Heutiger Stand läßt weitere Evolution als gefährlich erscheinen (Teil 1)

Die Informatik-Gemeinde steht vor einem Systembruch

03.11.1989

Die Geschichte der Informationstechnik ist ein typisches Beispiel einer Entwicklung "Ó la Extrapolation": kontinuierlich ein bißchen mehr vom Gleichen... Der heutige Stand der Informationstechnik läßt eine weitere Extrapolation ihrer Evolution als äußerst gefährlich erscheinen.

Die Informatik-"Gemeinde" steht vor einem System-Bruch, sie muß sich mindestens darauf vorbereiten und einstellen. Symptome und Hintergründe für einen solchen Systembruch sind unter anderem:

- der Stellenwert der Informatik für die Wettbewerbsfähigkeit kleinster und größter Unternehmungen in allen Branchen und Wirtschaftssektoren;

- die durch die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen (zum Beispiel EG 1992) einerseits begünstigten und andererseits durch die Informatik behinderten wirtschaftlichen Konzentrationsprozesse sowie

- die zur Zeit stattfindenden Flurbereinigungen in der Herstellerszene, auf dem Gebiet der "proprietären" wie der "offenen" Systeme.

Ich möchte diese Problematik und die sich daraus ergebenden Perspektiven anhand eines Szenarios der Evolution der Informationstechnik (IT) in den 90er Jahren darstellen. Das Szenario und daraus abgeleitete Thesen zur Zukunft "proprietärer" und "offener" Systeme in den 90er Jahren haben das Ziel, die betroffene Informatik-"Gemeinde" zu provozieren und dadurch zu sensibilisieren.

Grundlage meiner Ausführungen ist die folgende Definition oder Umschreibung von "offenen Systemen":

"Offene Systeme" sind technische Systeme, die aus Informatik-Teilsystemen oder Komponenten bestehen, die auf unterschiedlichen, heterogenen Herstellerarchitekturen, aufbauen und trotzdem geordnet miteinander kooperieren können;

Grundlage solcher "offener Systeme" sind Definitionen und Implementationen von Standardschnittstellen, über die alle Teile oder Komponenten von größeren Systemen miteinander verkehren. Idealerweise sind solche Standards öffentlich und für jedermann zugänglich; sie sind nur über einen Entscheidungsprozeß erweiterbar, in den alle interessierten Parteien einbezogen sind. Ausnahmsweise können diese Standards einer bestimmten Interessenpartei, einem einzelnen Hersteller oder einer Herstellergruppierung gehören, das heißt, sie sind "proprietär". Solche Ausnahmen sind aus der Sicht der Benutzer nicht wünschenswert, aber dann tragbar, wenn ihre weite Verbreitung und eine starke moralische Verpflichtung des Besitzers zum Schutz der Kunden Investitionen sie zu "de facto" Standards werden lassen.

Ich behandle das Thema "Bedeutung offener Systeme für die Informationswirtschaft" zunächst im Rahmen eines "Szenarios der Evolution der Informationstechnik in den 90er Jahren und anhand von "Thesen zur Zukunft 'proprietärer' und 'offener Systeme'. Das Szenario hält plakativ einige Annahmen zu den aus meiner Sicht wesentlichen Trends fest, die die Entwicklung der Informatik-Nutzung in den kommenden fünf bis zehn Jahren bestimmen. Der Akzent liegt auf der Informatik-Nutzung, nicht auf der Technologie; und natürlich auf der Relevanz offener Systeme für die Nutzung des in der Informationstechnik (IT) immer noch gewaltigen schlummernden Potentials zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit.

Die Szenario-Annahmen erheben nicht den Anspruch, besonders originell oder originär zu sein; die ganze Informatik-Gemeinde redet in der einen oder anderen Form darüber, manchmal allerdings vielleicht, ohne ein tiefes Verständnis für die Implikationen zu haben. Zur Informatik-Gemeinde zähle ich Informatik-Hersteller, deren Kunden, Informatik-Berater und die Informatik-Ausbilder. Bei den "Kunden" unterscheide ich zwischen den Primärkunden, nämlich den Informatik-Organisationen bei Kundenfirmen, und den Sekundärkunden, den eigentlichen Benutzern, den sogenannten "end users".

Die Thesen sind bewußt provokativ formuliert; ich bin mir bewußt, daß ich in einigen Bereichen die Dinge vereinfache. Anschließend an Szenario und Thesen will ich mit Alpträumen und Wunschträumen eines IT-Verantwortlichen die graue Theorie mit etwas Fleisch und Blut veranschaulichen. Und abschließend werde ich eine Vision einer neuen Gesamtsystem-Architektur präsentieren, die offenen Systemen eine neue Rolle und Bedeutung für die gesamte Informationswirtschaft zuweisen wird.

Die folgenden Szenario-Annahmen und die dazugehörenden Thesen reflektieren meine persönliche Sicht, das heißt die Sicht eines Praktikers; sie sind nicht das Resultat systematischer wissenschaftlicher Forschung oder Versuche, und auch nicht das Resultat objektiver marktbezogener Untersuchungen. Sie sind vielmehr

- das Ergebnis praktischer Erfahrungen, die ich in den vergangenen dreißig Jahren im Umgang mit komplexen heterogenen Informationssystemen sammeln konnte;

- sie spiegeln Gedanken, Gefühle und Vorstellungen eines Informatikveteranen wider, Gefühle, die aus dem Bauch stammen; und

- sie sind das Ergebnis und Kondensat unzähliger Diskussionen zwischen Informatik-Praktikern, die ich im engeren persönlichen beruflichen Umfeld sowie im Rahmen eines mehrjährigen leitenden Engagements in einer europäischen Vereinigung von Computerbenutzern führen durfte.

Hersteller kaufen ihre eigenen Produkte

1. Die IT ist bereits heute, mit stark zunehmender Tendenz, ein strategisch wichtiges Vehikel zur Innovation von Produkten und Dienstleistungen sowie zur Differenzierung von Wettbewerbspositionen und Distributionsprozessen.

2. Eine innovative und aggressive Nutzung der IT wird zunehmend zum wichtigsten einzelnen Unterscheidungsmerkmal zwischen erfolgreichen und mittelmäßigen Unternehmungen.

3. Die herkömmlichen Abgrenzungen und Unterscheidungen zwischen Herstellern und Primär- beziehungsweise Sekundärkunden verwischen zunehmend und werden bedeutungslos:

- die Herstellerfirmen sind selbst, meist sehr bedeutende, Primär- und Sekundärkunden ihrer eigenen und anderer Informatik-Produkte;

- Primärkunden sind selber auch Sekundärkunden (in ihrer Eigenschaft als Planer, Entwickler und Betreiber von Informationssystemen); zusätzlich betreiben sie häufig auch herstellerartige Aktivitäten;

- die sogenannten "Enduser", das heißt die Sekundärkunden, sind selber zunehmend auch Primärkunden (in sogenannten "End user computing" Umgebungen) und selber wiederum Hersteller (sie erfinden, entwickeln, stellen her und bieten an: Produkte oder Dienstleistungen mit "eingebauten" Informatik-Komponenten oder mit Funktionen, die auf Informatik-Bausteinen basieren).

4. Die strategische Rolle der IT erlaubt es nicht mehr, die gesamte IT-Infrastruktur eines Unternehmens auf die Produkte und Dienstleistungen eines einzelnen Herstellers auszurichten; dies beruht sowohl auf Gründen der Risikominimierung als auch der Wettbewerbsfähigkeit.

5. Es war stets und ist immer noch unerhört schwierig und teuer, heterogene komplexe Systeme aus proprietären Herstellerkomponenten zu bauen und zu betreiben. Nur äußerst finanzkräftige Firmen können sich das leisten. In dem Maße, wie nun die innovative Nutzung der IT zunehmend mehr die Beherrschung komplexer heterogener Systeme verlangt und für die Wettbewerbsfähigkeit ganzer Unternehmen mitentscheidend wird, besteht die Gefahr der Entstehung eines IT-Proletariats, daß sich diese Technologie gar nicht mehr leisten kann. Die Folge davon wäre eine Beschleunigung wirtschaftlicher Konzentrationsprozesse globalen Ausmaßes.

Umgekehrt wird die historisch bedingte, stark auf proprietäre Systeme ausgerichtete Informatik-Infrastruktur vieler Unternehmen, zu einer gravierenden Behinderung sinnvoller wirtschaftlicher Zusammenschlüsse. Die Unverträglichkeit der eingesetzten Systeme behindert und verteuert den Zusammenschluß und verlangsamt den wirtschaftlichen und organisatorischen Integrationsprozeß; der Nutzen einschlägiger unternehmerischer Entscheidungen wird maßgeblich verringert.

6. Neben dem herkömmlichen Informatik-Einsatz, der primär die Automations-, Effizienz- oder produktivitätsorientierten Informationssysteme hervorbrachte (operationelle Datenverarbeitung, ODV), floriert neu das sogenannte Information Center (IC), verbunden mit Stichworten wie End user oder Personal computing, Decision Support, Office support (individuelle Informationsverarbeitung, IIV); diese beiden "Kulturen", das heißt die ODV und die IIV, sind komplementär; die Beherrschung beider Kulturen nebeneinander stellt neuartige Herausforderungen auf dem Gebiet der Systemintegration.

7. IT-basierende Wettbewerbsvorteile können nicht mit stangenfertigen Lösungen erzielt werden. IT-verstärkte Wettbewerbsfähigkeit kann per Definitionen nur mit den State-of-the-Art anführenden IT-Komponenten und mit Unternehmensspezifischem "Mehrwert" gewonnen werden; auch dies stellt die System-Integrations-Fähigkeiten eines IT-Anwenders vor zusätzliche und neuartige Herausforderungen.

8. Die Entwicklung der IT und deren Einsatz führt zu Unternehmens-internen komplexen und proprietären Systemen, gekoppelt mit offenen Systemen; diese Entwicklung führt aber auch beschleunigt zu immer wichtiger werdenden unternehmensüberschreitenden kooperativen Lösungen, die ganze Branchen umfassen. Beispiele für solche kooperativen Lösungen sind etwa das weltumspannende SITA-Netzwerk der Luftfahrtgesellschaften oder das der Finanzindustrie weltweit dienende S.W.I.F.T.-Netzwerk. Im Entstehen begriffen sind an prominentester Stelle die beiden Gemeinschaftsprojekte Galileo und Amadeus der zwei Konsortien europäischer Fluggesellschaften. Es kommen hinzu die Realisierung von EDI - electronica data interchange - und darauf abgestützte horizontale und vertikale Verbundsysteme, welche Produzenten, Lieferanten und Kunden miteinander verbinden und die Realisierung von Konzepten wie "just in time Manufacturing" (JIT) ermöglichen und die Wettbewerbsverhältnisse grundlegend verändern werden.

9. Diese neuen und zusätzlichen Verbünde zwischen Unternehmen und ganzen Branchen ermöglichen grundsätzlich fremde Einflüsse auf die unternehmenseigenen Systeme. Die Anfälligkeit und Verletzlichkeit bisher selbständiger Systeme durch exogene Einflüsse erzeugen eine völlig neue Dimension von Intersystem-Abhängigkeiten; die Beherrschung dieser neuartigen Abhängigkeiten verlangt wesentlich robustere Systemdesign- und Systembetriebs-Prinzipien.

10. Die innovative und aggressive Nutzung der IT steht und fällt mit den System-Integrations-Fähigkeiten eines Unternehmens.

*Bernhard R. Bachmann ist stellvertretender Direktor und Leiter der Abteilung Neue

Technologien bei der Schweizerischen Bankgesellschaft (SBG).