Deutscher IT-Experte suchte vor Ort nach den Ursachen

Deutscher IT-Experte suchte vor Ort nach den Ursachen Was der Airport Frankfurt aus Hongkong-Chaos lernt

12.03.1999
CW-Bericht, Karin Quack Der Fehlstart des Flughafens Chek Lap Kok im Sommer vergangenen Jahres verursachte in China große Aufregung. Insgesamt drei Untersuchungskommissionen versuchten zu ergründen, weshalb der neue Hongkong-Airport wochenlang ein Provisorium blieb. Dem von der chinesischen Regierung eingesetzten Gremium gehörte - neben zwei Chinesen und einem amerikanischen Experten - auch ein Deutscher an: Ulrich Kipper von der Flughafen Frankfurt Main AG. Seinem Urteil zufolge lag die Ursache für das Chaos in der ehemaligen britischen Kronkolonie weniger in den Systemen selbst als in der Art und Weise, wie sie eingeführt wurden.

Von den Kosten, die ein neuer Flughafen verschlingt, sind 90 Prozent den Gebäuden und der Infrastruktur anzulasten. Der Aufwand für die Implementierung der IT-Systeme beträgt nur ein Zehntel. Kein Wunder, daß die Verantwortlichen, die zudem eher Ingenieure als Informatiker sind, mehr Wert auf die Bausubstanz als auf die Informationstechnik legen.

Mit dieser Feststellung beschreibt Kipper das Dilemma, in dem die Architekten und Betreiber des neuen Hongkonger Flughafens steckten, als der Baufortschritt des Renommierprojekts plötzlich aus dem Takt geriet. Sie standen vor der Frage, ob sie den zugesagten Starttermin verschieben oder versuchen sollten, die verlorene Zeit woanders aufzuholen.

Die Antwort stand im Grunde genommen schon fest, bevor die Frage überhaupt gestellt war: Jede Verzögerung des Mammutprojekts hätte riesige Mehrkosten verursacht, und im Interessenkonflikt zwischen Geldgebern und IT-Beratern haben erstere die besseren Karten. So entschied die Hongkong Airport Authority, dort zu sparen, wo es ihrer Ansicht nach am leichtesten möglich war: bei den Funktionstests für die Informationssysteme und bei der Schulung der damit befaßten Mitarbeiter.

Der Ernstfall wurde in Chep Lap Kok erst am 6. Juli 1998 getestet - am Tag der Eröffnung. Das Ergebnis ging damals durch die internationale Tagespresse und fand auch Eingang in die COMPUTERWOCHE (siehe CW 29/98, Seite 37): Fluggäste mußten stundenlange Verspätungen in Kauf nehmen und verpaßten ihre Anschlüsse, weil sie falsch oder gar nicht über Abflugzeiten und Gates informiert waren; Gepäckstücke und Frachtkisten versperrten die Wege, weil die Handling-Systeme nicht funktionierten.

Das Chaos brach um 8.00 Uhr Ortszeit aus - anderthalb Stunden, nachdem der erste Flug in Chek Lap Kok gelandet war: Zuerst waren es nur einige Passagiere, die orientierungslos umherirrten, weil sie ihr Gepäck oder ihr Abflug-Gate nicht fanden; denn die Monitore und LCD-Anzeigen des Flight Information Display System (Fids) blieben dunkel oder meldeten falsche Daten. Die Angestellten der Fluglinien konnten nicht weiterhelfen. Schließlich waren sie ebenfalls auf die Fids-Informationen angewiesen.

Den ankommenden Piloten erging es nicht besser: Sie mußten lange darauf warten, ein Gate oder einen Standplatz zugewiesen zu bekommen. Und der Domino- Effekt sorgte dafür, daß die Verspätungen immer dramatischer wurden. Stundenlang war das Vorfeld derart überfüllt, daß ankommende Maschinen auf der Taxianfahrt warten mußten. Die Standzeiten auf den Rollbahnen dehnten sich auf mehr als eine Stunde aus. Da die Klimaanlagen nur bei laufenden Triebwerken funktionieren, litten immer mehr Passagiere unter Übelkeit und Schwindelanfällen. Hatten die Flugzeuge endlich einen Standplatz gefunden, gab es keine Fahrtreppen oder Busse.

So mancher Fluggast mußte den Flughafen ohne sein Gepäck verlassen. Andere warteten bis zu drei Stunden, ehe sie es zurückbekamen. Die für das Gepäck zuständigen Flughafenmitarbeiter wußten nicht, wo sich das jeweilige Flugzeug befand oder wo sie die Kisten und Koffer hinbefördern sollten. Bald stapelten sich etwa 6000 herrenlose Gepäckstücke in der Flughafenhalle. Und um dem allen die Krone aufzusetzen, fielen auch noch die öffentlichen Telefone aus, und das Funknetz brach unter der Überbelastung zusammen.

Besonders hart traf es die Unternehmen, deren Lieferketten und Vertriebswege aufgrund der Insellage Hongkongs vom Luftverkehr abhängig sind.

Das "Cargo Handling System" der Hong Kong Air Cargo Terminals Ltd. (Hactl) arbeitete so langsam und ineffizient, daß es völlig abgeschaltet und durchgecheckt werden mußte. Viele Maschinen verließen den Flughafen ohne Nutzlast. Schließlich wurde die gesamte Fracht zurück zum alten Kai-Tak-Airport gebracht.

Während der Passagierverkehr in Chek Lap Kok schon nach einer Woche wieder reibungslos funktionierte, wurde die internationale Frachtabwicklung am 9. Juli für sechs Wochen auf Eis gelegt. Erst am 23. August war die Hactl in der Lage, den normalen Cargo- Betrieb im neuen Airport aufzunehmen. Viele Firmen überlebten das Embargo nicht. Der volkswirtschaftliche Schaden belief sich auf umgerechnet eine Milliarde Mark.

Angesichts dieser Summe fallen die 50 Millionen Mark kaum ins Gewicht, die die chinesische Regierung investierte, um den Zwischenfall gründlich recherchieren zu lassen. Sie engagierte ein vierköpfiges Expertenteam, das vornehmlich anhand von Aussagen Beteiligter die Ursachen für den Zusammenbruch ergründen sollte. Neben zwei lokalen Spezialisten für Bautechnik und Infrastruktur gehörten der Kommission auch ein Betriebsexperte aus San Franzisko sowie der promovierte Physiker und Informatikexperte Ulrich Kipper an.

Kipper, der als Senior Projekt-Manager für die Flughafen Frankfurt Main AG (FAG) arbeitet, hatte sich um den Auftrag unter anderem deshalb beworben, weil er hoffte, aus den Erfahrungen der Chinesen lernen zu können. Die FAG - oder genauer: deren Bereich Informations- und Kommunikationsdienstleistungen (IUK) - fungiert als IT-Berater beim Aufbau des Flughafens Eleftherios Venizelos, der ab 2001 die griechische Hauptstadt Athen mit der Welt verbinden soll.

Vier Monate verbrachten Kipper und die anderen drei Experten damit, die Vorgänge bei der Inbetriebnahme des Flughafens zu rekonstruieren. Das verblüffende Fazit des Frankfurter Informatikers: "Wir haben kein System gefunden, dessen Design fehlerhaft gewesen wäre." Auch die Software AG als Lieferant der dem Cargo Handling System zugrundeliegenden Datenbank- und Entwicklungssysteme sowie EDS als Dienstleistungpartner für die Erstellung des Fids-Systems treffe keine Schuld am IT-Kollaps in Chek Lap Kok.

Dafür verantwortlich macht Kipper vielmehr den Teufelskreis aus unzureichenden Tests und fehlender Mitarbeiterschulung - ausgelöst durch Verzögerungen am Bauvorhaben. Da das "Airport Opening Date" (AOD) unter allen Umständen eingehalten werden sollte, versuchten die Verantwortlichen, die Einführung der IT-Systeme zu komprimieren. Der eigentliche Installationsprozeß ließ sich nicht abkürzen. Was blieb, war die Testphase. Ursprünglich für ein ganzes Jahr geplant, wurde sie auf wenige Monate zusammengedrückt.

Der Anspruch, alle Funktionen zu testen und das gesamte System einem simulierten Echtbetrieb auszusetzen, fiel dabei unter den Tisch. Nur die wichtigsten Funktionen wurden einer detaillierten Prüfung unterzogen, andere übersprungen und die Prozesse erheblich abgekürzt. Aber der Teufel steckt nun einmal im Detail. Oder wie Kipper es ausdrückt: "Wenn ein Prozeßbaustein fehlt, bricht alles zusammen."

Zudem fand der IT-Experte bei seinen Recherchen heraus, daß auch in diesen vereinfachten Testszenarien schon Fehler aufgetaucht, aber großzügig übersehen worden waren. "Im Test muß die Software unbedingt fehlerfrei sein", weiß Kipper, "sonst ist das Risiko zu groß."

In diesem Zusammenhang entbehrt das Fehlen eines Notfallplans, wie Kipper ironisch feststellt, nicht einer gewissen Logik: Wer trotz Testfehler daran glaube, daß schon alles gutgehen werde, brauche auch keine Vorkehrungen für den Fall der Fälle zu treffen. Ein Risiko-Management gab es offenbar nicht einmal ansatzweise.

Infolge der Zeitnot konnten die IT-Mitarbeiter denn auch nicht alle Systeme zum Stichtag in der Form anbieten, die sie eigentlich vorgesehen hatten und für die die Operatoren trainiert worden waren. Die Zeit für Nachschulungen fehlte jedoch. Die Mitarbeiter gerieten dadurch in eine enorme Unsicherheit, die notgedrungen zu Fehlern führte. So warteten sie auf Bestätigungen, die niemals kamen, und gaben die richtigen Informationen in die falschen Systeme ein.

Auch die Fehlfunktionen beim Cargo Handling System lassen sich auf übereiltes Handeln zurückführen. Versehentlich wurde statt der Betriebsversion eine Testausführung der Software genutzt. Im Einklang mit ihrem Nutzungszweck löschte sie die eingegebenen Daten mit schöner Regelmäßigkeit, um eine neutrale Ausgangsposition für das nächste "Testszenario" zu schaffen. Der Clou: Die Flughafenleitung hatte die Hatcl vertraglich zu einem Fertigstellungstermin verpflichtet, der zwei Monate nach der offiziellen Eröffnung lag.

Was konnte nun Kipper aus Hongkong für das von ihm geleitete Projekt in Athen mitnehmen? Zum einen sicher die Erkenntnis, daß in einem Zeitplan ein bißchen Luft für unvorhersehbare Ereignisse sein sollte. Außerdem die Gewißheit, daß kurzsichtige "Gegenmaßnahmen" nur zu größerer Komplexität und damit zu einem höheren Risiko führen.

Um Interessenkonflikten wie dem zwischen "harten" Projektterminen und notwendigen Nachbesserungen von vornherein aus dem Weg zu gehen, empfiehlt der IT-Experte, ein "Peer Committee" einzurichten, das sich aus Vertretern aller beteiligten Parteien zusammensetzt und darauf achtet, daß kein Aspekt des Vorhabens zu kurz kommt. Denn die wichtigste Lektion, die er in Chek Lap Kok gelernt hat, lautet: "Operationale Prozeduren und Informationstechnik müssen als eine Einheit begriffen werden.

Der Mammutflughafen

Chek Lap Kok war für die Chinesen eine Image-Frage. Nach der Rücknahme der ehemaligen britischen Provinz Hongkong wollten sie ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen, indem sie den alten, als gefährlich geltenden Flughafen Kai Tak durch einen hypermodernen Mammut-Airport ablösten. In der Tat nehmen sich die nackten Zahlen gigantisch aus:

- Mit einem Frachtaufkommen von 1,8 Millionen Tonnen pro Jahr ist Chek Lap Kok der weltweit größte Umschlagplatz für Luftgüter.

- Pro Tag werden dort 430 Flugzeuge in Empfang genommen beziehungsweise verabschiedet.

- Da Hongkong eine Verkehrsdrehscheibe für den südostasiatischen Raum ist, handelt es sich zumeist um Großraumflugzeuge, so daß die Anzahl der Gäste 30 Millionen im Jahr überschreitet.

- Um dieses Aufkommen zu bewältigen, beschäftigt Chek Lap Kok rund 40000 Menschen.

Airport-Informatik

Ein moderner Großflughafen benötigt zum reibungslosen Funktionieren eine ganze Reihe von Informationssystemen. Neben der Netzinfrastruktur und dem Telefonsystem zählen dazu:

- Schnittstellen zum Air Traffic Control System,

- Systeme für das Informations-Management,

- operationale Datenbanken,

- ein Anzeigesystem für Fluginformationen,

- Systeme für das Fluggastgepäck (Baggage Handling) und

- für die Frachtabwicklung (Cargo Handling),

- Ressourcen-Management-Systeme für Flugsteige, Abfertigungsschalter, Fahrzeuge, Ausrüstung und Personal,

- ein Message-Server für die Verbindung mit der Internationalen Gesellschaft für Luftfahrtkommunikation (Sita) und

- ein Abflugkontrollsystem. Hinz kommen

- Geschäftssysteme und

- Bürosysteme für das Unternehmen Airport und last, but not least

- ein Umweltbeobachtungs-System.