"Die Anwendungssoftware muss den Prozessen folgen" Business Re-Engineering bei MAN GHH

01.07.1994

Bei aller Kritik, die in juengster Zeit laut geworden ist: Business Re-Engineering liegt weiter im Trend. Wirtschaftliche Zwaenge bringen Unternehmen dazu, ihre Organisationen grundsaetzlich zu ueberdenken und nach Geschaeftsprozessen zu ordnen. Am Beispiel der MAN Gutehoffnungshuette (GHH) AG, Oberhausen, wird deutlich, dass sich dabei die Aufgabe der Datenverarbeitung veraendert. CW- Redakteur Heinrich Vaske sprach mit Hauptabteilungsleiter Berthold Bienemann, dem Verantwortlichen fuer die Informatik-Unterstuetzung der neugeordneten Geschaeftsprozesse.

CW: Wie wichtig war bei der MAN GHH die Datenverarbeitung fuer das Gelingen der Geschaeftsprozess-Optimierung?

Bienemann: Die Informatik ist eine von mehreren Stellschrauben, an denen gedreht werden muss. Ebenso wichtig sind Faktoren wie die Modernitaet von Maschinen und Anlagen oder die Qualifikation des Personals. Sachbearbeiter muessen in Prozessen denken und ueber den Tellerrand ihrer Funktion hinausblicken koennen. Eine besondere Rolle spielt auch die Struktur- und Ablauforganisation. Manchmal koennen optimierte Ablauforganisationen Wunder wirken.

CW: Wird die Rolle der Datenverarbeitung ueberschaetzt?

Bienemann: Die Verarbeitung von Information ist Mittel zum Zweck - worum es wirklich geht, ist die Qualitaet der Information selbst. Sie ist eine wichtige Groesse, um die Leistungsfaehigkeit zu verbessern und Kosten zu senken. Mitarbeiter, die mit falschen Daten arbeiten, koennen ihren Geschaeftsprozess nicht in der geforderten Qualitaet abwickeln.

CW: Geschaeftsprozesse beschreiben funktionsuebergreifende Aufgaben - was bedeutet das fuer die Anwendungssoftware?

Bienemann: Sie hat den Prozessen zu folgen. Beispielsweise muessen die Informationen, die bei der Angebotsverarbeitung gewonnen und in einem Informationssystem gespeichert werden, etwa Kundendaten, Angebotskopf und Positionsdaten, dem Prozess Auftragsbearbeitung per Knopfdruck zugeordnet werden koennen. Es wuerde keinen Sinn machen, diese Informationen noch einmal zu erfassen, wenn das Angebot zum Auftrag fuehrt.

CW: Gilt die Prozessorientierung auch fuer das Unternehmensdatenmodell?

Bienemann: Sicher, es macht keinen Sinn, einen Entity-Kunden separat in einer Angebots- und einer Auftragsbearbeitung vorzuhalten. Das Unternehmensdatenmodell sollte Informationen fuer Geschaeftsprozesse durchgaengig bereitstellen.

CW: Wie wichtig ist die Wahl der Hardware?

Bienemann: Es ist unerheblich, ob ein Geschaeftsablauf auf einem Host oder einem PC unterstuetzt wird - wichtig ist, dass die Prozesse ihre Informationen austauschen koennen. Beispielsweise wird bei uns der Prozess "Lagerentnahme" auf einem PC durchgefuehrt, waehrend der nachgelagerte Prozess "wertmaessige Bestandsverbuchung" auf dem Host laeuft, im Rahmen eines PPS-Systems.

CW: Laesst sich mit den bestehenden Anwendungen eine Geschaeftsprozess-Optimierung realisieren?

Bienemann: Heutige Anwendungen sind historisch funktional gewachsen. In ihrer Komplexitaet lassen sie sich nur noch schwer handhaben, geschweige denn auf die Geschaeftsprozesse optimal zuschneiden. Solche Programme sind zu entschaerfen, man muss zurueckfinden zu ueberschaubaren Anwendungseinheiten. In Zukunft werden wir wahrscheinlich mehr Applikationen benutzen als heute. Diese werden jedoch in einfacher Form auf Geschaeftsprozesse zugeschnitten sein. Der Anteil an komplexen Anwendungen, die alle Funktionen abdecken, geht zurueck.

CW: Welche Rolle spielt in diesem Szenario Standardsoftware?

Bienemann: Der Begriff Standardsoftware ist irrefuehrend, in Wirklichkeit hatte die Funktionalitaet bisher starken Individualcharakter. Der hohe Integrationsgrad von Standardsoftware traegt dem Gedanken der Geschaeftsprozess- Orientierung Rechnung, wenngleich wichtige Details oft nicht abgebildet werden. Auch sind viele der angebotenen Pakete viel zu komplex. Wir werden dennoch weiterhin Fertigpakete einsetzen.

CW: Uneingeschraenkt?

Bienemann: Nein, Programme fuer Rechnungswesen oder Personalabrechnung sollte man heute nicht mehr selbst schreiben. Schwieriger verhaelt es sich mit dem fertigungsnahen Bereich, etwa mit PPS-Systemen. Dort, wo es direkt um unsere Produkte geht, etwa bei Auslegungsprogrammen, sehen wir eine qualitativ hochwertige Individualsoftware als wettbewerbsrelevant an.

CW: Wenn Sie selbst weiterhin Software erstellen, organisieren Sie dann die Software-Entwicklung nach den Prinzipien der Geschaeftsprozess-Optimierung?

Bienemann: Im Rahmen der Prozessanalyse haben wir auch die Informatikablaeufe neu gestaltet. Wir haben dezentrale Informatikabteilungen geschaffen und damit Informatikaufgaben in Geschaefts- und Zentralbereiche verlegt. Sie sind bis zur Ebene Fachkonzept zustaendig. Die technische Umsetzung erfolgt zentral.

CW: Lassen sich die Anforderungen an die Informatik noch mit traditionellen Vorgehensweisen wie Anforderungsanalyse und Pflichtenheft ermitteln?

Bienemann: Kaum. Ergaenzend zu Methoden wie beispielsweise strukturierte Systemanalyse und Datenmodellierung tritt heute die Prozessanalyse in den Vordergrund. Sind ganz bestimmte Prozesse, etwa fuer eine Produktlinie, ermittelt, lassen wir durch den Anwender bewerten, wo sie DV-technisch zu unterstuetzen sind. Dabei treten die Schwachstellen der Ablaeufe offen zutage.

CW: Wie werden diese Maengel behoben?

Bienemann: Wir definieren konkrete Ziele fuer die tangierten Prozesse. Beispielsweise die Verkuerzung der Prozesskette Angebotsbearbeitung um drei Tage. Die Vorgabe kann mit organisatorischen oder DV-technischen Mitteln erreicht werden, was wiederum zu einem Anforderungsprofil fuer die Systemunterstuetzung fuehrt. Die Untersuchung der Geschaeftsprozesse ist bei uns im Vorgehensmodell fuer die Anwendungsentwicklung festgeschrieben.

CW: Haben Ihre Informatiker das noetige Know-how, um in Geschaeftsprozessen zu denken und zu entwickeln?

Bienemann: Wir haben Anfang der 90er Jahre sozusagen "on the job" durch zwei grosse Projekte der Geschaeftsprozess-Optimierung das Know-how erarbeitet. Dabei stuetzten wir uns auf die Mithilfe eines Beratungsunternehmens. In einem dritten Projekt bei einer unserer Tochtergesellschaften sind wir dann alleine zurechtgekommen.

Zurueck zum Kerngeschaeft

Die MAN Gutehoffnungshuette (GHH) AG in Oberhausen ist ein Unternehmen, dessen traditioneller Geschaeftsschwerpunkt in der Erstellung von Anlagen fuer die Eisen- und Stahlgewinnung, die chemische Industrie sowie den Berg- und Maschinenbau lag. Der Teilkonzern, dessen Umsatz bei rund 1,8 Milliarden Mark liegt, hat sich in juengerer Zeit verstaerkt auf sein Kerngeschaeft konzentriert. Dazu zaehlen die Verdichtertechnik (Dampf- und Gasturbinen, Kompressoren), die Foerdertechnik (Fahrzeuge fuer den Bergbau, Schachtanlagen, automatische Laeger) und Industrietechnik (Stahlwerksanlagen, Muellverbrennung, Radioteleskope, Oelfoerderung).

Die CIM-Umgebung erwies sich als zu komplex

In der Vergangenheit hatte MAN GHH die Kundenauftragsverwaltung, Logistik, Produktionsplanung und -steuerung inklusive Stuecklisten- und Arbeitsplanerstellung mit einem komplexen CIM-System abgedeckt. Man orientierte sich am Vorbild des DV-Rahmenkonzeptes von Professor Scheer (Y-Schema) und nutzte die PPS-Produkte Copics und Cimos sowie Rechnungswesen- und Personalverarbeitungs-Software von SAP beziehungsweise Lammert.

Die CIM-Umgebung war ausserordentlich komplex, mehr als 700 Bildschirmmasken und ueber 1400 Einzelprogramme mussten betreut werden. Steuerungsaufwand, Schnittstellen-Pflege und Programmierung wurden immer aufwendiger. Schlimmer noch wog aus unternehmerischer Sicht, dass mit diesem Konzept eine Organisation festgeschrieben wurde, die die unterschiedlichen Anforderungen der drei Produktionsarten Serienmaschinen- und Einzelmaschinenfertigung sowie Anlagenbau nur ungenuegend beruecksichtigte.

Systemauspraegungen und Informationsfluesse, so zeigte die Prozessanalyse, sind in diesen Gebieten voellig unterschiedlich. So hatte der Anlagenbau nur wenig Informatikunterstuetzung erhalten, waehrend man in der Serienfertigung schon von einer aeusserst starken DV-Praesenz sprechen konnte. Die MAN GHH hat mit Hilfe von Diebold ihre Organisation nach den Prinzipien des Business Re-Engineering in Prozesse und Teilprozesse zerlegt, die mit einer Vielzahl vereinfachter DV-Systeme unterstuetzt werden sollen.

Business Re-Engineering

bezeichnet die kompromisslose Veraenderung ganzer Unternehmen oder zentraler Unternehmensablaeufe im Sinne der Prozessorientierung. Ehemalige Gundregeln, etwa Funktionen oder Hierarchien, werden radikal in Frage gestellt. Ziel ist nicht etwa das Erreichen gradueller Produktivitaetsfortschritte, es geht vielmehr um die Verbesserung der Leistungsfaehigkeit insgesamt um ein Vielfaches.