmen in den USA auch - mit rückläufigen Umsätzen, muss Mitarbeiter entlassen, nur hat man das von Cisco am allerwenigsten erwartet. Spätestens im Januar aber, als CEO Chambers auf dem Weltwirschaftsforum in Davos mit ersten pessimistischen Einschätzungen zum weiteren Geschäftsverlauf an die Öffentlichkeit ging, wurden auch die kalifornischen Himmelsstürmer vom Alltag der weltweit abflauenden Konjunktur eingeholt.

Die "Dramaturgie" der weiteren Weges in die Krise ist bekannt: ein für Cisco-Verhältnisse enttäuschendes zweites Quartal, verbunden mit der offiziellen Ankündigung, sich von 6000 festen und 2000 freien Mitarbeitern zu trennen. "Die letzte Bastion des Internet ist gebrochen", kommentierten Analysten in der Folge teils zynisch, teils auch überrascht die nun offensichtlichen Probleme ihres einstigen Lieblings. Zwischenzeitlich wurde die Zahl der geplanten Entlassungen noch einmal nach oben korrigiert; weitere 500 Mitarbeiter sollen ihre "Pink Slips" erhalten. Nicht wie eine Zäsur, schon eher wie eine letzte Bestätigung erschienen dann vergangene Woche die Ergebnisse für das am 28. April beendete dritte Quartal 2001: Erstmals seit dem Börsengang im Februar 1990 schrieben die Kalifornier rote Zahlen.

Bedingt durch Abschreibungen von Lagerbeständen in Höhe von 2,25 Milliarden Dollar sowie Abfindungen an Mitarbeiter steht ein Nettoverlust von 2,69 Milliarden Dollar in der Bilanz. Die Einnahmen fielen gegenüber dem dritten Quartal 2000 von 4,93 auf 4,73 Milliarden Dollar, der erste Umsatzrückgang seit 1990. Im Vergleich zum zweiten Quartal dieses Jahres brachen die Einnahmen sogar um 30 Prozent ein. Aus der "festen Bank im Internet" ist, so könnte man zugespitzt formulieren, fast ein Sanierungsfall geworden. Mit entsprechendem Echo an der Börse: Cisco hat inzwischen rund 80 Prozent seines Börsenwerts wieder verloren.

"Die ersten vier Monate des Jahres waren sehr schwierig. Die Auftragseingänge gingen von plus 70 Prozent (Vergleich November gegenüber Oktober 2000, Anm. d. Red.) auf ein Negativwachstum von zuletzt 30 Prozent zurück", gab Chambers in seinem offiziellen Statement zum Quartalsbericht zu Protokoll. Nach dem schon seit Monaten spürbar schwächeren Geschäftsverlauf in den USA hätten nun auch die Märkte in Asien und Europa eine Atempause genommen. Generell sei die IT-Branche in den vergangenen Monaten von "einem Extrem ins andere gefallen", erklärte der Cisco-Chef dabei sich und den Analysten erneut den Umstand, dass sich so mancher Business-Plan seiner Company als Schall und Rauch erwiesen hatte. Nach dem Hype sei eben der Katzenjammer gekommen - sprich: der Untergang der noch vor kurzem investitionsfreudigen New-Economy-Firmen sowie der allgemeine Abschwung der Weltwirtschaft.

Ansonsten fiel Chambers nicht viel Erhebendes ein. Im laufenden Quartal sei mit einem weiteren Umsatzrückgang von zehn Prozent zu rechnen. Gleichzeitig gehe man aber davon aus, dass die Tahlsohle binnen der nächsten sechs Monate erreicht werde und dass dann die Investitionen der Kunden in Netztechnik wieder deutlich zunehmen. Langfristig bleibe man jedenfalls optimistisch, dass Cisco und der Rest der Netzbranche wieder an die gewohnten Wachstumsraten zwischen 30 und 50 Prozent anknüpfen können. Konkrete Prognosen für das Ende Juli beginnende Geschäftsjahr 2002 wollte Chambers indes aufgrund "derzeit zu vieler Unbekannter" nicht abgeben.

Die Wallstreet reagierte auf den Ausblick des Cisco-Frontmannes eher zurückhaltend. Vielfach wurden die jüngsten Verlautbarungen des Unternehmens zur weiteren Geschäftsentwicklung aufgrund der allgemeinen Marktsituation als "zu optimistisch" eingestuft - auch wenn sich die Kalifornier bisher in ihren Prognosen immer als sehr zuverlässig erwiesen haben. Gar nicht gut angekommen bei den Anlegern ist aber vor allem etwas anderes: das in den letzten Monaten wenig überzeugende Krisen-Management der Cisco-Verantwortlichen.

Warum, so fragt man sich, mussten jetzt plötzlich Lagerbestände in Höhe von 2,25 Milliarden Dollar (484 Millionen Dollar in Form fertiger Produkte, der Rest in Bauteilen und Komponenten) binnen einer einzigen Dreimonatsperiode wertberichtigt werden? Die bei börsennotierten US-Firmen durchaus gängige Tradition, im Falle einer offenkundig schlechten Geschäftslage alle "Probleme" im Rahmen einer Quartalsbilanz quasi als Ballast abzuwerfen, ist die eine mögliche Antwort.

Die andere Interpretation, die sich aufdrängt, ist für das Cisco-Management noch weniger schmeichelhaft: Alle Frühwarnsysteme des Unternehmens, das sich stets seiner internen Internet-Tools für ein straffes, binnen 24 Stunden aktualisierbares konzernweites Controlling rühmte, haben versagt. Wie sollte sonst zu erklären sein, dass die Kalifornier nun auf Unmengen fertiger Produkte sitzen, die sich nicht mehr (weil veraltet oder weil die Kunden nicht mehr zahlen können) oder nur noch unter großem Verlust (weil die Bauteile gemessen an den heutigen Marktpreisen überteuert eingekauft wurden) an den Mann bringen lassen?

Für letztere Theorie spricht einiges. Rückblende: Noch im Mai vergangenen Jahres kam es, wie sich jetzt herausstellte, auf einem internen Meeting von 600 Cisco-Managern zu einem verhängnisvollen Beschluss. CEO Chambers forderte von seinem Vertrieb eine Art "Flankenschutz" für das gegenüber Analysten leichtsinnigerweise genannnte Ziel, auch in dem Ende Juli beginnenden Fiskaljahr 2001 ein 60-prozentiges Umsatzplus zu realisieren.

Geradezu kontraproduktiv wirkte sich dabei nach Ansicht des Cisco-Chefs die damalige Situation im klassischen Enterprise-Geschäft aus, wonach wichtige Großkunden nach Auftragserteilung bis zu 15 Wochen auf die Auslieferung und Installation ihrer Systeme warten mussten. Konsequenz war besagtes Vollstopfen der Läger mit Komponenten, die angesichts des damals noch vorherrschenden Booms entsprechend hochpreisig eingekauft wurden. Gleichzeitig animierten die Kalifornier ihre Auftragsproduzenten zu Sonderschichten.

Doch genau aus diesem Kreis kamen wenige Wochen später schon erste Alarmmeldungen, beispielsweise vom Embedded-Systems-Spezialisten Solectron, wo man einem Firmensprecher zufolge die Cisco-Verantwortlichen vertraulich, aber nachdrücklich auf eine "sich abzeichnende Marktsättigung bei den Telcos, Internet-Service-Providern (ISPs) und vor allem den zahlreichen Dotcoms" hinwies. Chambers´ Reaktion auf erste Zeichen einer Abschwächung des Geschäfts, die seinerzeit auch einige wenige Analysten beunruhigte, war bezeichnend: "Die Dotcoms haben Geld und werden kaufen. Sich auf das Wachstum der New Economy nicht selbst einzustellen ist der beste Weg, Kunden zu verlieren."

Spätestens einige Wochen später, als der vielzitierte Shakeout unter den US-Internet-Firmen begann, als auch große etablierte Carrier wie Worldcom und AT&T ankündigten, ihre ursprünglich ehrgeizig angelegten Investitionen zum Ausbau landesweiter Glasfaser- und Breitbandnetze zu überdenken, müsste Chambers klar geworden sein, dass er mit seinen Annahmen falsch gelegen hatte. Doch es kam, wie man heute weiß, noch kein Signal zum Gegensteuern. Reihenweise platzten in der Folge Projekte bei Cisco-Kunden, die sich - zum Teil noch mit großzügigen Krediten der Kalifornier ausgestattet - in die Zahlungsunfähigkeit verabschiedeten. Noch im Oktober und November, als auch potenzielle Cisco-Rivalen wie Nortel und Lucent angesichts der dramatisch einbrechenden Nachfrage im Markt heftig ins Straucheln gerieten, wähnte sich Chambers Mannschaft sicher, führte die Schwierigkeiten der Konkurrenz auf "interne Management-Probleme" zurück.

Erst zur Jahreswende und in den ersten beiden Januarwochen wurde den Cisco-Verantwortlichen offenbar das Ausmaß der Misere bewußt. Die Umsätze im vermeintlichen Zukunftsmarkt der Telcos, ISPs und Dotcoms waren gegenüber dem Vormonat um mehr als 40 Prozent eingebrochen; intern standen sämtliche Warnsignale auf Rot, als man Insidern zufolge feststellte, dass man sich von seinem eigenen Web-basierten Bestellsystem in Sachen Auftragseingang hatte blenden lassen und nun erkennen musste, dass viele Kunden angesichts der erwähnten Lieferengpässe zwei oder dreimal den gleichen Auftrag erteilt hatten - einmal bei Cisco selbst und dazu noch bei dem einen oder anderen Distributor.

Chambers Auftritt auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Ende Januar, wo er die Zukunft der US-Konjunktur düster malte und bei den Analysten für eine "konservativere Einschätzung" seiner Company warb, war also wohl dosiert. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wusste der Cisco-Chef mehr, doch es galt, die Anleger behutsam auf die Tatsache einzustimmen, dass auch die "IT-Ikone" Cisco in schwieriges Fahrwasser geriet. Zu lange hatte man selbst an das unbegrenzte Wachstum der New Economy und damit an die eigenen unrealistischen Prognosen geglaubt. Ein fataler Management-Fehler, wie sich heute herausstellt und auch aus berufenem Munde bestätigt wird. Cisco-Chairman John Morgridge stellte CEO Chambers jedenfalls nicht gerade das beste Zeugnis aus, indem er öffentlich darüber räsonierte, dass "einige Anzeichen der Marktabschwächung vorhersehbar waren".

Vielfach wird jetzt befürchtet, dass die Kalifornier noch weitere Desaster in ihrer Bilanz versteckt haben, die in den nächsten Berichtsperioden etwa in Form noch abzuschreibender Kredite an insolvente Kunden "aktiviert" werden müssen. Hinzu kommt dem Vernehmen nach teuer eingekaufte Halb- und Fertigware im Wert von 1,9 Milliarden Dollar, die noch in den Cisco-Regalen schlummert und in den kommenden Monaten verkauft werden muss - mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Marge.

Fatal könnten sich noch zwei andere Gegebenheiten auswirken. Wie kaum ein anderes Unternehmen hatte Cisco in den zurückliegenden Jahren dem vermeintlichen Trend "Voice-over-IP" das Wort geredet, hatte mit einer entsprechenden Produkt- und Marketing-Offensive erst die Basis dafür geschaffen, dass man im Ausrüstergeschäft für Telcos und ISPs als traditioneller Hersteller von Routern und Switches für Firmennetze den Lucents, Ericssons, Nortels und Alacatels dieser Welt den Kampf ansagen konnte. Doch die Kehrseite der Medaille war eine Vernachlässigung des eigentlichen Kerngeschäfts. Denn noch immer erzielen die Kalifornier 60 Prozent ihres Umsatzes mit so genannten Enterprise-Kunden - ein Markt, in dem Konkurrenten wie Juniper Networks in den vergangenen Monaten deutlich an Boden gewinnen konnten.

Fraglich ist zudem, ob die Akquisitionsmaschinerie des Unternehmens angesichts des niedrigen Aktienkurses nicht nachhaltig ins Stocken gerät. Folgt der unlängst angekündigten Einstellung der Produktlinie des im Sommer 1999 übernommenen Fiberoptic-Spezialisten Monterey Networks ein weiteres Menetekel? Mehr als 70 Prozent seiner Lösungen entwickelt Cisco eigenen Angaben zufolge inhouse.

Über 70 Firmen haben die Kalifornier aber gleichzeitig seit 1993 - teilweise fast im Monatsrhythmus - gekauft und kein Hehl daraus gemacht, dass dabei die Weiterentwicklung der entsprechenden Produkte das eigentliche Ziel war. "Time-to-Market" war bei Cisco immer auch eine spezielle Facette der Marktsondierung. Chambers hat dem vorsorglich schon einmal (rhetorisch) vorgebaut.

17 Milliarden Dollar an Barreserven liegen auf den Firmenkonten, da lässt sich der eine oder andere Deal locker cash finanzieren. Der Cisco-Chef stellte jedenfalls schon einmal klar, dass man sich in "Zukunft auch eine Übernahme näher an den konkreten Markterfordernissen" vorstellen könne. Mit anderen Worten: Nicht wie in der Vergangenheit kleinere Nischenanbieter mit einer avantgardistischen Technologie, sondern gegebenenfalls auch direkte Wettbewerber könnten verstärkt ins Blickfeld der Kalifornier rücken.

Auch ansonsten gab sich der in der Kritik stehende Cisco-Chef kämpferisch. "Wir befinden uns in einem Tal, das tiefer ist, als wir es erwartet haben. Doch wir glauben an die langfristigen Perspektiven der New Economy. Die Bedeutung des Internet und die von Cisco Systems sind dabei unverändert groß", schrieb er seinen Mitarbeitern und der Öffentlichkeit via Presseerklärung ins Stammbuch.