Die Gewerkschaften erhalten unerwarteten Zulauf DV-Spezialisten organisieren sich gegen Arbeitsplatzabbau Von Klaus-Dieter Bornemann*

04.02.1994

Um in Krisenzeiten zu ueberleben, lautet die Parole der DV- Unternehmen allenthalben: "Schlanker, schneller, besser, billiger". Ein favorisierter Ansatz dazu ist Personalabbau. Die Sorge um ihre Arbeitsplaetze und ihren sozialen Besitzstand hat in juengster Zeit DV-Spezialisten zu organisiertem Handeln bewegt. Die Gewerkschaften verzeichnen Zulauf.

Fast alle DV-Firmen setzen zum Ueberleben der aktuellen Wirtschaftskrise mehrere Mittel gleichzeitg ein. Hier seien nur jene erwaehnt, die die Beschaeftigten unmittelbar betreffen. Die beliebteste Form, Kosten einzusparen, ist der Personalabbau. Zunaechst erhalten sanfte Methoden wie Nichtersatz der Abgaenge durch natuerliche Fluktuation und vorzeitige Pensionierungen den Vorzug.

Dann greift man zu "freiwilligen" Aufhebungsvertraegen: Wer bereit ist zu gehen, bekommt eine Abfindung. Manchmal wird hier allerdings ein bisschen nachgeholfen - nach dem Motto: "Wir wuerden Sie gerne freiwillig gehen sehen."

Inzwischen aber reichen diese Mittel nicht mehr aus, und nun beginnen Firmen wie Siemens-Nixdorf selbst in Entwicklungsbereichen mit betriebsbedingten Entlassungen. In den Produk-tionsabteilungen waren die Unternehmen da schon immer weniger zimperlich: Da waren selbst Werksstillegungen wie bei SNI in Berlin oder Koeln kein Tabu.

Eine elegante Form, Menschen loszuwerden, hat Rank Xerox praktiziert: Die Firma machte Beschaeftigten die "Selbstaendigkeit" schmackhaft und gab die Zusage, dass sie fuer zwei Jahre als Externe fuer die Firma arbeiten koennten. Der groesste Teil dieser ehemaligen Mitarbeiter hatte nach den zwei Jahren enorme Probleme, und eine Rueckkehr zu Rank Xerox gab es nicht.

Alte Zulagen werden als "Luxus" gestrichen

Zu den weiteren Sparprogrammen gehoert es, ueberfluessigen "Luxus" loszuwerden, etwa Ausgaben bei Dienstreisen. Aber schon im naechsten Schritt geht es ans Eingemachte: Da werden tarifliche Gehaltserhoehungen auf uebertarifliche "freiwillige" Zulagen angerechnet oder diese Zulagen allgemein gekuerzt. Da erhalten die uebertariflichen Angestellten weniger Gehaltserhoehung als diejenigen, deren Lohn oder Gehalt tariflich gesichert ist. Da werden Jubilaeumsgaben wie ein einwoechiger Sonderurlaub gestrichen. Und als Spitze des Ganzen versucht IBM sogar, aus dem Prinzip der tariflich geregelten Arbeitsbedingungen insgesamt auszusteigen und so insbesondere der 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie zu entgehen.

Akute Bedrohung durch Entlassungen

Die Lage der in der DV-Industrie Beschaeftigten aendert sich im Zuge der Krise grundlegend. Das beginnt bereits bei der Stellensuche nach der Ausbildung: Waren zum Beispiel noch Mitte der 80er Jahre Informatiker gesuchte Spezialisten, so ist in diesem Berufszweig die Stellensuche schwieriger geworden. Dementsprechend sanken im letzten Jahr die Einstellungsgehaelter.

In den Firmen ist derzeit die akute Bedrohung durch Entlassungen gegeben, so dass Arbeitslosigkeit auch in dieser Branche kein Fremdwort mehr ist.

Dazu kommt eine laengerfristige Unsicherheit, wenn Teilbereiche von Firmen als selbstaendige Unternehmen ausgegliedert werden (Outsourcing): Man hat ploetzlich sein Arbeitsverhaeltnis nicht mehr mit einer grossen Firma, sondern beispielsweise mit einer kleinen GmbH fuer Leiterplatten oder einem Dienstleistungs-Rechenzentrum.

Was passiert, wenn sich dieses Geschaeft nicht mehr rechnet? In einem solchen Fall konnte man vorher noch auf andere freie Arbeitsplaetze im grossen Unternehmen pochen. Wurde bei der Ausgliederung ein solches Recht aber nicht ausdruecklich durchgesetzt, dann ist diese Moeglichkeit nun nicht mehr garantiert, da das Mutterunternehmen oder die vielen anderen Toechter des Konzerns als Fremdfirmen gelten.

Kritisch wird die Situation durch die schnelle Veralterung des Wissens, die ein besonderes Merkmal der DV-Industrie ist. So gilt man bereits mit 40 Jahren als alt. Das erworbene Wissen gilt als nicht mehr up to date. Juengere werden da meist lieber genommen, sie bringen noch das neueste Wissen von den Hochschulen mit, sind obendrein billiger und gelten als geistig noch beweglicher.

Freiwillige Leistungen werden abgebaut; uebrig bleiben in allen Bereichen die tariflichen Mindestbedingungen. Dies zeigt sich beim Urlaub (30 Tage fuer alle) ebenso wie bei Jahreszahlungen, Lohnerhoehungen oder Ueberstundenabgeltung - die aussertariflichen Angestellten leisten in der Regel die Ueberstunden umsonst.

Ein besonderes Kapitel ist die Wochenarbeitszeit: Waehrend im tariflichen Bereich der Metallindustrie inzwischen die 36-Stunden- Woche und ab Oktober 1995 die 35-Stunden-Woche gilt, arbeiten die Aussertarifler zum Beispiel bei Siemens bis heute 40 Stunden, und in vielen Softwarehaeusern sind Arbeitszeiten von 50 bis 60 Stunden eher die Regel als die Ausnahme.

Die Tarifsituation ist ueberall anders

Aber auch bei der Sicherung des Arbeitsplatzes zeigt sich die Bedeutung von tariflichen Rechten: Nach dem bayerischen Metalltarifvertrag ist jemand mit 50 Lebensjahren und 15 Jahren Firmenzugehoerigkeit oder mit 55 Lebens- und zehn Dienstjahren nicht mehr betriebsbedingt kuendbar (ausser bei Betriebsstillegung) - aber eben nur, wenn er oder sie den Tarifvertrag fuer sich geltend machen kann.

Die tarifliche Situation ist sehr unterschiedlich. Waehrend Siemens-Nixdorf ebenso wie Siemens in der Metallindustrie tarifgebunden ist, betreibt die IBM Tarifflucht, und bei Digital gab es bis Juni 1993 keinen Tarifvertrag, ausser bei der Tochter Digital-Kienzle. Viele Firmen haben noch nicht einmal einen Betriebsrat.

Bei der Gruendung von Debis 1990 galten die Metalltarife wie bei Daimler-Benz weiter. Seither beteiligte sich Debis jedoch auch an nicht tarifgebundenen Unternehmen. So entsteht in einem Konzern ein wahrer Dschungel unterschiedlicher Arbeitsbedingungen - ein Aergernis nicht nur fuer die Beschaeftigten.

Auch die tariflichen Rechte sind bedroht. Dies zeigt sich besonders bei IBM: Die Firma wurde Anfang 1993 in zunaechst sechs selbstaendige Unternehmen zerlegt. Nur der Produktionsbereich sollte tarifgebunden bleiben, mit den anderen Bereichen - insbesondere Entwicklung und Vertrieb - will Big Blue sich aus den Metalltarifen ausklinken.

Als Begruendung gibt IBM an, mit der 36-Stunden-Woche brauche das Unternehmen fuer vergleichbare Projekte mehr Leute als Softwarehaeuser, die 40 Stunden und laenger arbeiten lassen, und somit habe IBM Nachteile gegenueber der Konkurrenz. Also: Zurueck zur 40-Stunden-Woche, und zwar ohne Lohnausgleich.

Betriebsvereinbarungen stehen zur Disposition

Die Moeglichkeiten der Betriebsraete sind beschraenkt. Selbst wenn die Belegschaft es einmal geschafft hat, geregelte Arbeitsbedingungen mit dem Arbeitgeber in Betriebsvereinbarungen festzulegen, so muss man jetzt in der Krise feststellen, dass solche Vereinbarungen schnell wieder gekuendigt werden. Diese Erfahrung hatten die Beschaeftigten von Digital in Deutschland machen muessen.

Dem Betriebsrat sind in solchen Faellen die Haende gebunden, da es ihm gesetzlich verboten ist, bei betrieblichen Auseinandersetzungen zu Streiks aufzurufen. Ein solches Recht ist ausschliesslich Gewerkschaften beim Kampf um Tarifvertraege vorbehalten. Daher sind betriebliche Vereinbarungen in der Regel deutlich schwaecher gesichert als tarifliche Rechte.

Die Lage naehert sich industrieller Normalitaet

Damit naehert sich die Lage der Beschaeftigten, auch hochqualifizierter Angestellter, in der DV-Industrie immer mehr der allgemeinen Lage in der Industrie an. Bei den aussertariflichen Angestellten zeigt sich heute, dass sie fuer ihr uebertarifliches Gehalt einen hohen Preis bezahlen: den Verzicht auf wichtige tarifliche Rechte.

Immer deutlicher stellt sich die Alternative, entweder die Spirale nach unten hinzunehmen oder sich gemeinsam gewerkschaftlich zu organisieren und zu wehren. Die neuen Bedingungen haben auch bei den Betroffenen die Stimmung veraendert.

In besseren Zeiten galten andere Maximen:

Wer in der Datenverarbeitung taetig war, dessen Arbeitsplatz galt selbstverstaendlich als sicher, auch in Krisenzeiten. Ein Gefuehl der Bedrohung war unbekannt. Und wenn mal alle Stricke reissen: "Ich finde ueberall einen Arbeitsplatz."

Lohnerhoehungen? Da ging man mal zum Chef, winkte damit, dass man auch bei einer anderen Firma arbeiten koennte, und bot ihm an, dass er einen behalten koenne, wenn er nur ein bisschen drauflege.

Wozu brauchte man da ueberhaupt Tarifvertraege? "Mein Gehalt liegt doch sowieso weit ueber den Tarifgehaeltern."

Manchmal wurden tarifliche Rechte sogar als Einengung verstanden, wie die Begrenzung der Wochenarbeitszeit. Zumindest Software- Entwickler verstanden sich eher als freischaffende Kuenstler denn als abhaengig Beschaeftigte. Tarifrechte und Betriebsraete - das war etwas fuer die Schwachen, die sich nicht selbst helfen konnten. Und wenn ueberhaupt Tarifvertraege wichtig waren, setzten die dann schon "die Gewerkschaften" (irgendwo) durch. "Warum sollte ausgerechnet ich selbst da auch noch Mitglied werden?"

Entsprechend niedrig war der gewerkschaftliche Organisationsgrad, insbesondere in Entwicklungsbereichen. Dort war es normal, wenn weniger als zehn Prozent der Beschaeftigten Gewerkschaftsmitglieder waren. Mit der Aenderung der Verhaeltnisse aendert sich - langsam - auch die Stimmung.

Der Unmut ueber den Abbau freiwilliger Leistungen wird allmaehlich spuerbar. Die Motivation, sich fuer die Firma zu engagieren, laesst nach - Stichwort: "innere Kuendigung".

Wo Arbeitsplaetze abgebaut werden und Entlassungen stattfinden, fuehlen sich die Kolleginnen und Kollegen, und zwar vor allem die aelteren, bedroht. Zunaechst versuchen sie meist, individuell dem Druck zu entfliehen, etwa durch Versetzung in weniger gefaehrdete Bereiche der Firma oder durch Wechsel zu "sichereren" Firmen; dies ist allerdings immer weniger moeglich.

Allmaehlich finden auch die Gewerkschaften - IG Metall und HBV - Gehoer. Sogar die Erkenntnis, dass man fuer die eigenen Rechte selbst gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen handeln muss, breitet sich allmaehlich aus. So stieg zum Beispiel der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an den Belegschaften bei DEC in Deutschland von zehn Prozent vor zwei Jahren auf heute 35 Prozent. In kleineren DV-Betrieben gibt es jetzt erstmals Betriebsraete.

Die Gewerkschaften erkennen ihrerseits, dass es noetig ist, auf die speziellen Probleme in der DV-Industrie gesondert einzugehen, wenn man die Kolleginnen und Kollegen dort zum Sich-Wehren, zum Sich- Engagieren und zum Mitmachen gewinnen will. So existieren in der IG Metall bundesweit und in einigen Staedten Arbeitskreise zur Lage in dieser Branche.

Es gibt also erste Ansaetze, dass auch hier eine Arbeiter- und Angestelltenbewegung aufkeimt.

Das markanteste Beispiel ist Digital in Deutschland: Diese Firma war nicht tarifgebunden. Ausnahme war allerdings die zugekaufte Tochter Digital-Kienzle, dort galt der suedbadische Metall-Tarif. Die IG Metall forderte seit langem einen Haustarifvertrag ueber Rationalisierungsschutz, der zum Beispiel aeltere und langjaehrig Beschaeftigte vor Entlassung schuetzen und ein Recht auf Weiterqualifizierung sichern soll. Aber erst Anfang 1993, als die Firma massiv Personal abbaute und das Unternehmen in kleine GmbHs zerlegen wollte, wuchs die Bereitschaft, in die Gewerkschaft einzutreten und um solche Rechte gemeinsam zu kaempfen.

Der DEC-Streik hatte Signalwirkung

Am 13. Mai 1993 fand ein europaweiter Aktionstag mit Betriebsversammlungen und Streiks statt. Anfang Juni wurde in Deutschland eine Urabstimmung fuer einen Streik zu dem geforderten Haustarifvertrag durchgefuehrt. 85 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder stimmten fuer die Arbeitsniederlegung, und der Arbeitskampf konnte beginnen - etwas voellig Ungewohntes in dieser Branche.

Vom 14. bis zum 25. Juni 1993 wurde in verschiedenen DEC-Betrieben gestreikt. Das Ergebnis war ein Erfolg fuer die Digital-Mitarbeiter in Deutschland: Mit Ausnahme der Produktionsstaette Kaufbeuren gilt der suedbayrische Metalltarifvertrag. Bei der Umstrukturierung in eine Holding mit verschiedenen GmbHs bleibt die Einheitlichkeit der Betriebe und Betriebsraete erhalten. Massnahmen zur Beschaeftigungssicherung bei Umstrukturierung und Personalabbau wurden vereinbart.

Es lohnt sich, aktiv zu werden

Zwar wird dadurch der Personalabbau nicht verhindert, jedoch sind zum Beispiel fuer den Fall von Umstrukturierungen des Konzerns Versetzungsmoeglichkeiten innerhalb der gesamten Digital (inklusive Digital-Kienzle) abgesichert. Damit und mit anderen Massnahmen - zum Beispiel verlaengerter Erziehungsurlaub bis zur Einschulung des Kindes oder Recht auf Langzeitfreistellung - lassen sich in erheblichem Umfang betriebsbedingte Kuendigungen vermeiden. Es hat sich also fuer die Digital-Mitarbeiter gelohnt, tarifliche Rechte durchzusetzen.

Literatur zum Thema:

Chip, Computer, Communication - Globalisierung, Konkurrenz und Umbruch in der EDV- und Telekommunikations- Industrie, isw-Report Nr. 7, Muenchen, 1991

Die Geschaefte des Siemens-Konzerns, isw-spezial Nr. 3, Muenchen, 1992

W. Rossmann: Mancher denkt an Flucht. Tarifvertragliche (Un)Sicherheiten und EDV-Branchenkrise; aus: G. Trautwein-Kalms: Kontrastprogramm Mensch-Maschine-Arbeiten in der HighTech-Welt, S. 172-189

R. Welzmueller: Branchenanalyse Elektro-, Elektronik- und EDV- Industrie, IG Metall - Vorstand, Abteilung Wirtschaft, Frankfurt/Main 1993

R. Welzmueller: Siemens - Eine Unternehmensanalyse, IG Metall - Vorstand, Abteilung Wirtschaft, Frankfurt, 1991

R. Welzmueller: Strukturumbrueche in der EDV-Industrie, IG Metall - Vorstand, Abteilung Wirtschaft, Frankfurt, 1991