Die Lernfähigkeit entscheidet über den Unternehmenserfolg

30.03.1990

Jürgen Gerhardus, Geschäftsführer der VA-Akademie für Führen und Verkaufen, Sulzbach

Die rasanten politischen Umwälzungen in Osteuropa, aber auch die anstehenden wirtschaftlichen Veränderungen durch die Eröffnung des Binnenmarktes stellen bundesdeutsche Unternehmen vor nicht unerhebliche Probleme. Langfristige Konzepte greifen nämlich nicht mehr. Flexibilität und damit Lernfähigkeit ist gefragt, um im sich ständig verändernden Wettbewerb mithalten zu können. Dabei ist vielen Managern nicht klar, wie lang die Lernzeiten von Unternehmen sind. Kommt ein Mitarbeiter zum Beispiel bei der Einübung einer neuen Technik mit wenigen Tagen Zeitaufwand aus, benötigt eine Abteilung dazu Monate, ein ganzes Unternehmen sogar noch länger. Nicht vorgreifende Planung für alle Eventualitäten, sondern die Verbesserung der Lernfähigkeit ist in Zukunft gefragt.

Blieben Produkte, Produktionsverfahren und soziale Strukturen früher über Generationen hinweg festgeschrieben, verändern sie sich heute nicht selten innerhalb einer Dekade. Im technischen wie im sozialen Bereich veraltet Wissen schneller. Folglich muß ständig Neues hinzugelernt werden. Fertige Konzepte und halbfertige Denkansätze können von einem Tag zum anderen Makulatur werden. Irritierte Frage eines verunsicherten Unternehmers angesichts der sich öffnenden DDR-Grenzen: "Wie verkauft man eigenlich in der DDR?"

Das Beispiel zeigt, daß es nicht mehr reicht, den Bedarf an Wissen im Vorfeld exakt zu ermitteln und zu trainieren. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich das politische, soziale und wirtschaftliche Umfeld bei uns verändert, bleiben solche Versuche ein Glücksspiel mit ungewissem Ausgang. Gefordert ist vielmehr die grundsätzliche Lernfähigkeit und Lernbereitschaft von Unternehmen.

Wenn es stimmt, daß Lernfähigkeit von ständigem Lernen abhängig ist, dann müssen Führungskräfte zunächst ermitteln, wie es um das Lernen im Unternehmensalltag bestellt ist. Gefragt ist eine Bestandsaufnahme, die klärt, ob die Mitarbeiter genügend geistige Flexibilität und handwerkliche Fähigkeit besitzen, um konsequent zu lernen. Durch die Beantwortung der folgenden Fragen können Sie sich als Führungskraft einen ersten Aufschluß darüber verschaffen:

- Welcher meiner Mitarbeiter wendet andere Verfahren, Methoden oder Techniken an als im vergangenen Jahr?

- Welche neuartigen Produkte oder Dienstleistungen bieten wir in diesemjahr an?

- Welche neuen Abläufe gibt es in diesem Jahr in meiner Abteilung, meinem Unternehmen?

- Welche neuen Formen er Zusammenarbeit haben wir entwickelt?

- Welche neuen Formen der Kundenbetreuung haben wir umgesetzt?

- Habe ich als Führungskraft Neuerungen forciert oder gebremst?

Kaum ein Unternehmer wird diese sechs Fragen alle positiv beantworten können. Defizite bei der Lernfähigkeit verweisen auf Schwachstellen, die den zukünftigen Unternehmenserfolg gefährden können. Darum ist es wichtig, ein positives Lernklima im Unternehmen zu schaffen. Mitarbeiter müssen motiviert und in ihren Lernbemühungen bestätigt werden.

Führen heißt in Zukunft vor allem, Arbeitsprojekte als Lernprojekte zu planen und zu verwirklichen. Wer seine Führungsaufgabe so definiert, dem wird es nicht schwerfallen, ein produktives Lernklima im Unternehmen zu schaffen. Lernen darf nicht als Zeitvergeudung verteufelt werden, sondern muß als vom Unternehmen gewünschte Investition dargestellt werden.

Wie produktiv das Lernklima in Ihrem Unternehmen tatsächlich ist, dafür gibt es eine Reihe von Indikatoren:

- Haben Mitarbeiter Zeiträume zum Nachdenken und Lernen?

- Wird aus falschem Perfektionismus jedes Risiko gescheut?

- Werden intelligente Fehler, das heißt Fehler, die beim Ausprobieren von Neuem entstehen, zugelassen?

- Werden Lernprozesse im Unternehmen belohnt?

- Werden Arbeitsaufgaben an Lernaufgaben gekoppelt?

- Wird das Erreichen von Lernzielen so selbstverständlich gemessen wie das Erreichen von Umsatzzielen oder Deckungsbeträgen?

- Und wird das auf allen Hierarchie-Ebenen vorgelebt?

Ist das Lernklima positiv, muß die Führungskraft lernfelder definieren und zwar aus unternehmerischer Sicht. Wie über Maschinen-Investitionen muß bei einer Zukunftsprojektion auch über Zeitinvestitionen und Lernfelder entschieden werden.

Wer dies vernachlässigt, verursacht die Fortschreibung alter Lerninhalte. Ein motiviertes Team in einem positiven Lernklima produziert dann lediglich Leerlauf.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Lernfelder münden nicht in fertige Konzepte und Strategiepapiere. Sie sind Übungsfelder für lernbereite Mitarbeiter. Hier werden zukünftige Defizite ermittelt, um daraus eventuell einen konkreten Lernbedarf abzuleiten.

Drei Ansatzpunkte bieten sich in der aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Situation, um solche Lernfelder auszumachen:

Erstens: Das neue Selbstverständnis mündiger Zeitgenossen wirkt sich nicht nur im Privaten aus. Im Unternehmen hinterläßt es seine Spuren im Klima und in der Motivation.

Wer individuelle Entwicklungsprozesse nicht berücksichtigt, wer die neuen Werthaltungen vernachlässigt und Menschenwürde, Gerechtigkeit sowie das Verlangen nach persönlicher Entwicklung außer acht läßt, gefährdet die Leistungsbereitschaft. Daraus ergeben sich neue Aufgaben für die Zukunft.

Zweitens: Politische und soziale Veränderungen wirken auf Menschen. Das Verständnis dieser Veränderungen ist mehr als ein akademischer Bildungsanspruch, es ist Basis für das Verständnis der Märkte, in denen ein Unternehmen aktiv sein will.

Und drittens muß das Unternehmen unter Berücksichtigung dieser beiden gravierenden Veränderungen ein eigenes Leitbild entwickeln. Dazu gehört es, Projektionen für die Zukunft zu entwickeln, die erforderlichen Kompetenzen zu definieren und zu trainieren.

Praktischer Tip: Das Abstecken relevanter Lernfelder funktioniert am besten im Rahmen einer Arbeitsgruppe, deren Aufgabe es ist, der Geschäftsleitung Vorschläge zu unterbreiten. Dieses Vorgehen sichert eine erste Akzeptanz bei den betroffenen Mitarbeitern. Entscheidungen kommen nicht vom Grünen Tisch, sondern aus den eigenen Reihen.

Beim Lernprozeß darf die Führungskraft aber nur Mentor und Koordinator sein. Auch hier gilt: "Wer erfolgreich führen will, darf nicht schieben, er muß ziehen. "