Die Vernachlässigten

03.12.2008
Nur sechs Prozent der IT-Experten in Unternehmen sind zwischen 50 und 65 Jahre alt. Eigentlich kann sich die Branche diese Ignoranz nicht mehr leisten.

Sie fühlen sich an den Rand gedrängt und wenig geschätzt. Sie wollen ihren Job machen, werden aber zunehmend übergangen. Sie möchten ihre Aufgabengebiete verändern und müssen allzu oft im alten Fahrwasser bleiben - Mitarbeiter, die einmal die fünfzig überschritten haben, gelten in deutschen Unternehmen immer noch eher als Ballast denn als wertvolle Manpower - gerade in der jugendlichen IT-Branche. "Doch das werden sich die Firmen nicht mehr lange leisten können", sagt der Personalexperte Marcus Schmitz, Geschäftsführer der IGS-Organisationsberatung in Köln. "Selbst wenn es der Wirtschaft schlechter geht, wird der Fachkräftemangel kaum zu bewältigen sein, ohne ältere Mitarbeiter optimal einzubinden oder zu rekrutieren."

Aber wie sollten Unternehmen dabei am besten vorgehen? Und was wünschen sich die Älteren selbst, um ihre Fähigkeiten am Arbeitsplatz möglichst effektiv und lange einsetzen zu können? Um das herauszufinden, hat Schmitz knapp 130 Führungskräfte in den IT- und Personalabteilungen, in der Beratung und im Vertrieb deutscher Unternehmen befragt.

Kein Generationenmix

Die Ergebnisse der IGS-Studie liegen nun auf dem Tisch. Demnach sind viele ältere Mitarbeiter mit ihrer beruflichen Situation unzufrieden. Wertschätzung erfahren sie vor allem von Gleichaltrigen auf der gleichen Hierarchieebene oder von den ganz Jungen, denen sie offenbar Orientierung bieten. Insgesamt werden sie nur selten um Rat, nach ihrer Expertenmeinung, ihrem Know-how gefragt und bei Entscheidungen gezielt hinzugezogen - und diese Einbindung ihrer Kompetenz ist für 70 Prozent der Befragten der Gradmesser für Wertschätzung. Fast 90 Prozent wünschen sich einen Generationenmix in den Teams, doch nur bei 35 Prozent ist er Realität. Die Generation 50 plus sieht ihre Stärken in Gelassenheit, Menschlichkeit, Erfahrung und Pflichtbewusstsein, die Jüngeren dagegen könnten eher mit Flexibilität, Karriereorientierung und Mobilität punkten. "Diese Eigenschaften ergänzen sich hervorragend", so Schmitz. "Doch leider werden sie in den meisten Unternehmen als unvereinbare Gegensätze wahrgenommen."

83 Prozent der älteren Mitarbeiter vermissen Fortbildungsprogramme, die ihren Bedürfnissen entsprechen - inhaltlich und methodisch. Seminare à la "Einführung in Führungsaufgaben" gehen überwiegend an ihnen vorbei. "Diese erfahrenen Leute kann man besser über Diskussionszirkel, über die eigene Reflexion, den systematischen fachlichen Austausch ans Lernen bringen."

Unflexible Arbeitgeber

Dabei sind Mitarbeiter über 50 alles andere als lernfaul. 94 Prozent von ihnen würden sich im letzten Drittel ihrer Karriere gerne verändern, etwa indem sie weniger Führungsverantwortung übernehmen, dafür mehr Projektarbeit machen. Indem sie sich auf die Forschung konzentrieren oder bei Bedarf ihr Arbeitsvolumen etwas drosseln, durch Teilzeitarbeit etwa.

86,5 Prozent finden nicht, dass ihr Arbeitsplatz auf die Bedürfnisse Älterer zugeschnitten ist, aber 70 Prozent wünschen sich das. In den meisten Firmen gibt es weder spezielle Angebote für Ältere, noch werden sie in letzter Zeit vermehrt eingestellt. Dabei würde es sich für die Unternehmen allemal lohnen, auf die Wünsche der älteren Kollegen einzugehen. "Zumal sich fast die Hälfte vorstellen kann, sogar im Ruhestand auf kleinerer Flamme weiterzuarbeiten", so Schmitz. Voraussetzung: "Um das Potenzial der älteren Mitstreiter optimal zu nutzen, brauchen wir einen Bewusstseinswandel in den Unternehmen."

Wertvoll im Umgang mit Kunden

Seit die Diskussionen um den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel durch die Republik schwappen, haben die Unternehmen zwar durchaus auf der Agenda, dass sie künftig nicht mehr nur mit 30- bis 40-Jährigen in den Firmenfluren rechnen können. Doch dass sie einiges tun müssen, um auch das wertvolle Können der Mitarbeiter der Generation 50 plus effektiv zu nutzen, ist noch nicht in den Köpfen verankert, kritisiert Maria Schwarz-Wölzl vom Zentrum für Soziale Innovation in Wien. "Das Umdenken hat noch nicht eingesetzt. Viele Unternehmen erkennen nicht, wie wertvoll ältere Mitarbeiter gerade im Umgang mit schwierigen Kunden sind oder in der IT-Beratung, im Service und wenn es darum geht, komplexe Probleme zu lösen."

Serviceportal zum Thema 50 plus

Die Beraterin aus Österreich hat soeben ein kostenloses Online-Serviceportal entwickelt, auf dem sich Personaler, die ihren Blick für die über 50-Jährigen schärfen wollen, weiterbilden können.

  • Schritt eins: Das Bewusstsein für die Kompetenzen dieser Gruppe und die demografischen Herausforderungen der Zukunft schärfen.

  • Schritt zwei: Argumentationshilfen für Recruiting und Personalentwicklung der Fiftysomethings.

  • Schritt drei: Wie müssen Ausschreibungen aussehen, die Ältere nicht ausgrenzen? Wie sollten Auswahlprozesse und Weiterbildungen beschaffen sein, um die Stärken Älterer ins Visier zu nehmen? Entscheidend bei der Arbeit mit älteren Mitarbeitern ist, "lebenslanges Lernen in den Vordergrund zu rücken", sagt Schwarz-Wölzl. "Und die Arbeitsfähigkeit dieser Mitarbeiter langfristig zu erhalten."

Jutta Rump, Leiterin des Instituts für Beschäftigung und Employability (IBE) an der Fachhochschule Ludwigshafen, weiß, wie wichtig die Sorge um den Erhalt der Arbeitsfähigkeit ist: "Arbeitsverdichtung, ständige Erreichbarkeit über Handy oder Blackberry, lange Arbeitszeiten und zunehmende Unsicherheit empfinden insbesondere ältere Arbeitnehmer auf Dauer als schwer akzeptabel." Es sei Zeit, dass sich Unternehmen mit diesem Thema beschäftigten. Die meisten Mitarbeiter in der IT-Wirtschaft seien nach wie vor unter 40. "Das Thema 50 plus spielt für sie noch keine Rolle", so Rump.

Neue Arbeitsmodelle müssen her

Anja Gerlmaier vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) in Gelsenkirchen kennt den Grund: "Die IT-Industrie galt lange Zeit als Eldorado für angenehme Arbeit." Eine scheinbar geringe physische Belastung, hohe Freiheitsgrade und Freiraum für Kreativität sorgten für das verheißungsvolle Image der "ewig jugendlichen Branche". Doch mit dem Platzen der IT-Blase nach 2000 hätten sich die Rahmenbedingungen im IT-Sektor grundlegend gewandelt: "Das neue Produktionsmodell der Branche ist ein System permanenter Bewährung, in dem die eigene Leistungsfähigkeit immer wieder neu bewiesen werden muss."

Zusammen mit Andreas Boes vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München und Ulrike Hellert vom Büro Moderne Arbeitszeiten, Dortmund, hat Gerlmaier vor zwei Jahren das Projekt "Demografischer Wandel und Prävention in der IT" (DIWA-IT) aufgesetzt, um zu sensibilisieren. Zielsetzung: Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit der Wissensarbeiter müssen über den gesamten Erwerbsverlauf hinweg gefördert und erhalten werden.

Auch Hans-Jürgen Bossow hält nichts davon, den Blick auf die IT-Experten über 50 zu verengen. Der Betriebsratsvorsitzende bei Beiersdorf Shared Services, Konzerndienstleister der Beiersdorf AG in Hamburg, warnt sogar davor: "Damit spaltet man die Belegschaft. Zumal die Jüngeren unter Stress genauso leiden wie die Älteren." Besser: Altersübergreifend über Stress sprechen. Und die Voraussetzungen schaffen, um auch in der IT bis 67 durchzuhalten.

400 Überstunden sind nicht gesund

Bossow weiß, wovon er spricht: 2001 begann bei Beiersdorf das bis dahin größte IT-Projekt seines Arbeitgebers, und es wurde, wie er erzählt, "ohne Grenzen gearbeitet. Alle Beteiligten hatten ihre persönlichen Belange dem Erfolg des Projekts untergeordnet." Die Folge: Arbeitszeitkonten mit bis zu 400 Überstunden und etliche Kreislaufzusammenbrüche. Mehrmals stand der Krankenwagen auf dem Firmengelände. "Wir haben damals die Notbremse gezogen. Alle Führungskräfte und 100 Mitarbeiter wurden geschult: Was ist Stress, wie entsteht er, wie kann ich ihm begegnen?" Ergebnis: Die Mitarbeiter arbeiten nur noch in Ausnahmefällen in mehr als einem Großprojekt.

Außerdem hat sich das Pausenverhalten verändert. "Mitarbeiter treffen sich zum Tee", so Bossow, "gehen nach der Mittagspause im Park spazieren oder machen Kurzpausen am Fußballkicker." Mit der New Economy habe das alles nichts mehr zu tun. "Damals hat man den Mitarbeitern einen Kicker hingestellt, weil Arbeit rund um die Uhr cool war. Heute lernen sie: Ich muss nachhaltig mit meinen Ressourcen umgehen. Stress ist nicht normal, und auch Arbeiten bis 22 Uhr oder am Wochenende sind es nicht."

Bitkom und IG Metall starten Projekt

Für Thomas Mosch, Mitglied der Bitkom-Geschäftsleitung, ist das ein guter Anfang. Doch er sieht neben den allgemeinen Programmen zur Gesunderhaltung durchaus noch Raum für spezifischere Angebote. Vor wenigen Wochen hat er zusammen mit der IG Metall das Projekt "IT 50plus" ins Leben gerufen. "Wir müssen gezielt die Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer verbessern, weil wir damit bessere und schnellere Ergebnisse erzielen." Denn ohne die Älteren wird es mittelfristig nicht gehen. Sein Kritikpunkt: Jeder kenne die Fakten zum demografischen Wandel, doch es fehle an innovativen Konzepten. "Die klassische Karriere kennt nur einen Weg - von unten nach oben -, selbst dann, wenn der Leistungsgipfel um die 35, 40 längst überschritten ist."

(hk)

Infotipps

Jürgen Hesse, Hans Christian Schrader: Zu jung für die Rente - zu alt für den Job? Warum ältere Arbeitnehmer wieder gute Chancen haben. Frankfurt 2008, Eichborn Verlag, 176 Seiten, 14,95 Euro.

Ein ermunterndes Buch für Ältere, wie sie sich erfolgreich nach neuen Jobperspektiven innerhalb und außerhalb ihres Unternehmens umschauen können.

Ursula Thieme: Bewerbung mit 40 plus: Optimale Bewerbungsstrategien ab 40. Zürich 2005, Orell Füsli Verlag, 19,80 Euro.

Ein nützlicher Ratgeber für die Planung des letzten Karrieredrittels.

www.mature-project.eu:

Europäische E-Learning-Plattform zum Thema "Altersdiversität im Personal-Recruiting". Die Plattform will Personaler darin unterstützen, sensibler gegenüber Älteren am Arbeitsmarkt zu agieren. Alle Informationsmaterialien können heruntergeladen und an die eigene Organisation angepasst werden. Die Ziele dieser Plattform wurden im Rahmen der EU-Studie "mature@eu, Supporting Employers In Recruiting And Selecting Mature Aged Persons" entwickelt, die sich mit der niedrigen Beschäftigungsquote älterer Menschen auf dem europäischen Arbeitsmarkt beschäftigt. Die Studie lief in sieben EU-Ländern und erforschte, unter welchen Umständen Ältere im IT-Sektor eingestellt werden, Strategien zur Überwindung von Altersdiskriminierung sowie Methoden zum Informations- und Wissenstransfer.

Das Lernprogramm des mature-projects reagiert auf einen internationalen Trend: Ältere Arbeitnehmer werden im Einstellungsprozess häufig übersehen oder diskriminiert. Besonders auffallend ist diese Entwicklung im IT-Sektor. Der Prozentsatz der in dieser Sparte beschäftigten 50- bis 65-Jährigen liegt lediglich bei knapp sechs Prozent; der Frauenanteil ist sogar zurückgegangen und beträgt nun europaweit unter 20 Prozent.