XOpen: Anwender wollen Zünglein an der Waage sein

Die Standardisierung ist zu wichtig, um sie den Herstellern zu überlassen

25.05.1990

Anspruch und Wirklichkeit der Herstellerverinigung X/Open klaffen derzeit weit auseinander. Kein Zweifel, ohne das Gremium hätten Offene Systeme nicht die Verbreitung gefunden, die sie heute haben. "Der Unix-Zug rollt, das Software-Problem ist Schnee von gestern", so war auf der Züricher Anwenderveranstaltung "Unix Transparent" immer wieder zu hören. Trotzdem, so zeigte eine angeregte Podiumsdiskussion, ist die öffentliche Kritik an der X/Open größer denn je: Die Organisation hat sich in den letzten Jahren zu einem Austragungsort firmenpolitischer Schaukämpfe entwickelt. Zwei Unix-Fraktionen und die grafische Benutzeroberfläche als Zankapfel sorgen derzeit für eine weitgehende Entscheidungsunfähigkeit. Das Vertrauen der Anwender in die X/Open sinkt.

An den hehren Zielen der Gruppe hat sich seit ihrer Gründung im Herbst 1984 nichts geändert: Ein freier offener Softwaremarkt für Unix-Systeme sollte geschaffen werden. Technische Mitarbeiter der wichtigsten europäischen Hersteller - darunter auch Siemens und Nixdorf - hatten sich zusammengeschlossen, um eine standardisierte Anwendungs- und Entwicklungsumgebung, die "Common Applications Environment" (CAE), zu schaffen.

Inzwischen aber ist die seit 1987 als Non-Profit-Gesellschaft eingetragene X/Open-Vereinigung harscher Kritik ausgesetzt. Der Hauptvorwurf. Die permanente Auseinandersetzung der beiden Herstellervereinigungen Unix International (UI) und Open Software Foundation (OSF), denen sämtliche führenden X/Open-Mitglieder angehören und die auch als Organisationen mit je einem Sitz im Board of Directors vertreten sind, machen die Entscheidungsfindung innerhalb des Gremiums fast unmöglich.

"Am Anfang waren wir eine kleine Gruppe", erläutert Klaus Gewald von der Münchner Siemens AG, ein Mitglied des Board of Directors bei der X/Open. "Entscheidungen wurden leichter gefällt - nicht zuletzt deshalb, weil für die Beteiligten nicht soviel auf dem Spiel stand. Vorschläge wurden schneller akzeptiert, weil die finanziellen Folgen noch gering waren", so das X/Open-Führungsmitglied über Zeiten, in denen Unix noch als Spielwiese für Technik-Freaks galt. Nachdem sich das Betriebssystem aber zu einem echten Wirtschaftsfaktor entwickelt hatte, waren die Mitglieder plötzlich gehalten, innerhalb des Spezifikationsgremiums die geschäftlichen Interessen ihres Unternehmens durchzusetzen.

Leidtragende dieser Entwicklung sind die Anwender: "Die Arbeit innerhalb der X/Open stagniert derzeit", klagt Werner Ruisinger vom Bereich Zentrale Informationsverarbeitung der Daimler Benz AG in Stuttgart. "Schuld daran sind in erster Linie die Streitigkeiten zwischen UI und OSF. Bestes Beispiel ist die endlose Diskussion um die Benutzeroberflächen, wo bis heute keine Einigung erzielt worden ist."

Ruisinger spielt darauf an, daß sich X/Open bisher weder zu einer Empfehlung der von den UI-Mitgliedern AT&T und Sun Microsystems angebotenen Oberfläche "Open Look", noch für OSF/Motif durchringen konnte. Der vor wenigen Monaten gegründete Anwenderbeirat Heer X/Open habe klar Stellung bezogen: "Es muß endlich eine Standardisierung her, damit wird vemünftige Software-Entwicklung möglich."

Der Daimler-Mitarbeiter, der trotz aller Kritik keinen Zweifel seiner X/Open-Wertschätzung läßt, hält es für sinnvoll, daß sich das Gremium einen zeitlichen Rahmen für seine Entscheidungsprozesse setzt. Im Falle einer Überschreitung dieser Deadline sollte seiner Ansicht nach der Anwenderbeirat als "Zünglein an der Waage" entscheiden.

Bisher ist der User-Einfluß auf die Beschlußfassung innerhalb der X/Open nur gering. Zum sogenannten Board of Directors, dem zwanzigköpfigen Hersteller-Führungsgremium, gesellt sich lediglich ein einziger Anwenderrepräsentant. Einerseits begrüßen die Anwender natürlich, daß sie erstmals Berücksichtigung innerhalb des Gremiums finden, andererseits machen sie sich aber keine großen Illusionen hinsichtlich ihres Einflusses auf künftige X/Open-Empfehlungen.

Alex Schumacher, DV-Koordinator des zum großen Teil mit Unix-Systemen ausgestatteten nordrhein-westfälischen Ministeriums für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft, hält den viel zitierten Anwendereinfluß für derzeit noch nicht realisiert. Zwar sei er noch immer von dem Betriebssystem und der X/Open-Idee begeistert, aber die Entscheidungsschwierigkeiten des Gremiums hätten in den letzen Jahren doch für eine weitgehende Ernüchterung gesorgt.

Nicht nur die ausstehende Empfehlung einer Benutzeroberfläche, auch die zurückhaltenden Aktivitäten im Netzwerkbereich kritisiert der UnixExperte. "Wenn man in der reinen Unix-Welt bleibt, läuft alles bestens, doch wenn vorhandene MS-DOS-Anwendungen eingebunden werden sollen, dann sieht das alles nicht mehr ganz so rosig aus. Da nutzt es wenig, wenn man im Portability Guide 3 (XPG3) den guten, Kermit' findet - das ist nicht mehr der Stand der Technik."

Entscheidungen werden von der X/Open nur dann getroffen, wenn im Board of Directors eine 75prozentige Mehrheit vorliegt. In Anbetracht dessen, daß UI mit elf Mitgliedern, die OSF aber lediglich mit neun Mitgliedern im Board vertreten ist, wird deutlich, warum sich das Spezifikationsgremium nicht von der 75-Prozent-Klausel trennen kann. Bei einer Drei-Viertel-Mehrheit setzt bisher jede X/Open-Entscheidung einen Konsens zwischen UI- und OSF-Mitgliedern voraus - und das soll auch so bleiben.

Mit der Fusion von Hewlett-Packard und Apollo war der OSF bereits ein Sitz im Board abhanden gekommen, mit dem Siemens-Nixdorf-Experiment steht ein weiterer Aderlaß ins Haus. X/Open-Richtlinien müßten zwangsläufig ihre Gültigkeit verlieren, wenn es zu einer allzu deutlichen Mehrheit einer Gruppierung käme. Zumindest erwartet kaum ein Anwender, daß sich IBM, verantwortlich für einen Großteil bestehender De-facto-Standards, regelmäßig von der Konkurrenz überstimmen lassen würde.

Allzu eng lassen sich die Zügel innerhalb einer so heterogenen Organisation wie der X/Open also schon bei den derzeitigen Abstimmungsverhältnissen nicht führen. Hinzu kommt, daß bereits heute viele Unternehmen Schwierigkeiten, zum Teil aber auch nur geringes Interesse haben, den Empfehlungen des Spezifizierungsgremiums nachzukommen.

"Aus Sicht der Hersteller sind X/Open-Bestimmungen als Daumenschraube zu verstehen", erläutert Helmut Schäfer von der Hewlett-Packard (HP) GmbH in Böblingen. "Binnen zwei Jahren müssen Mitglieder die Basisfunktionen, die im Portability Guide festgeschrieben werden, realisieren." Eine Verpflichtung, der sich Anwenderverfahrungen zufolge nicht immer alle Hersteller beugen.

Betriebssystem-Experte Gewald von der Münchner Siemens AG hält eine Änderung der Abstimmungsmodalitäten für problematisch, ohne allerdings die zu erwartenden Schwierigkeiten in einen direkten Zusammenhang mit der OSF-UI-Auseinandersetzung zu bringen. "Wenn wir eine einfache Mehrheit einfuhren würden, dann fiele der hohe Konsens weg, auf den unsere Gruppe so sehr angewiesen ist. Ich möchte nicht wissen, welches Lobbying im Vorfeld der Entscheidungen stattfinden würde", erläutert der Betriebssystem-Spezialist -just als ob derzeit noch Keine Kungeleien im Entscheidungsvorfeld stattfänden.

Aus seiner Sicht werden die Organisationen UI und OSF in ihrer Bedeutung "überstrapaziert". Sein Unternehmen, die Siemens AG, scheint diese Einstellung zu teilen, verstärken sich doch die Gerüchte, daß die Münchner in der neuen Siemens-Nixdorf-Gesellschaft einen Schwenk in Richtung auf die UI-Unix-Empfehlung System V.4 planen. Obwohl Siemens ein Mitglied der OSF ist, will sich das Unternehmen offensichtlich an den derzeitigen Marktgegebenheiten, dem lieferbaren System V.4, orientieren und nicht auf die Unix-Implementierung OSF/1 warten.

Eine Stellungnahme des OSF-Arbeitsgruppenmitglieds Gerald Krummeck von der Bull SA in Echirolles verdeutlicht die Auswirkungen des OSF-UI-Konfliktes. Eine einheitliche Oberflächen-Empfehlung wird nach Einschätzung des Experten derzeit nur noch von Sun Microsystems blockiert. AT&T habe die Bereitschaft signalisiert, OSF/Motif als Oberflächenstandard anzuerkennen. Da der Telefonriese dem UI-Partner Sun nicht in den Rücken fallen wolle, wer. de die Diskussion derzeit noch ausgemessen.

De-facto hat sich nach Einschätzung der meisten Branchenkenner zumindest auf europäischer Ebene die Benutzeroberfläche OSF/Motif bereits durchgesetzt. In den USA aber, wo Sun Microsystems auf' dem Workstation-Markt eine dominierende Rolle spielt, liegt Open Look mindestens ebenso gut im Rennen wie Motif.,

Der vierte Portability, Guide dürfte noch auf sich warten las. sen. Neuralgische Punkte des XPG 4 sind unter anderem die Standardempfehlungen zu Benutzeroberflächen und Netzwerken: Das Gremium scheint zu befürchten, daß bei einer Entscheidung zum Beispiel für Open Look sämtliche OSF-Mitglieder die Gefolgschaft aufkündigen. Dieses Dilemma verstärkt sich noch, wenn ab Ende des Jahres OSF/1 mit Unix V.4 konkurriert. Fachleute sind sich jedoch darin einig, daß hier keine verschiedenen, sondern lediglich zwei Implementierungen desselben Standards auf den Markt kommen.

Bezüglich der Oberflächen befindet sich die X/Open schon jetzt in einer Patt-Situation. Entweder man gibt Empfehlungen zu beiden Schnittstellen heraus und brüskiert damit einen Großteil der Software-Anbieter oder man wartet, bis sich eine Oberfläche als Industriestandard etabliert. Mit dieser Maßnahme allerdings dürfte sich das Gremium selbst zur Bedeutungslosigkeit verurteilen.

"Die X/Open wird immer stärker dazu gezwungene darauf zu achten, wie sich der Markt eilt. wickelte Andererseits hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, hochmoderne Technologien zu fördern und zu unterstützen." HP. Mitarbeiter Schäfer kann diesen Zustand "nicht ideal" finden.

Seiner Ansicht nach sollte das Gremium eine Art "Kriegsgerichtsfunktion" einnehmen. Die X/Open müsse sich als eine Klammer um so verschiedene Gruppierungen wie IEEE, OSF und UI begreifen und vor allem flexibler entscheiden. Als Beispiel nennt er die PC-Unix-Integration. In XPG4 werde wahrscheinlich sowohl ein UI-konformes Produkt als auch ein OSF-Produkt unterstützt.

Trotz guter Vorsätze - auch innovative Hersteller werden an der derzeitigen verfahrenen X/Open-Politik kaum etwas ändern. Hans Strack-Zimmeemann, Geschäftsführer der Ixos Software GmbH in München, hat die Entwicklung der Organisation von Anfang an verfolgt und mitgeprägt. Der ehemalige Unix-Entwicklungschef von Siemens macht ebenfalls die wirtschaftlichen Interessen einzelner Unternehmen für die zunehmende Stagnation verantwortlich. Zu Beginn sei die X/Open eine rein europäische Organisation von Technical Managers gewesen. Die Mitglieder hätten weisungsungebunden und frei arbeiten können.

"Vor ein paar Jahren ist die X/Open in die Hände einer englischen Marketing-Gesellschaft gefallen. Heute ist die Vereinigung eine Marketing-Institution für Standards. Die Techniker sind, weisungsgebunden." Der technische Fortschritt hat, so Strack-Zimmermann, unter dieser Entwicklung immens gelitten. Gravierende Maßnahmen zur Restauration der X/Open seien überfällig: "Um die Entscheidungsfähigkeit zu erhöhen, braucht man ein sogenanntes, Konsens-Management'."