Die Realität am Bildschirm begreifen lernen

25.04.1986

Auf allen Ausbildungsstufen eröffnete die technische Revolution bisher die Möglichkeiten für bedeutende Fortschritte - vom Abc-Schützen bis hin zum Doktoranden. Allerdings sind Verantwortliche in den Bildungsdomänen immer noch weit entfernt davon, den optionalen Beitrag kostengünstiger Mikrocomputer in der Ausbildung - im weiten Sinn und auch für alle hierarchischen Ebenen im Betrieb - in vollem Umfang zu nutzen. Die Entwicklung des Hardware-Equipments hat den Fortschritt im Software-Engineering sowie bei didaktischen Techniken, mit denen allein Computer und Programme in effektive Lehreinheiten für Schule, Universität oder Unternehmen zusammengebunden werden können, weit hinter sich gelassen.

Diese Lücke frustriert besonders jene Bildungsverantwortlichen, denen klar ist, daß die Elektronik und mit ihr die Modelldarstellung Schüler, Studenten wie auch Mitarbeiter - und warum nicht gleichfalls den Manager? - dabei unterstützen können, ein weit umfassenderes Verständnis von Systemen der Umwelt zu erwerben. Simulationsexperimente mit dem Rechner lassen den Lernenden beispielsweise ausgedehnte Zeitabschnitte in Übungen von wenigen Minuten komprimieren. Gewicht erhält gerade auch die Tatsache, daß die wesentlichen Komponenten eines Systems herausgestellt werden können. Zudem lassen sich diese Bausteine isolieren, so daß der Lernende sein Wissen um komplexe Systeme allmählich und systematisch zusammenfügen kann - sozusagen im Baukastensystem.

Die Allgegenwart des Computers fordert auch und gerade die Unternehmensführung zu einer Stellungnahme über die ebenso allgegenwärtige Frage der Wirtschaftlichkeit heraus. Bei vielen Unternehmen wird der konsequente Einsatz von Information als Produktionsfaktor verhindert, da sich ja alles "rechnen muß". Bei neuen Produkten jedoch ist die Führungsebene im allgemeinen bereit, ohne Zögern Risiken zu übernehmen. Das Argument lautet dann: Eingeführte Produkte übernehmen ja die Funktion von "cash flow".

Warum übertragen eben diese Manager nicht ihr Verhalten auch auf die Informatik? Es sollte sich lohnen, hier einige "questionsmarks" zu akzeptieren, und mit ihnen leben zu wollen.

Um den Bogen nun wieder zu schließen: Simulationsmodelle von variierenden Konzeptionen über beispielsweise Informationsmanagement im Unternehmen können dabei doch eine ebenso kostengünstige wie operationalisierbare Alternative bei strategischer Unternehmensplanung darstellen.

Doch dazu sind zunächst die Hindernisse zu erkennen, die in der Denkstruktur des Menschen selbst liegen. Unter relativ statischen Verhältnissen, bei denen kleine Veränderungen entsprechend kleine Wirkungen zeitigen, reicht das "lineare" menschliche Wissen aus, um den gestellten Anforderungen vernünftig zu begegnen. Unser Denkapparat kann in relativ einfachen Fällen die Dynamik eines Systems durchaus nachvollziehen und dessen Verläufe regeln. Anders sieht es allerdings bei steigender Geschwindigkeit von Veränderungen aus. Weil die menschliche Entwicklungsgeschichte bisher im ganzen kaum solche Anforderungen stellte, wurde auch kaum die Fähigkeit entwickelt, auf rasche, dynamische Veränderungen vernünftig zu reagieren.

Eine Umwelt im Wandel produziert jedoch zunehmend dynamische Sozial-, Öko- und vor allem Technik-Systeme. Sachwissen, logisches und normatives Wissen reichen in weiten Bereichen schon jetzt nicht mehr aus, um ein "vernünftiges" Handeln zu leiten. Mit zunehmender Dynamik zeigt sich nämlich ein Mangel im verfügbaren Instrumentarium der gedanklichen Produktion: Es fehlt weitgehend eine vierte Dimension des Wissens - kybernetisches Wissen. Und die Fähigkeit, dieses richtig zu operationalisieren. Kybernetisches Wissen indes kann nur sui generis, also kybernetisch, erzeugt werden.

Über eines sollten sich Verantwortliche klar sein: Kybernetisches Wissen ist nicht über Vorlesungen und durch Lehrbücher zu vermitteln. Denn es läßt sich mit den gegebenen Beschränkungen unseres Denkapparates nicht vollständig und allein rational erwerben. Hinzu kommt als wichtige Komponente das intuitive Vertrauen in den Prozeß.

Es bleibt aber die gleichermaßen herausfordernde wie auch lohnende Möglichkeit zum Verständnis unterschiedlichster Systeme deren Struktur und Dynamik durch Softwareprogramme nachzuzeichnen. Die vielfältigsten Variationen des vorgegebenen Systemmusters lassen nach ihrer Erprobung schließlich das Gefühl für ein Verhalten unter differenziertesten Bedingungen entstehen - eben jenes kybernetische Wissen.

Dies kann nur in einem Systemmodell, einem Analog, geschehen. Modelle dynamischer Systeme aber lassen sich besonders günstig durch Rechnerprogramme darstellen. Beispielsweise für Mikrocomputer stellt es keine Schwierigkeit dar, das Verhalten eines realen Systems durchzurechnen.

Rapide sinkende "Halbwertzeiten" bei dem technischen Fortschritt gerade in Sektoren der neuen Technologien, verbunden mit sinkender Verläßlichkeit der Wissensbasis jedes einzelnen, lassen die Tendenz nicht abwegig erscheinen, die Gesetzmäßigkeiten der Realität - in Lehre und Forschung, in verschiedenen Marktsegmenten und auch in Soziogebilden wie dem Unternehmen selbst - aus den Augen zu verlieren. Es kommt also auf die menschliche Fähigkeit an, vernetzte komplexe Zusammenhänge zu begreifen - am besten durch unmittelbare Erfahrung. Und wird diese Erfahrung auch - nein, gerade mit und durch den Rechner gemacht! Denn von gezielten, ganzheitlich orientierten Zugriffen in das zunehmend komplexere Gefüge der dynamischen Systeme unserer öffentlichen wie privaten, der wirtschaftlichen wie auch kulturellen Umwelt und Ressourcenbasis hängen nicht zuletzt ökonomischer Fortbestand wie auch bleibende Lebensqualität ab.